15.10.2016

BVerwG: Kein Ausstieg aus „Stuttgart 21”

Urteil vom 14. Juni 2016 – 10 C 7.15: Bürgerbegehren unzulässig

BVerwG: Kein Ausstieg aus „Stuttgart 21”

Urteil vom 14. Juni 2016 – 10 C 7.15: Bürgerbegehren unzulässig

Großbaustelle Stuttgart 21: Stadt Stuttgart bleibt in der Pflicht. | © Jürgen Fälchle - Fotolia
Großbaustelle Stuttgart 21: Stadt Stuttgart bleibt in der Pflicht. | © Jürgen Fälchle - Fotolia

Mit seinem Urteil vom 14. Juni 2016 (10 C 7.15) hat das Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des VG Stuttgart und des VGH Mannheim bestätigt, wonach der Versuch einer Bürgerinitiative als unzulässig zu bewerten sei, einen Bürgerentscheid zu der Frage anzustreben, ob die Stadt Stuttgart ihre Mitgliedschaft in dem Projekt „Stuttgart 21” förmlich beenden sollte (nachfolgend unter 1.). Damit dürften die jahrelangen Streitigkeiten im Großraum Stuttgart um einen durch Bürgerentscheid zu veranlassenden „Ausstieg” der Stadt aus dem Vertragswerk (jedenfalls vorerst) erledigt sein (nachfolgend unter 2.). Aus einem allgemein-juristischen Blickwinkel bemerkenswert erscheint, dass das Bundesverwaltungsgericht sich der umstrittenen Auffassung anschließt, Bau und Unterhaltung von Schienenwegen und Bahnhöfen durch die DB Netz AG seien keine öffentlichen Aufgaben im Sinne der Art. 104a, 87e GG (nachfolgend unter 3.)

1. BVerwG: Kein „Ausstieg” der Stadt Stuttgart aus „Stuttgart 21”

Klageziel der Bürgerinitiative war, die Rolle der Stadt Stuttgart als Partner des Vertragswerks zu „Stuttgart 21” zu beenden und die Stadt aus dem Verbund der Geldgeber dieses Projekts herauszuführen. Die Vertragsbeendigung sollte in der Weise vorgenommen werden, dass die Stadt sich gegenüber den Projektpartnern – nachträglich – auf die Verfassungswidrigkeit der Mischfinanzierung der Gesamtmaßnahme nach Art. 104a Abs. 1 GG berufen sollte. Wie sich aus dem Sachverhalt der Entscheidung ergibt (Rn. 5), sind an der Finanzierung des Projekts „Stuttgart 21” mehrere Körperschaften und Institutionen beteiligt, die über ca. 15 Jahre hinweg zahlreiche Verträge und Vereinbarungen über die Durchführung der Maßnahme – die Ablösung des Stuttgarter Kopfbahnhofs durch einen Durchgangsbahnhof, den Bau mehrerer Tunnel und die Überbauung nicht mehr benötigter Gleisflächen – abgeschlossen haben.

