11.06.2025

Verankerung und Herausforderungen der kommunalen Selbstverwaltung im digitalen Zeitalter

Verfassungsrechtliche Verankerung, aktuelle Herausforderungen und rechtspolitischer Reformbedarf

Verankerung und Herausforderungen der kommunalen Selbstverwaltung im digitalen Zeitalter

Verfassungsrechtliche Verankerung, aktuelle Herausforderungen und rechtspolitischer Reformbedarf

Ein Beitrag aus »Niedersächsische Verwaltungsblätter« | © emmi - Fotolia / RBV
Ein Beitrag aus »Niedersächsische Verwaltungsblätter« | © emmi - Fotolia / RBV

Die kommunale Selbstverwaltung ist nichts Vorhandenes, der staatlichen Ordnung Vorgegebenes. Die Zuständigkeit zur Ausübung jeglicher hoheitlichen Gewalt, auch durch die Kommunen, muss vom Staat und von seiner Rechtsordnung eingeräumt sein.1 Das scheint durch Art. 28 Abs. 2 GG gesichert, eine der wohl am häufigsten zitierten Normen des Grundgesetzes. Aus Anlass des 75-jährigen Inkrafttretens des Grundgesetzes war sie indes vielen Autoren keiner Erwähnung wert. Soweit Föderalismus und Dezentralität überhaupt vorkommen, enden die Betrachtungen auf der Ebene der Bundesländer.2 Auch unterfällt die Selbstverwaltungsgarantie nicht dem „Ewigkeitsschutz” des Art. 79 Abs. 3 GG.3 Die verfassungsrechtliche Dogmatik scheint ausgepresst, in einer auf Neuigkeiten fixierten Wahrnehmung mutet die kommunale Selbstverwaltung „old school” an. Dem Kommunalrecht als eigenes, landesrechtlich geprägtes Lehr- und Forschungsgebiet wird attestiert, zunehmend an Relevanz eingebüßt zu haben.4 Der Beitrag hinterfragt kritisch die bisherige Dogmatik und zeigt rechtspolitische Handlungsnotwendigkeiten zur Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung auf.

I. Verfassungsrechtliche Fundierung der kommunalen Selbstverwaltung

1. Art. 28 Abs. 2 GG als Basis

Nach Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG muss den Gemeinden das Recht gewährleistet sein, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln. Die rechtswissenschaftliche Diskussion ist sehr fokussiert auf die Zuständigkeitsabgrenzung zu den Gemeindeverbänden, die nach Art. 28 Abs. 2 Satz 2 GG im Rahmen ihres gesetzlichen Aufgabenbereichs nach Maßgabe der Gesetze das Recht der Selbstverwaltung haben. Für die Gemeindeverbände, zu denen jedenfalls die Landkreise rechnen, streitet anders als für die Gemeinden also keine Allzuständigkeitsvermutung, sondern der Gesetzgeber muss ihnen Aufgaben zuweisen. In seiner berühmten Rastede-Entscheidung aus dem Jahr 19885 hat das BVerfG die daraus folgenden Konsequenzen detailgenau seziert und dargelegt, diese Aufgabenabgrenzung gelte auch und gerade zwischen Gemeinden und Landkreisen. Bleibt das Landesverfassungsrecht hinsichtlich der Aufgabenzuweisung hinter dem Regel-Ausnahme-Verhältnis zum vorrangigen Schutz der Gemeinden zurück, kommt die „Durchgriffsnorm” des Art. 28 Abs. 2 GG zum Tragen. Nötigenfalls kann eine Gemeinde abweichend vom Grundsatz der Subsidiarität mit einer Kommunalverfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 b GG, § 91 BVerfGG vor dem BVerfG ihr Recht geltend machen.6

Zuständigkeitskonflikte zwischen Gemeinden und Landkreisen scheinen indes ein wenig aus der Zeit gefallen. Der Transformationsprozess der Klimawende, die Sicherung und Dekarbonisierung des öffentlichen Nahverkehrs und die Versorgung mit einem leistungsfähigen Breitbandnetz stehen exemplarisch für aktuelle Herausforderungen, die im kreisangehörigen Raum nur im engen Zusammenwirken zwischen Landkreisen sowie Städten und Gemeinden wahrgenommen werden können. Zunehmende finanzielle Engpässe führen eher dazu, dass Gemeinden den Landkreisen ihnen durch diese übertragene Aufgaben zurückgeben. Dies kann in Niedersachsen partiell anhand der Zuständigkeit für die Kindertagesstätten7 beobachtet werden. Die verfassungsprozessual bedeutsame Entscheidung des BVerfG aus dem Jahr 2017 zum Kinderförderungsgesetz des Landes Sachsen-Anhalt hat – entgegen dem einmütigen Votum der Gemeinden, Städte und Landkreise – die Entscheidung des Landesgesetzgebers zur Übertragung der Leistungsverpflichtung zur Erfüllung des Anspruchs auf Kindertagesbetreuung auf die Landkreise und kreisfreien Städte als örtliche Träger der öffentlichen Jugendhilfe im Ergebnis gebilligt.8


