25.01.2018

Wird die Innere Sicherheit dem Föderalismus geopfert?

Polizeivorschriften der Länder unterscheiden sich massiv – Zusammenarbeit muss verstärkt werden

Wird die Innere Sicherheit dem Föderalismus geopfert?

Polizeivorschriften der Länder unterscheiden sich massiv – Zusammenarbeit muss verstärkt werden

Der Einzug der Digitalisierung geht bei der Polizei mit einer regelrechten Datenflut einher. | © 3dkombinat - stock.adobe.com
Der Einzug der Digitalisierung geht bei der Polizei mit einer regelrechten Datenflut einher. | © 3dkombinat - stock.adobe.com

Den Anforderungen an die Innere Sicherheit begegnet die Bundesrepublik Deutschland mit zahlreichen politischen Konzepten. Hauptsächlich soll die beunruhigende Zahl der Wohnungseinbrüche, der politische Extremismus und Phänomene im Zusammenhang mit der anhaltenden Flüchtlingskrise eingedämmt werden. Neue Vorschläge für eine bessere Terrorabwehr setzen auf Software zur Gesichtserkennung, Rucksackverbote bei Großveranstaltungen, Verbote von Verschleierungen im öffentlichen Raum und zahlreiche andere Maßnahmen bis hin zur Ausrüstung einer immer mehr zum Aggressionsobjekt gewordenen Polizei mit „Body-Cams“. Doch müssen all diese Vorschläge rechtlich unterlegt sein – angesichts der Kompetenzverteilung im Sicherheitsrecht ein schwieriges Unterfangen, müssen doch jeweils der Bund und 16 Länder mitziehen.

Vereinheitlichungsbemühungen

Bereits seit den 1970er Jahren gibt es Bestrebungen der Innenministerkonferenz (IMK), die Polizeigesetze der Länder und des Bundes möglichst zu vereinheitlichen. Im Jahr 1977 lag ihr ein „Musterentwurf für ein einheitliches Polizeigesetz des Bundes und der Länder“ vor. Dieser MEPolG wurde von Anfang an skeptisch beäugt, weil einerseits eine Zurückdrängung freiheitlicher Grundrechte befürchtet wurde, wenngleich auf der anderen Seite das Erfordernis einer normativen Bereinigung nicht zu übersehen war. Die inhaltliche Diskussion drehte sich damals hauptsächlich um Fragen der Bewaffnung der Polizei, um die Befugnisse zur Identitätsfeststellung an gefährlichen Orten, zum Abhören von Telefongesprächen und zum „finalen Rettungsschuss“, aber auch ganz grundsätzlich um den Einsatz des Bundesgrenzschutzes und der Bundeswehr im Innern. 1986, nach dem Volkszählungsurteil des BVerfG (BVerfGE 65, 1), wurde ein „Vorentwurf zur Änderung des Musterentwurfs eines einheitlichen Polizeigesetzes des Bundes und der Länder“ (VEMEPolG) beschlossen. Mit ihm wurden die Grundstrukturen für die bereichsspezifische Datenschutzregelung und die besonderen Formen der Datenerhebung festgelegt. 1989 diente der MEPolG als Pate für das von der Volkskammer der DDR verabschiedete und zum 1.10.1990 in Kraft getretene PAG-DDR. Dieses Gesetz blieb nach dem Einigungsvertrag bis zum Inkrafttreten von Polizeigesetzen der Länder in Kraft. Damit sollten polizeirechtsfreie Räume vermieden werden. Für eine Übergangszeit hatten die Polizeien der neuen Länder rechtsstaatlichen Anforderungen genügende Grundlagen – bis zum Erlass eigener Polizeigesetze, ab 1991, vorwiegend nach dem Muster ihrer Partnerländer. Das war es dann auch an Reform- und Vereinheitlichungsbemühungen auf legislativer Ebene.

