15.06.2012

Wissensmanagement bei der Feuerwehr

Optimale Hilfestellung durch Erfahrungstransfer im Main-Tauber-Kreis

Wissensmanagement bei der Feuerwehr

Optimale Hilfestellung durch Erfahrungstransfer im Main-Tauber-Kreis

Die Feuerwehr im Main-Tauber-Kreis – mit Wissensaustausch und -Transfer für noch mehr Bürgersicherheit. | © Bernd_Leitner - Fotolia
Die Feuerwehr im Main-Tauber-Kreis – mit Wissensaustausch und -Transfer für noch mehr Bürgersicherheit. | © Bernd_Leitner - Fotolia

Wissensmanagement bei der Feuerwehr, die Themenstellung überrascht. Doch bei näherer Betrachtung ist sie selbstverständlich. Feuerwehrmänner und Feuerwehrfrauen sind heute nicht mehr nur Brandbekämpfer, sondern auch Wissensarbeiter. In den letzten Jahren ist die Feuerwehr immer mehr zu einer universellen lokalen und regionalen Hilfsorganisation herangereift. Ihre Aufgaben reichen weit über die traditionelle Brandbekämpfung hinaus. Sie umfassen neben der Löschung von Bränden auch die Bekämpfung bzw. Vermeidung von giftigen Rauchgasentwicklungen und sonstigen Umweltbelastungen sowie den vorbeugenden Brandschutz. Zu den heutigen Aufgaben der Feuerwehren gehören auch die Rettung oder die Bergung von Menschen und Tieren, nicht nur, wenn diese von einem Brand oder von Hochwasser bedroht werden oder eingeschlossen sind, sondern auch dann, wenn diese infolge eines Unfalls eingeklemmt bzw. verschüttet wurden oder sich sonst in hilfloser Lage befinden.

Minimierung von Handlungsrisiken

Die Bewältigung dieser Aufgaben ist immer mit einem hohen Risiko für die Einsatzkräfte verbunden. Die Einschätzung von Risiken erfordert die Verfügbarkeit von relevantem Wissen und dessen situationsgerechter Interpretation. Werden die Risiken falsch eingeschätzt, weil das erforderliche Wissen nicht verfügbar ist oder vorhandenes Wissen fehlinterpretiert wird, können sich die Gefahren für Leben und Gesundheit sowohl der Opfer als auch der Rettenden schnell erhöhen. Um diese Handlungsrisiken zu minimieren, ist die Tätigkeit in den Feuerwehren in ein differenziertes Ausbildungs- und Fortbildungsprogramm eingebunden, das in Baden-Württemberg sowohl von der Landesfeuerwehrschule in Bruchsal als auch von den Landkreisen angeboten wird.

Bessere Risikoeinschätzung durch Erfahrungsaustausch

Doch eine gesteuerte Aus- und Fortbildung auf vorgegebenen Lernwegen ist nur eine Quelle, mit deren Hilfe Handlungsrisiken besser eingeschätzt und Fehlerfolgen möglichst vermieden werden können. Als weitere Lernquelle kommen die laufenden Einsatzerfahrungen und die daraus gezogenen Erkenntnisse hinzu. Damit werden sowohl der konkrete Einsatz als auch die Einsatzvorbereitungen und die Einsatznachbearbeitungen zu einem wichtigen Lernfeld für die Mitglieder einer Feuerwehr. Glücklicherweise blieb der Landkreis bislang von komplexen Großeinsätzen verschont. Gleichwohl müssen die Feuerwehren immer in der Lage sein, nicht nur Standardsituationen zu bewältigen, sondern auch mit dem Unerwarteten umzugehen. Dieses Unerwartete kann im Einsatz jederzeit eintreffen und jede Person in welcher Rolle auch immer betreffen. Dies erfordert, dass jeder Feuerwehrmann und jede Feuerwehrfrau in der Lage sein muss, auch unter Stressbedingungen selbst kleinste Ursachen- und Wirkungszusammenhänge zu erkennen und Verantwortung für das Ganze tragen zu können. Dazu muss nicht jedes Mitglied alles selbst machen können. Notwendig ist jedoch, dass jedes Mitglied ein klares Bild vom Handeln des andern hat und anschlussfähig ist.