Als Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft i. S. v. Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG hat das BVerfG in einer bildhaften Umschreibung „diejenigen Bedürfnisse und Interessen, die in der örtlichen Gemeinschaft wurzeln oder einen spezifischen Bezug haben” identifiziert.9 Im neueren Karlsruher Sprachgebrauch heißt es leicht abgewandelt, das seien „solche Aufgaben, die das Zusammenleben und -wohnen der Menschen vor Ort betreffen oder einen spezifischen Bezug darauf haben”.10 Aber welche der Selbstverwaltungsaufgaben betreffen tatsächlich noch das Zusammenleben der Menschen vor Ort und haben einen spezifischen Bezug darauf? Sind Kleinstverwaltungen von unter 50 Personen angesichts der Vielzahl und Komplexität der wahrzunehmenden Aufgaben noch in der Lage, ihren Aufgaben vollumfänglich nachzukommen?11 Welchen Mehrwert hat die kommunale Selbstverwaltung für die Wahrnehmung ursprünglich staatlicher Verwaltungsangelegenheiten,12 die namentlich bei den Landkreisen einen bedeutenden Anteil ihrer stetig anwachsenden Aufgaben ausmachen? Bereitet die Digitalisierung den Weg zur Überführung heute kommunal-dezentral wahrgenommener Aufgaben in eine staatlich-zentrale oder gar privatwirtschaftlich durch die großen Player des digitalen Marktes beherrschte Aufgabendurchführung?

2. Verfassungsrechtliche Säulen der kommunalen Selbstverwaltung

a. Verfassung geht von der Existenz von Kommunen aus

Gemeinden und Gemeindeverbände werden im Grundgesetz auch an eher unbekannter Stelle erwähnt. Neben den drei nachfolgend näher beleuchteten verfassungsrechtlichen Fundierungen werden sie genannt in Art. 91 e (Zusammenwirken bei der Grundsicherung für Arbeitssuchende), 104 b (Finanzhilfen zur Abwehr von Störungen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts, zum Ausgleich unterschiedlicher Wirtschaftskraft und zur Förderung des wirtschaftlichen Wachstums), 104 c (Finanzhilfen im Bereich der kommunalen Bildungsinfrastruktur), 104 d (Finanzhilfen im Bereich des sozialen Wohnungsbaus), 105 Abs. 3 (Steuergesetzgebungshoheit), mehrfach in Art. 106 (Steuerertragshoheit), 107 Abs. 2 (Finanzausgleich) und mehrfach in Art. 108 (Finanzverwaltung und Finanzgerichtsbarkeit) der Bundesverfassung. Materielle Betroffenheit ohne ausdrückliche Erwähnung ergibt sich aus den Regelungen in Art. 91 c (Zusammenwirken bei informationstechnischen Systemen), 91 d (Zusammenwirken bei Leistungsvergleichen in der Verwaltung) und insbesondere den Regelungen zur Haushaltswirtschaft in Bund und Ländern in Art. 109 GG.13

b. Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG

Erstmals werden die Kreise und Gemeinden gleichberechtigt in der sog. Homogenitätsnorm des Art. 28 Abs. 1 im Text des Grundgesetzes erwähnt, der ein Mindestmaß verfassungsrechtlicher und materieller Übereinstimmung im Bundesstaat sichern soll. Nach Satz dieser Vorschrift muss das Volk in den Ländern, Kreisen und Gemeinden eine Vertretung haben, die aus allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen ist. Die kommunale Selbstverwaltung erhält schon an dieser Stelle eine doppelte demokratische Legitimation: zum einen durch die sachlich-inhaltliche Legitimation der Gesetzesbindung nach Art. 20 Abs. 3 GG, zum anderen über die Volkswahl der Vertretung nach den gleichen Wahlgrundsätzen, die auch für die Wahl zum Deutschen Bundestag und den Landesparlamenten gelten.14 Verstärkt wird diese demokratische Legitimation durch die verfassungsrechtlich nicht geforderte, aber unzweifelhaft zulässige Wahl der Hauptverwaltungsbeamten unmittelbar durch das Volk in der ganz überwiegenden Zahl der Bundesländer, darunter auch Niedersachsen.

Kommunale Selbstverwaltung ist also gekennzeichnet durch eine spezifisch demokratische Funktion.15 Sie hat bereits die „Findungsphase” der konkreten Formulierung des heutigen Art. 28 Abs. 2 GG in den Jahren 1945 – 1949, auch und gerade unter den Eindruck der niederschmetternden Erfahrungen der nationalsozialistischen Ära, maßgeblich geprägt.16 Die Gemeinden und Kreise sind maßgeblich in den Aufbau der Demokratie einbezogen, auch wenn die kommunalen Vertretungen keine Parlamente sind, sondern Organe einer Selbstverwaltungskörperschaft.17 Die hauptsächliche Funktion der verfassungsrechtlichen Gewährleistung der kommunalen Selbstverwaltung wird darin gesehen, die politische Willensbildung an der Basis abzusichern, den Aufbau des Staates von unten nach oben zu repräsentieren und dadurch die Staatsorganisation zu optimieren.18 Die Selbstverwaltung in Gemeinden und Landkreisen erscheint als Korrelat zu dem in Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG verankerten Recht auf demokratische Selbstbestimmung, das Wahlrecht begründet einen – (eng) begrenzten – „Anspruch auf Demokratie”.19