Die gesetzlichen Regelungen heute

Heute, 40 Jahre später, sieht die Normenlandschaft folgendermaßen aus: Der Rechtsanwender steht vor 16 unterschiedlichen Polizeigesetzen der Länder (z. T. vermischt mit Aufgaben und Befugnissen der Ordnungsbehörden). Mit dem Bundespolizeigesetz und dem BKA-Gesetz gibt es zwei formelle Polizeigesetze auf Bundesebene. Das BKA, das früher nur für bestimmte Arten der Strafverfolgung und den Schutz ausländischer Staatsgäste zuständig war, hat erst vor zehn Jahren auf der Grundlage des neu geschaffenen Art. 73 Abs. 1 Nr. 9a GG die bis dahin allein den Ländern vorbehaltene Aufgabe der Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus übertragen bekommen. Mit gerade einmal 15 Fällen ist es bis 2015 insoweit nur in bescheidenem Umfang tätig geworden (Die Welt v. 21.04.2016, S. 5). Hinzugezählt werden müssen das Verwaltungs-Vollstreckungsgesetz des Bundes (VwVG), das Gesetz über den unmittelbaren Zwang bei Ausübung öffentlicher Gewalt durch Vollzugsbeamte des Bundes (UZwG) und die Vorschriften über die anderen Polizeien des Bundes, wie den Polizei- und Sicherungsdienst bei der Verwaltung des Deutschen Bundestages (Art. 40 Abs. 2 GG), den Inspekteur der Bereitschaftspolizeien der Länder und den – seit 2016 umorganisierten – Zolldienst. Nimmt man die 16 Gesetze für die Landesverfassungsschutzbehörden sowie die drei Gesetze für das Bundesamt für Verfassungsschutz, den Militärischen Abschirmdienst und den Bundesnachrichtendienst, die 17 G 10-Gesetze (das sind Gesetze zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses) und die 17 Parlamentarischen Kontroll- und Sicherheitsüberprüfungsgesetze des Bundes und der Länder hinzu, gelangt man zu einem Vorschriftenkonvolut von wenigstens 100 Gesetzen für die präventive Tätigkeit von Bund und Ländern auf dem Gebiet des Polizei- und Nachrichtendienstrechts.


Einfluss der Verfassungsrechtsprechung

Das Polizeirecht galt früher als klassisches Gefahrenabwehr- und Strafverfolgungsrecht. Es hat sich zu einem komplexen operativ-integrierten Eingriffsrecht entwickelt. Diese Entwicklung war stets von Befürchtungen begleitet, rechtsstaatliche Grenzen könnten aufgeweicht werden. In den vergangenen 30 Jahren hat das BVerfG den Gesetzgebern in Bund und Ländern mehrfach verfassungsrechtliche Grenzen aufgezeigt, ja es ist sogar zu einer Art „Ersatzgesetzgeber“ avanciert. Zumindest hat es dem Bundesgesetzgeber immer wieder vorgehalten, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu verletzen und – daraus resultierend – Versäumnisse bei der Ausgestaltung polizeilicher Befugnisse. Die Inhalte haben sich daher mehr und mehr zum Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung und zu den Grenzen der Datenverarbeitung verschoben. Einen ersten Wendepunkt in der Polizeigesetzgebung markiert das „Volkszählungsurteil“ von 1983. Ihm folgten zahlreiche weitere richtungweisende Entscheidungen. In sämtliche Polizeigesetze der Länder wurden daraufhin Regelungen über die Erhebung, Verarbeitung, Speicherung und Verwendung personenbezogener Daten eingefügt und immer weiter verfeinert. Im Kern geht es bei den Eingriffsnormen stets um zwei Hauptpunkte: 1. Die Normenklarheit und Bestimmtheit und 2. die Ausprägung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Das Ergebnis sind heute umfangreiche und meist völlig unüberschaubare Regelungen zum Polizeidatenschutz, die inzwischen auch den quantitativen Schwerpunkt der meisten Polizeigesetze bilden. Diese Regelungen waren ihrerseits vielfach Gegenstand der Verfassungsrechtsprechung, die insbesondere das allgemeine Persönlichkeitsrecht weiter ausgeprägt hat: Es gibt nicht nur ein Recht auf informationelle Selbstbestimmung (erstmals im Volkszählungsurteil), sondern auch ein Recht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme – oder kurz: ein IT-Grundrecht (BVerfGE 120, 274).