Die Stadt Stuttgart beteiligte sich mit 11,1 % an den „vertraglich gesicherten” Projektgesamtkosten von 4,526 Mrd. Euro, um die Verwirklichung ihrer städtebaulichen Ziele, nämlich der Stadtentwicklung auf 100 ha bisheriger Bahnfläche in bester Innenstadtlage, sicherzustellen. Die Kläger, „Vertrauensleute” eines auf den Ausstieg der Stadt gerichteten Bürgerbegehrens, sind der Auffassung, die Beteiligung der Stadt verstoße gegen das Mischfinanzierungsverbot des Art. 104a GG, so dass die von der Stadt insoweit abgeschlossenen Verträge nichtig seien. Das Projekt sei ein Bundesvorhaben und daher nur vom Bund zu finanzieren. Mit dem beabsichtigten Bürgerentscheid sollte die Stadt als Gebietskörperschaft gezwungen werden, sich auf die Verfassungswidrigkeit der Mischfinanzierung und die Nichtigkeit der Verträge zu berufen, die Projektvergabe zu kündigen und weitere Beitragszahlungen zu dem Projekt zu unterlassen. Das Bundesverwaltungsgericht wies die Revision gegen die ablehnende Entscheidung des VGH Mannheim mit der Begründung zurück, die vertragliche Beteiligung der Stadt Stuttgart könne nicht wegen Verstoßes gegen das Mischfinanzierungsverbot des Art. 104a GG nichtig sein, weil diese Vorschrift auf das Projekt „Stuttgart 21” von vornherein nicht anwendbar sei (Rn. 21 ff.). „Aufgaben” im Sinne dieser Vorschrift könnten nur öffentliche Aufgaben eines Hoheitsträgers sein. Nach Art. 87e GG sei der Bau von Schienenwegen und Bahnhöfen indes keine öffentliche Aufgabe des Bundes im Sinne des Art. 104a Abs. 1 GG (ebenso zuvor bereits Pauly/Becker, NVwZ 2013, 334). Auch diese Aufgabe hätten Verfassungs- und Gesetzgeber im Zuge der Bahnreform 1993 den privatrechtlich organisierten Eisenbahngesellschaften „als Wirtschaftsunternehmen” und nicht in einer Funktion als Wahrnehmende öffentlicher Aufgaben zugeordnet (Rn. 23 ff.). Da Art. 104a GG mit seinem Verbot der Finanzierung fremder Aufgaben a limine nicht anwendbar sei, kam es auf weitere Fragen wie die, wie der Finanzierungsanteil der Stadt zu bewerten und ob die Nichtigkeit des Vertrags anzunehmen sei, nicht mehr an (Rn. 22). Zu diesen Fragen hatte der VGH Mannheim als Vorinstanz inhaltlich Stellung genommen, weil er die Auffassung vertreten hatte, Art. 104a GG sei sehr wohl auf den Schienen- und Bahnhofsbau durch die DB Netz AG anwendbar; die DB Netz AG (als nur formell privatisiertes Bundesunternehmen) nehme im Bereich der Netzinfrastruktur öffentliche Aufgaben auch im Sinne des Art. 104a Abs. 1 GG wahr (VGH Mannheim, VBlBW 2015, 375 m. Anm. Kramer/Cosovic, DVBl. 2016, 525).


2. Bedeutung der Entscheidung für Stuttgarts städtebauliche Entwicklung

Was die Fortführung des Projekts „Stuttgart 21” angeht, steht mit der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts fest, dass ein nachträglicher Ausstieg der Stadt über einen Bürgerentscheid nicht herbeigeführt werden kann. Das gilt unabhängig davon, wie man das Vorgehen der Bürgerinitiative sonst bewerten mag: Es hinterlässt im Leben mitunter einen schalen Bei- oder Nachgeschmack, sich nachträglich auf die angebliche Nichtigkeit von Verträgen zu berufen, die man seinerzeit im eigenen wohlverstandenen Interesse abgeschlossen hatte. Dass die Stadt Stuttgart immense Vorteile aus der Verfügbarkeit der Bahnflächen im Stadtzentrum zieht, ist offensichtlich. Eine Rückabwicklung der bereits vollzogenen Verträge mochte man sich – als eine Art Schwabenbahn-Brexit – kaum vorstellen. Ob die Bebauung so dicht und so hoch ausfallen musste, wie dies gerade erkennbar wird, und ob die städtebauliche Attraktivität Stuttgarts durch die Ausnutzung jeden Quadratmeters Bodens vermehrt werden mag, ist eine kommunalpolitische Frage, der hier nicht weiter nachgegangen werden kann; mit „Baukultur” haben die aktuell anzutreffenden Baumassen und Abstandflächen möglicherweise eher weniger zu tun. In der hier zu besprechenden Entscheidung ging es im Übrigen auch nicht um die Planfeststellung für „Stuttgart 21” als öffentlich-rechtliche Zulassung des großen Bauvorhabens. Über die Rechtmäßigkeit der Planfeststellung hatte das Bundesverwaltungsgericht schon im Mai 2008 befunden (vgl. i. E. Schönenbroicher, PUBLICUS 2010.2, 4 ff.). Schon gar nicht war über Fragen der Einhaltung des Kostenrahmens zu entscheiden, die unlängst u. a. auch den Bundesrechnungshof beschäftigten.