c. Art. 28 Abs. 2 GG

Bezüglich der Selbstverwaltungsgarantie in Art. 28 Abs. 2 GG wird herkömmlicherweise zwischen drei Garantieebenen unterschieden: die Rechtssubjektgarantie, die Rechtsinstitutionengarantie und die subjektive Rechtsstellungsgarantie.20 Die Gemeinden werden in der gefestigten Rechtsprechung des BVerfG als ein wesentlicher Bestandteil der staatlichen Gesamtorganisation verstanden. Sie sind ein Teil des Staates, in dessen Aufbau sie integriert und mit eigenen Rechten ausgestattet sind.21 Ob Vorläuferbestimmungen, insbesondere Art. 127 der Weimarer Reichsverfassung, als Grundrecht verstanden wurden,22 kann dahinstehen. Jedenfalls ist die Zurechnung der Kommunen zum staatlichen Sektor und damit die fehlende Grundrechtsfähigkeit heute unstreitig.23 Innerhalb der organisierten Staatlichkeit kommt ihnen eine verfassungsrechtlich gesicherte Sonderrolle zu als „dezentralisiert-partizipative Verwaltung mit einem eigenen System demokratischer Legitimation, das der Bürgernähe, Überschaubarkeit, Flexibilität und Spontanität verbunden sein soll”.24

Anlässlich seiner Entscheidung zur Schulnetzplanung in Sachsen hat das BVerfG an die oben unter I 1. genannte Aufgabenumschreibung für die Gemeinden angeknüpft und die gemeindliche Zuständigkeit für die Grund- und Volksschulen bestätigt.25 Der seinerzeitige Berichterstatter, Prof. Dr. Peter-Michael Huber, hat rückblickend die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, insbesondere aber die demokratische Funktion der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie betont. Je stärker der Einzelne seine politische Selbstbestimmung verwirklichen könne, desto näher sei er an der Wertung der Verfassung, nämlich der Wertung des Demokratieprinzips in Art. 20 GG und der Menschenwürde, dran. Zudem sei klar, dass die kleinere Einheit mehr individuelle Selbstbestimmung ermögliche als die größere.26

d. Art. 84 Abs. 1 Satz 7, 85 Abs. 1 Satz 2 GG

Seit der Föderalismusreform I im Jahr 2006 enthält Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG ein absolutes Verbot der Aufgabenzuweisung auf die kommunale Ebene für den Bundesgesetzgeber.27 Diese Norm konkretisiert und arrondiert den Garantiegehalt des Art. 28 Abs. 2 GG, wie das BVerfG ausdrücklich klargestellt hat.28 Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG greift, wenn ein Bundesgesetz den Kommunen erstmals eine bestimmte Aufgabe zuweist oder eine damit funktional äquivalente Erweiterung einer bundesgesetzlich bereits zugewiesenen Aufgabe vornimmt. Letzteres ist der Fall, wenn Maßstäbe, Tatbestandsvoraussetzungen oder Standards so verändert werden, dass damit mehr als unerhebliche Auswirkungen auf die Organisations-, Personal- und Finanzhoheit der Kommunen verbunden sind. Relevant sind das Schaffen neuer Leistungstatbestände, die Ausweitung bestehender Leistungstatbestände auf neue Gruppen oder eine Veränderung des Leistungsbezuges in der Art, dass damit ihr Charakter verändert wird. Für das regulatorische Interesse des Bundes verbleibt nur Raum, wenn die Auswirkungen auf die Eigenverantwortlichkeit der Kommunen gering sind.29

Entscheidend für die Wirksamkeit dieses Schutzmechanismus ist die Differenzierung zwischen dem bundesrechtlichen Sachrecht einerseits und der Begründung der Aufgabenzuständigkeit andererseits.30 Als Konsequenz des Durchgriffverbots für den Bund vermögen ausschließlich die Länder eine kommunale Aufgabenzuständigkeit zu begründen. Ist die Sachaufgabe durch Bundesrecht geregelt und dieses wird geändert, kommen die Konnexitätsbestimmungen des jeweiligen Landesverfassungsrechts zur Anwendung, wenn durch Landesrecht eine kommunale Wahrnehmungszuständigkeit begründet wurde. Auch eine dynamisch wirkende Zuweisungsnorm aktualisiert die Aufgabenübertragung stets neu und gibt den Normbefehl, dass fortan (auch) das geänderte Sachrecht auszuführen ist. Nicht der Bund, sondern das Land veranlasst durch die Aufgabenzuweisung die ggf. erhöhten Kosten durch die Rechtsänderung in den kommunalen Kassen.31

Den gesamten Beitrag lesen Sie in den NdsVBl. Heft 4/2025.

 

Prof. Dr. Hubert Meyer

Geschäftsführendes Präsidiumsmitglied des Niedersächsischen Landkreistages und Mitglied der Redaktion der NdsVBl.
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