Überwachung und Strafverfolgung

Weitere legislative Änderungen betreffen hauptsächlich das Recht der Strafverfolgung. Ihre Prämissen und ihre Grundsätze schlagen aber auf das Recht der Gefahrenabwehr zurück, wie das BVerfG im vorigen Jahr in seinem Urteil zu einzelnen Ermittlungsbefugnissen des Bundeskriminalamts zur Terrorismusbekämpfung im BKAG deutlich gemacht hat (NJW 2016, 1781): Zwar wird der Einsatz von heimlichen Überwachungsmaßnahmen (Wohnraumüberwachung, Online-Durchsuchungen, Telekommunikationsüberwachungen, Telekommunikationsverkehrsdatenerhebungen und Überwachungen außerhalb von Wohnungen mit besonderen Mitteln der Datenerhebung) zur Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus für „im Grundsatz mit den Grundrechten des Grundgesetzes vereinbar“ erklärt. Die Ausgestaltung solcher Befugnisse müsse jedoch dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügen. Hieraus resultieren weitreichende Anforderungskataloge. Die Nutzung und Übermittlung staatlich erhobener Daten habe sich nach den Grundsätzen der Zweckbindung und Zweckänderung zu richten, ebenso die Übermittlung von Daten an staatliche Stellen im Ausland. Zahlreiche Richtervorbehalte wurden angemahnt. Erkenntnisse aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung dürfen überhaupt nicht verwertet werden. Das BVerfG hat beanstandet, dass die Kontrolle hierüber nicht maßgeblich in den Händen von Personen liege, die gegenüber dem BKA unabhängig seien. Es hat deshalb einige der Regelungen für nichtig, andere hingegen nur für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt. Sie gelten deshalb für eine Übergangszeit mit einschränkenden Maßgaben weiter. Nun muss der Bundesgesetzgeber bis zum 30. Juni 2018 eine Neuregelung treffen und nachbessern. Die Entscheidung ist übrigens nicht einhellig ergangen, sondern mit 5 : 3 Stimmen. Zwei Richter wendeten sich in Sondervoten gegen die Senatsmehrheit, die an die Bestimmtheit einzelner Regelungen überzogene Anforderungen stelle und sich zu weitgehend an die Stelle des demokratisch legitimierten Gesetzgebers setze. Man darf weiter gespannt sein, ob die Regelungen des „Antiterrorpakets“ von 2016 verfassungsrechtlichen Anforderungen standhalten. 2013 hat das BVerfG entschieden, dass der Austausch von Daten zwischen Polizeibehörden und Nachrichtendiensten grundsätzlich mit der Verfassung vereinbar ist (BVerfGE 133, 177). Der damalige Prüfungsgegenstand, das Antiterrordateigesetz, wurde zwar in seinen Grundstrukturen für verfassungsgemäß erachtet. Vor allem dürfen in der Antiterrordatei Bankverbindungen von Mitgliedern oder Unterstützern terroristischer Vereinigungen gespeichert werden. Hinsichtlich der Ausgestaltung im Einzelnen genügte es jedoch verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht – vor allem in puncto Bestimmtheit und Datenumfang.

