09.03.2016

Umweltrechtliche Einheit in Vielfalt?

Föderalismusreform nach 10 Jahren: Konfusion statt Transparenz

Umweltrechtliche Einheit in Vielfalt?

Föderalismusreform nach 10 Jahren: Konfusion statt Transparenz

Mit der Wirkweise der konkurrierenden Gesetzgebung wurde das Gebot der Klarheit konterkariert. | © corbis_infinite - Fotolia
Mit der Wirkweise der konkurrierenden Gesetzgebung wurde das Gebot der Klarheit konterkariert. | © corbis_infinite - Fotolia

Das umweltrechtliche Ziel der Föderalismusreform war klar definiert. Durch die Neuordnung der Kompetenzen zwischen Bund und Ländern im Umweltrecht sollte der Weg für eine einheitliche Gesetzgebung in Deutschland geebnet werden. Daher packte die bundesdeutsche Legislative nach ausführlichen Beratungen die Gelegenheit beim Schopf und versuchte vor ziemlich genau 10 Jahren, die Bundesebene deutlich zu Lasten der Länder zu stärken. Wie dieser Versuch zu weiten Teilen gescheitert ist, soll der folgende Beitrag analysieren.

Ausgangspunkt: Zersplittertes Umweltrecht

Durch die Reform sollte das deutsche Recht „europarechtsanpassungsfähiger“ gemacht werden, wurzeln doch bis zu 80 – 90 % der Initiativen in Brüsseler Aktivitäten. Andererseits herrschte eine weitgehende Zersplitterung des deutschen Umweltrechts, nicht nur durch das Zusammenspiel im Föderalismus, sondern auch durch die verschiedensten Instrumente, welchen von Legislative und Exekutive zur Verfügung stehen: Völkerrechtliche Abkommen, EU-Richtlinien und Verordnungen, Bundesgesetze, Bundesverordnungen, Ländergesetze als Voll- oder Ausführungsregelungen, Länderverordnungen, technische Anweisungen. Sicherlich kann dieser Wirrwarr nicht durch einen einzigen Gesetzgebungsakt beseitigt werden. Dennoch war noch vor einem Jahrzehnt klar, dass ein deutsches Umweltgesetzbuch (UGB) ein bedeutender Schritt sein würde. Die rasche und einmalige Umsetzung von Europarecht war nur ein Aspekt unter mehreren. Auch der Abschluss von internationalen Übereinkommen zum Klimaschutz könnte effektiver umgesetzt werden. Nur wenige Stimmen äußerten offen die Befürchtung konkurrierender Umweltstandards in 16 verschiedenen deutschen Länderrechtsordnungen.

Die Rechtslage war bis dato eindeutig und gefestigt. Der Bund hatte auf bestimmten Gebieten die Rahmengesetzgebungskompetenz (Art. 75 GG a.F.). Dies galt insbesondere für die Bereiche Naturschutz und Wasserwirtschaft. Es oblag den Ländern, diesen Rahmen auszufüllen. Entscheidend für die Betrachtung ist die Abgrenzung zur konkurrierenden Gesetzgebung, die in der Folge der Reform nachhaltig gestärkt, aber auch verwässert wurde. War bei der Rahmengesetzgebung der Bund in seinen Befugnissen bereits der Bezeichnung nach limitiert, ist die Abgrenzung im Rahmen des Art. 72 GG deutlich komplizierter. Danach können die Länder gesetzgeberisch tätig werden, „solange und soweit der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit nicht durch Gesetz Gebrauch gemacht hat“. Die Erforderlichkeitsklausel ist im Laufe der Jahre mehrfach geändert worden. War es 1994 noch eine reine Bedürfnisprüfung, wurde die Anwendung durch die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung insofern eingeschränkt, als der Bundesspielraum derart verengt wurde, dass eine Reform unabwendbar schien. 2006 wurden daher im Zuge der Föderalismusreform zusätzliche Kriterien formuliert.