Handlungskompetenz laufend verbessern

Die Tätigkeit in einer Feuerwehr erfordert daher ein hohes Maß an Achtsamkeit und Aufmerksamkeit, wenn in kritischen Situationen kurzfristig und zügig die richtigen Entscheidungen getroffen werden müssen. Doch auf was alles geachtet und auf was die Aufmerksamkeit gerichtet werden muss, ist abstrakt nicht einfach zu beantworten. Denn Aufmerksamkeit vollzieht sich immer in realen Situationen, wenn in einem Sekundenbruchteil inakzeptable Soll-Ist-Abweichungen festgestellt werden und fast intuitive Reaktionen auslösen. Dies erfordert ein reiches Erfahrungsrepertoire. Da nicht jedes Mitglied jede Erfahrung selbst machen soll und muss, sind die individuellen Erfahrungshorizonte um die anderer zu erweitern. Dies erfordert einen Austausch, der in einem größeren Kreis ohne technische Hilfe nicht zu realisieren ist. Hinzu kommt, dass hier das sog. „implizite Wissen“ eine wichtige Rolle spielt. Denn größtenteils beruht die „automatisierte“ Handlungskompetenz gerade auf diesem unbewussten Teil des Wissens. Es wird dem Wissensträger meist erst dann bewusst, wenn er sich dessen vergegenwärtigt und feststellt: Ja, genau so ist es. Hinzu kommt, dass dieses Wissen kaum zu dokumentieren und daher nur schwer zu vermitteln ist. Übertragen wird es durch Vormachen, Abschauen, Nachmachen, Kommunizieren, Üben und Korrigieren. Erlernt wird eine davon adaptierte eigene Interpretation.

Da wir in der glücklichen Lage sind, dass unsere Feuerwehren insbesondere im ländlichen Raum bislang von Großeinsätzen weitgehend verschont geblieben sind, reichen als Praxislernfeld die Erfahrungshorizonte der einzelnen lokalen Feuerwehren meist nicht mehr aus, um neben den formalen Lernangeboten zu einem Nachdenken jenseits bewährter Muster inspiriert zu werden. Daher haben wir den Ermöglichungsraum erweitert und im Main-Tauber-Kreis in Zusammenarbeit mit der Führungsakademie Baden-Württemberg als erster Landkreis in Baden-Württemberg für alle freiwilligen Feuerwehren und für die Werkfeuerwehren mit insgesamt über 4000 Mitgliedern ein Wissensportal eingerichtet, über das unterschieden nach Führungskräften und Mitglieder sowohl für die gemeindlichen und betrieblichen Einheiten als auch für den ganzen Landkreis rollenspezifische Informationen bereitgestellt sowie Wissen und Erfahrungen ausgetauscht werden können.

Wissensmanagement bei der Feuerwehr ist neu, wenngleich das Thema selbst uralt ist. Denn bei den Feuerwehren wurde schon immer Wissen ausgetauscht, neues Wissen generiert und danach gehandelt, sei es, dass neue Einsatzstrategien entwickelt wurden, neue Techniken zum Einsatz gekommen sind oder im Einsatz die neueste Löschtechnik verwendet wird. Neu hingegen ist die Diskrepanz zwischen der Realisierungswahrscheinlichkeit von Gefahren und dem Ausmaß der Gefahrenfolgen. Der Erfolg von Präventivmaßnahmen beim Haus- und Betriebsstättenbau, beim Straßenbau oder bei der Fahrzeug- und Flugzeugkonstruktion ist, dass diese heute bestimmten Sicherheitsanforderungen entsprechen. Treten Gefahrenlagen auf, greifen zunächst die integrierten Sicherheitssysteme. Sie verhindern eine Schadenskonkretisierung oder mildern die Schadensfolgen. Eskalieren Gefahren trotzdem, dann nehmen sie auf Grund wechselseitiger chemischer Reaktionen und anderer Verbindungen schnell ein Ausmaß an, das nur unter erschwerten Bedingungen zu bekämpfen ist und zu einem nicht unerheblichen Schaden führen kann. Diese Entwicklung führt dazu, dass sich das Wissen um Ursachen und Wirkungen ständig vermehrt und dessen Bewältigung mit formellen Lernprozessen allein nicht mehr Schritt halten kann.