Rechtszersplitterung

Von einem einheitlichen Recht auf dem Gebiet der Gefahrenabwehr ist Deutschland weiter entfernt denn je. Die Polizeigesetze des Bundes und der Länder berücksichtigen die weitreichenden Anforderungskataloge, Vorbehalte und Hinweise der Verfassungsgerichte. Die Folge sind überaus unübersichtliche Regelungspopanze. Von den für staatliche und kommunale Ordnungsbehörden maßgeblichen Rechtsvorschriften war dabei noch nicht einmal die Rede. Hinzu kommt, dass die Föderalismusreform von 2006 den Prozess der Rechtserosion gefördert hat. Augenfällige Beispiele finden sich im Versammlungsrecht, im Gaststättenrecht, aber auch etwa im Beamten-, Beamtenbesoldungs- und -versorgungsrecht. Diese ursprünglich bundesrechtlichen Materien sind in die Kompetenz der Länder übergegangen – zu Lasten der Einheitlichkeit. Diese „Einheit in Vielfalt“ ist so gewollt – trotz aller trennenden Elemente. Doch bereits die Datenflut ist kaum noch zu beherrschen. Bund und Länder verfügen über teilweise völlig unterschiedliche Computersysteme und Softwareprogramme. Auch insoweit hat sich das Partnerschaftssystem, mit dem nach der Wende die Partnerländer in den neuen Ländern ihre Techniken einführten, nicht nur als hilfreich erwiesen. Der Datenflut wird – den verfassungsrechtlichen Vorgaben entsprechend – eine neue Regelungsflut folgen: Die Polizei der Zukunft wird vollständig digital sein. In einer Kurzgeschichte von Philip K. Dick von 1965 mit dem Titel „Der Minderheiten-Bericht“, welche im Jahr 2002 von Steven Spielbergs als „Minority Report“ verfilmt wurde, erahnt eine Spezialeinheit der Washingtoner Polizei im Jahr 2054 geplante Straftaten mittels Präkognition im Voraus und nimmt potenzielle Täter fest, bevor sie Schaden anrichten können. Mögen solche „Precogs“ noch Fiktion sein, so werden an der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster derzeit „Augmented- Reality-Brillen“ erforscht (Die Welt vom 1.9.2016, S. 9). In der „Smart City“ von heute sind alle Geräte, die für Ordnung und Orientierung sorgen, miteinander vernetzt – mit allen Risiken und rechtlichen Unsicherheiten. Zurzeit laufen außerdem Versuche mit am Körper getragenen Kameras („Body Cams“). Sie sollen Angriffe auf Polizeibeamte reduzieren. Die bloße Existenz der sichtbaren Kamera soll die Hemmschwelle situationsabhängig erhöhen. Wieder einmal müssen Bund und Länder ihre Polizeigesetze anpassen und Rechtsgrundlagen für den Einsatz solcher Kameras schaffen. In Hessen sind seit 2013 solche Kameras im Einsatz. Widerstandsdelikte gingen dort seither um 37,5 % zurück. In einigen anderen Ländern sind Gesetzentwürfe im Gespräch, die den Einsatz erlauben, teilweise sind bereits die erforderlichen Regelungen in Kraft. Andere Länder tun sich noch schwer, fahren Pilotversuche oder aber erachten entweder den Einsatz als nicht sinnvoll oder die juristischen Hürden als zu groß.

Fazit

Die Kompetenzverteilung unseres föderalistischen Verfassungssystems weist das Sicherheitsrecht primär den Ländern zu. Ursprüngliche Bestrebungen, unter Beibehaltung der Verantwortung der Länder möglichst einheitliche Regelungen zu schaffen, sind gescheitert Ursächlich sind dafür zum einen politische Differenzen, zum anderen die Verfassungsrechtsprechung zum Umgang der Polizei mit personenbezogenen Daten und schließlich der Einzug neuer Technik in die Welt der Polizei. Da wir in Deutschland weiter denn je von einheitlichen Polizeivorschriften entfernt sind, müssen Bund und Länder verstärkt zusammenarbeiten, um Rechtslücken zu schließen, wenigstens aber zu überbrücken. Erforderlichenfalls müssen weitere Organisationseinheiten gebildet werden, wie das Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ). Die Sicherheit von Bürgern und Staat hängt in erster Linie davon ab, wie gut diese Herkulesaufgabe von allen Akteuren bewältigt wird. Denn auch im Sicherheitsrecht ist die Kette nur so stark wie ihr schwächstes Glied.

Dieser Beitrag stammt aus dem aktuellen Wirtschaftsführer.

Ministerialrat Dr. Dr. Frank Ebert

Ministerialrat a.D. Dr. Dr. Frank Ebert

Leiter des Thüringer Prüfungsamts a.D., Erfurt
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