Kompromiss in Form einer gespaltenen konkurrierenden Gesetzgebung

Nunmehr lebt die Legislative mit einem Kompromiss in Form einer gespaltenen konkurrierenden Gesetzgebung, je nachdem, welche Rechtsmaterie betroffen ist. Nach Art. 72 Abs. 2 GG hat der Bund auf bestimmten Gebieten nur das Gesetzgebungsrecht, wenn und soweit die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich macht. Systematisch ist der Verweis von Art. 72 Abs. 2 GG auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 4, 7, 11, 13, 15, 19a, 20, 22, 25 und 26 GG sicherlich rechtstechnisch sauber, für den Rechtsanwender aber eine Herausforderung. Bei genauerem Hinsehen erscheinen die von Absatz 2 erfassten Bereiche fast beliebig: Hierzu gehören u. a. Teile des Ausländerrechts, die öffentliche Fürsorge, Ausbildungsbeihilfen oder die Überführung von Grund und Boden.

Komplettverwirrung mit Abweichungsmöglichkeit

Um die Verwirrung zu komplettieren, haben die Verfassungsgeber den Ländern für bestimmte Materien der konkurrierenden Zuständigkeit eine Abweichungsmöglichkeit zugesprochen, mit der Folge, dass jedes Bundesland nach seiner Façon von einer Vorschrift auf diesen Gebieten abweichen kann. „Hat der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit Gebrauch gemacht, können die Länder durch Gesetz hiervon abweichende Regelungen treffen“ (Art. 72 Abs. 3 GG), soweit eine der abschließend aufgeführten Regelungsbereiche tangiert wird: das Jagdrecht, der Naturschutz und die Landschaftspflege, die Bodenverteilung, die Raumordnung, der Wasserhaushalt und „eigentlich überhaupt nicht in diesen Kontext passend“ die Hochschulzulassung und die Hochschulabschlüsse. Im Extremfall führt die Abweichung zu sechzehn verschiedenen Landesvorschriften im Widerspruch zur ursprünglich verabschiedeten Bundesvorgabe. Bei der Umsetzung eines Abweichungsvorhabens sind die Landeslegislativorgane nicht unbedingt auf ein bestimmtes Instrumentarium angewiesen. Zwar besteht Einigkeit darüber, dass eine Abweichung nur durch ein formelles Gesetz erfolgen kann. Bei der Ausgestaltung in der Praxis haben sich aber zahlreiche kreative Varianten entwickelt. Teilweise wurden allgemein geforderte Regeln sogar missachtet, wie z. B. eine Veröffentlichung der Vorschriften, von denen abgewichen wird, im Bundesanzeiger. Für den Bereich des Naturschutzrechts versucht das Bundesamt für Naturschutz hier mit einer Rechtssammlung zu unterstützen. Dennoch stellt sich die gut gemeinte Freiheit der Bundesländer als Krux für umweltpolitische und umweltrechtliche Ziele dar.

Länderverfassungen im Bereich des Umweltrechts höchst unterschiedlich

Dem Ziel der Einheitlichkeit der Umweltgesetzgebung war zunächst eine verfassungsrechtliche Einschränkung zuträglich: Die Vorgabe von „abweichungsfesten Kernen“, von denen die Länder in keinem Fall abweichen dürfen, wie z. B. die Grundsätze des Naturschutzes. Letztlich war die Aufnahme von Abweichungsmöglichkeiten in das Grundgesetz nicht das Ergebnis rechtssetzender Vernunft, sondern vielmehr Ausdruck eines politischen Kompromisses, bei dem die Länder dem Bund eine Gegenleistung für den Verlust von Kompetenzen abgerungen haben.