Wissensgemeinschaften schließen Wissenslücken

Um diese Lücke zu schließen, haben wir im Main-Tauber-Kreis sowohl für jede freiwillige Feuerwehr und für jede Werkfeuerwehr als auch für die Feuerwehrangelegenheiten des Kreises Wissensgemeinschaften eingerichtet, in denen Informationen zu Gesetzen und Vorschriften, zu Fortbildungen, Lehrgängen, Dienst- und Übungsplänen, zu Dienstbesprechungen und zu technischen Entwicklungen hinterlegt sind sowie Wissen zu Fachthemen und zu Einsätzen ausgetauscht und mit interessanten Artikeln verlinkt und kommentiert werden können. In dem Portal ist jede Feuerwehr als eigenständige Einheit mit eigenen Rollen und Rechten eingerichtet. In diesem Konzept sind aber auch übergreifende Inhalte berücksichtigt, die allen Feuerwehrangehörigen des Landkreises zur Verfügung stehen. Wenn auch in einem ersten Schritt noch der Informationsgehalt dominiert, wächst die Bereitschaft, Einsatzberichte über den lokalen Bereich der eigenen Feuerwehr hinaus auszutauschen und einer kritischen Würdigung zuzuführen.

Feuerwehren auf dem Lande werden von Freiwilligen getragen. Ihr Ursprung liegt in der Erfahrung, dass die gemeinschaftliche Selbstorganisation des Selbstschutzes die wirksamste Form der Eigentumssicherung ist. Feuerwehren gehören damit zu den ersten gemeinwohlorientierten zivilgesellschaftlichen Akteuren. Ihre Identität bezogen sie lange Zeit aus dem lokalen Bezug des Rechtsgüterschutzes. Diese Grenzen sind heute aufgebrochen. Dies begünstigt eine offene Fehler- und Feedbackkultur unter den einzelnen Feuerwehren. Sieht man sich weniger der lokalen Herkunft als der gemeinsamen Aufgabe verpflichtet, fällt es leichter, über nicht bedachte Risiken und deren gerade noch abgewandten Folgen, nicht erkannte Chancen und deren Ursachen sowie über nicht ausgeschöpfte Lage- und Handlungsvorteile zu sprechen, um daraus ein „Next Best“ für die eigene Einsatzpraxis abzuleiten.

Fehlerdiskussion spielt entscheidende Rolle

Bei einer Einrichtung wie der Feuerwehr ist die Fehlerdiskussion besonders wichtig. Die Erfahrung aus dem einen Fall kann im anderen Fall Leben retten. Beinahe-Unfälle und Irrtümer werden damit zu wichtigen Lerninformationen. Dies setzt voraus, dass man darüber offen reden kann und möchte. Dies setzt auch voraus, dass Bedenken positiv bewertet werden und das Bestehende immer wieder auf den Prüfstand der Bewährung gestellt wird. Dazu müssen die Mitglieder der Feuerwehren ihre Kenntnisse und Fähigkeiten ständig erweitern und ihr Wissen zum wechselseitigen Nutzen einsetzen. Die Mitglieder der Feuerwehren des Main-Tauber-Kreises haben den Anspruch, mit hoher Kompetenz zu handeln. Sie wollen dazu auch voneinander lernen. Daher erschien uns die Wissensgemeinschaft (Community of Practice) als ein geeignetes Instrument, mit dessen Hilfe lokale und regionale Informations- und Lernräume gestaltet werden können, um solche Lernprozesse zu ermöglichen und dabei sowohl die notwendige Vertraulichkeit zu wahren als auch die nötige Offenheit herzustellen. Doch auch dies ist zu erlernen. Es ist ein Entwicklungsprozess, der seitens des Landkreises nur angestoßen werden kann und von den Verantwortlichen der Feuerwehren aufgenommen und von jedem Mitglied angenommen werden muss. Wir sind zuversichtlich, dass das gelingt. Doch es braucht Zeit.

 

Dr. Siegfried Mauch

Führungsakademie Baden-Württemberg, Stuttgart
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