3. Schienen und Bahnhöfe – in Zukunft eine (rein) private Angelegenheit der Deutschen Bahn AG?

Was die Frage der Anwendbarkeit des Mischfinanzierungsverbots des Art. 104a GG betrifft, weist das Bundesverwaltungsgericht darauf hin, dass die Auffassungsunterschiede zwischen dem VGH Mannheim und dem Senat hinsichtlich der Frage, ob die DB Netz AG eine öffentliche Aufgabe wahrnimmt, auf die auslegungsbedürftige Formulierung des Art. 87e GG zurückgehen. Diese äußerst dunkle Vorschrift war wiederum Ausdruck eines politischen Kompromisses von Bundestag und Bundesrat im Zuge der Verabschiedung der Bahnreform 1993 (Rn. 23). Bei der Bahnprivatisierung waren – und sind – mehrere Modelle denkbar. Eine denkbare Regelung bestünde darin, Eigentum und Verantwortung für das Schienennetz und die Bahnhöfe als öffentliche Aufgabe des Bundes zu führen, steuerfinanziert und in der öffentlich-rechtlichen Verantwortung eines Ministeriums, administriert durch eine hochqualifizierte Fachbehörde. Die Erbringung der Verkehrsleistungen wäre an private bzw. materiell privatisierte Eisenbahnunternehmen auszuschreiben. Die jetzige Deutsche Bahn AG wäre zu zerschlagen; Teile würden in Behördenstruktur überführt (mit dem Eisenbahnbundesamt); der Kern des Unternehmens würde (wie die Telekom) materiell privatisiert und müsste sich auch im Fernverkehr (vgl. BGHZ 188, 200 zum Regionalverkehr) an Ausschreibungen von Verkehrsleistungen beteiligen.

Dieses Modell haben Verfassungs- und Bundesgesetzgeber jedoch nicht gewählt. Vielmehr wurde durch Art. 87e GG, das AEG und weitere eisenbahnrechtliche Vorschriften das frühere Sondervermögen Deutsche Bahn aufgeteilt in das Eisenbahnbundesamt als Behörde und in verschiedene, nur formell privatisierte Bahn-Aktiengesellschaften unter dem Konzerndach der Deutsche Bahn AG, mit der Zuständigkeit der DB Netz AG für Bau und Unterhaltung der Schienen und Bahnhöfe (zu den Einzelheiten etwa Pauly/Becker, NVwZ 2013, 334). Diese Lösung erscheint zumindest in einer Hinsicht nicht unproblematisch: Obwohl die Deutsche Bahn als Eisenbahngesellschaft mit anderen Eisenbahnunternehmen bei Ausschreibungen im Wettbewerb steht, nimmt die DB Netz AG zugleich Aufgaben des Eigentümers der Schienen und Bahnhöfe wahr. Kritiker sehen hierin eine Vermischung aufsichtlicher und wettbewerblicher Kategorien.

Die unterschiedliche Sichtweise von Bundesverwaltungsgericht und VGH Mannheim in dem vorliegenden Fall betraf nur die Einordnung der DB Netz AG in das System der Staatsaufgaben und die Frage, ob die DB Netz AG und die übrigen Tochterunternehmen der Deutsche Bahn AG beim Bau von Eisenbahninfrastruktur aufgrund der fortbestehenden Gemeinwohlverpflichtung Aufgaben der öffentlichen Verwaltung des Bundes wahrnehmen. Die Verneinung öffentlicher Aufgaben der DB Netz AG und die Betonung ihrer „unternehmerischen Handlungszwänge” (Rn. 25) könnte manche Kritiker befürchten lassen, dass die Deutsche Bahn AG, was die Schienen und Bahnhöfe angeht, in Zukunft (noch) weniger kunden- und gemeinwohlorientiert und noch eigenmächtiger handeln könnte. Kritikpunkte lauten etwa, dass Bund und Bahn die dringend notwendige Schienenerneuerung weitgehend unterlassen und lieber Milliardensummen in Prestigeprojekte wie den Leipziger oder Stuttgarter Hauptbahnhof steckten, die noch dazu, ähnlich wie die Flughafenneubauten, in erster Linie in einer sachfremden Funktion als Einkaufszentren und nicht vorrangig als Orte der Erbringung von Verkehrsdienstleistungen konzipiert und geplant würden.

Das Bundesverwaltungsgericht betont insoweit den Schienenwegevorbehalt nach Art. 87a Abs. 3 GG und den Gewährleistungsauftrag des Art. 87e Abs. 4 GG als fortbestehende Verpflichtungen des Bundes (Rn. 25). Hinter der besprochenen Entscheidung versteckt sich indes die viel grundsätzlichere und nach wie vor ungeklärte Frage, wie es langfristig mit der bislang nur formell privatisierten Deutschen Bahn AG und ihren Tochterunternehmen weitergeht und ob es eines Tages zur klaren Trennung der Verwaltung der Schienenanlagen und der Verkehrsdienstleistungen kommen wird.

Hinweis der Redaktion: Der Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Auffassung des Verfassers wieder.

Ministerialrat Dr. jur. Klaus Schönenbroicher

Dr. Klaus Schönenbroicher

Leitender Ministerialrat, Gruppenleiter im Ministerium des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen, Honorarprofessor an der Ruhr-Universität Bochum
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