Die Bundesländer selbst unterliegen bei ihrer legislativen Tätigkeit neben den bundesrechtlichen Vorgaben eigenen verfassungsrechtlichen Grundsätzen. Besonders im Bereich des Umweltrechts sind den Länderverfassungen höchst unterschiedliche Forderungen zu entnehmen. So widmet z. B. der Freistaat Thüringen der Natur und Umwelt einen eigenen Abschnitt (Abschnitt 4 der ThürVerf). Darin wird der Umweltschutz nicht nur in den Fokus des Allgemein-, sondern auch des Individualinteresses gehoben: „Der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen ist Aufgabe des Freistaats und seiner Bewohner“. Konkret wird auf die Schutzpflicht im Hinblick auf den Naturhaushalt und seiner Funktionstüchtigkeit, die heimischen Tier- und Pflanzenarten und die wertvollen Landschaften und Flächen verwiesen. Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Verfassungen der Bundesländer der föderalen Grundordnung unterworfen sind, die vorsieht, dass jegliches Länderrecht dem Bundesrecht nachrangig ist, unabhängig von der streitigen Tatsachen, ob es sich im verfassungsrechtlichen Kontext um einen Geltungs- oder Anwendungsvorrang handelt. Dies gilt insbesondere für die Interpretation der Staatszielbestimmung zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen, wie sie Art. 20a GG zu entnehmen ist.

Verbindliche Zuständigkeitszuteilung – eine juristische Herausforderung

Zusammenfassen lässt sich die konkurrierende Gesetzgebung daher wie folgt:

  • Regel: Die Länder haben die Gesetzgebungskompetenz, Art. 70 GG
  • Ausnahme: Der Bund hat im Rahmen seiner konkurrierenden Befugnisse von seiner Zuständigkeit Gebrauch gemacht, Art. 72 Abs. 2 GG
  • Spezialfall: Art. 74 Abs. 1 Nrn. …, wo der Bund nachweisen muss, dass die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich macht.
  • Ausnahme von Art. 72 Abs. 1 GG: Die Abweichungsmöglichkeiten der Länder vom Bundesrecht, Art. 72 Abs. 3 GG
  • Ausnahme: Abweichungsfeste Kerne, die das Grundgesetz im Einzelnen vorgibt.

Selbst für den geübten Juristen kann es eine Herausforderung sein, eine verbindliche Zuständigkeitszuteilung vorzunehmen. Dies zeigt sich beispielsweise daran, dass der Topos der Erforderlichkeit durch den Gesetzgeber und das Bundesverfassungsgericht durchaus unterschiedlich interpretiert wurde. Hiervon ausgehend hätte erwartet werden können, dass die deutsche Legislative mit der Ausgestaltung der grundgesetzlichen Kompetenzordnung mit größter Sensibilität umgeht. Das Gegenteil war der Fall. Es wurden 2006 neue unbestimmte Rechtsbegriffe kreiert („Wahrung der Rechts und Wirtschaftseinheit“ oder „allgemeine Grundsätze des Naturschutzes“), was selbstredend eine verfassungsrechtliche Diskussion befeuert.

Hat die Reform den Namen verdient?

Letztlich stellt sich bei dieser komplexen Ausgestaltung einer Rechtsanpassung die Frage, ob es sich wirklich um eine Reform handelt, und wenn ja, ob diese den Namen verdient hat. Föderalismus ist per se ein vielschichtiges System. Spricht man mehreren Ebenen Staatsqualität zu, was im internationalen Kontext trotz Fortschreiten dezentraler bzw. regionalisierter Strukturen nach wie vor die Ausnahme ist, so lebt ein diversifiziertes politisches Gemeinwesen von der Klarheit seines Aufbaus und der Abgrenzbarkeit seiner Kompetenzen. Bei der Rahmengesetzgebung schien das noch transparenter zu sein: Der Bund gibt mit einem bestimmten Spielraum und mit Grenzen die Grundsätze vor, die im Detail die Länder auszufüllen haben. Mit der im Zuge der Föderalismusreform neu geschaffenen Wirkweise der konkurrierenden Gesetzgebung wurde das Gebot der Klarheit verfassungsrechtlich konterkariert.

An welche konkreten Anforderungen die Abweichungsgesetzgebung geknüpft ist und wie die föderalistische Umsetzungspraxis nach der verfassungsändernden Reform konkret aussieht, bleibt einem Fortsetzungsbeitrag bei PUBLICUS vorbehalten.

 

Prof. Dr. Matthias Werner Schneider

Fachhochschule Schmalkalden
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