03.04.2025

Übereilte Gesetzgebung

Zur formellen Verfassungswidrigkeit der niedersächsischen Haushaltsgesetze 2023

Übereilte Gesetzgebung

Zur formellen Verfassungswidrigkeit der niedersächsischen Haushaltsgesetze 2023

Ein Beitrag aus »Niedersächsische Verwaltungsblätter« | © emmi - Fotolia / RBV
Ein Beitrag aus »Niedersächsische Verwaltungsblätter« | © emmi - Fotolia / RBV

Die Niedersächsische Verfassung und das in ihr enthaltene innerparlamentarische Übermaßverbot stellen zeitliche Anforderungen an eine ordnungsgemäße Gesetzesberatung.1 Auch wenn sich eine Mindestberatungsdauer nicht abstrakt bestimmen lässt,2 gebieten die Gewährleistungen des freien Mandats gem. Art. 12 NV und der Chancengleichheit aller Abgeordneten in Parlament und Öffentlichkeit gem. Art. 19 Abs. 2 Satz 1 NV der parlamentarischen Mehrheit dennoch, sämtlichen Abgeordneten im Gesetzgebungsverfahren hinlänglich Zeit zur Beratung der Gesetzesinitiativen einzuräumen. Dass das im Gesetzgebungsverfahren über das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2023 (nachfolgend: Nachtragsgesetz) und das dazugehörige Haushaltsbegleitgesetz (nachfolgend: Begleitgesetz) nicht der Fall war, soll dieser Aufsatz zeigen.

Das Gesetzgebungsverfahren zum Zweiten Nachtragshaushalt 2023

Der Niedersächsische Landtag verabschiedete mit Gesetz vom 03.05.2023 das Nachtrags- und das Begleitgesetz. Gegenstand des Nachtragshaushalts waren finanzielle Mehraufwendungen i. H. v. 776 Mio. €, von denen 472 Mio. € der Bewältigung des Fluchtgeschehens und der Entlastung der Kommunen dienen sollten. Unmittelbar erhielten die Kommunen insgesamt 362 Mio. €.

Das Gesetzgebungsverfahren begann mit der Übermittlung des Entwurfs des Nachtragsgesetzes der Landesregierung vom 02.03.2023 (Drs. 19/775 neu) und des Entwurfs des Begleitgesetzes der (die Landesregierung gemeinsam tragenden) Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vom 15.03.2023 (Drs. 19/881). Die erste Beratung fand am 22.03.2023 im Plenum statt. Die Abgeordneten beschlossen, die Gesetzesvorlagen an den federführenden Haushaltsausschuss sowie den mitberatenden Ausschuss für Rechts- und Verfassungsfragen zu überweisen. Das Begleitgesetz in seiner ursprünglichen Fassung umfasste dabei nur solche Gesetzesänderungen, die auf die zusätzlichen Mehrausgaben im Zusammenhang mit dem Nachtragsgesetz zurückzuführen waren. Die genannten Ausschüsse nahmen ihre Beratungen am 12.04.2023 auf.


Die erste Änderung des Entwurfs des Begleitgesetzes legten die Fraktion der SPD und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen am 19.04.2023 vor der 13. Sitzung des Haushaltsausschusses vor (Vorlage 2 zu Drs. 19/881). Noch während der Ausschusssitzung änderten die Fraktionen den Änderungsentwurf erneut (Vorlage 4 zu Drs. 19/881). Der Haushaltsausschuss hörte in seiner Sitzung am 19.04.2023 die kommunalen Spitzenverbände gem. Art. 57 Abs. 6 NV an, nahm eine mündliche Stellungnahme des Landesrechnungshofs entgegen und beriet die beiden Gesetzentwürfe in ihrer beim Landtag eingebrachten Fassung auf Grundlage der Vorlage 1 des Gesetzes- und Beratungsdienstes (GBD).

Einen Tag nach der Sitzung des Haushaltsausschusses, am 20.04.2023, verteilten die Fraktion der SPD und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen einen Änderungsvorschlag zum Entwurf des Nachtragsgesetzes (Vorlage 2 zu Drs. 19/775 neu). Die oppositionelle Fraktion der CDU legte am 21.04.2023 ebenfalls einen Änderungsvorschlag zum Entwurf des Begleitgesetzes (Vorlage 5 zu Drs. 19/881) sowie zum Entwurf des Nachtragsgesetzes (Vorlage 3 zu Drs. 19/775 neu) vor. Am 24.04.2023 schließlich änderten die Fraktion der SPD und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen den Entwurf des Begleitgesetzes zum vierten (Vorlage 6 zu Drs. 19/881) und den Entwurf des Nachtragsgesetzes zum dritten Mal (Vorlage 4 zu Drs. 19/775 neu). Am späten Nachmittag übermittelten die Fraktionen die neuen Vorlagen per E-Mail an die Ausschussmitglieder.

Vor der Beschlussfassung des Haushaltsausschusses nahm der GBD am 25.04.2023 zum – zu diesem Zeitpunkt – aktuellen Gesetzentwurf des Begleitgesetzes Stellung (Vorlage 7 zu Drs. 19/881). Die Vorlage des GBD erhielten die zuständigen Ausschüsse am 25.04.2023 um 15:45 Uhr. Am Tag der Beschlussfassung des Haushaltsausschusses, dem 26.04.2023, ging erst kurz vor Ende der Sitzung die vorab angekündigte ergänzende schriftliche Stellungnahme der kommunalen Spitzenverbände zu den nachträglichen Entwurfsänderungen ein (Vorlage 8 zu Drs. 19/881 und Vorlage 6 zu Drs. 19/775 neu). Die Fraktion der CDU beantragte daraufhin, zu diesem Zeitpunkt noch nicht über eine Beschlussempfehlung zu entscheiden und die Beschlussfassung des Landtags in das Juni-Plenum zu verschieben. Die Fraktion der SPD und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen lehnten den Antrag der Fraktion der CDU ab.

Nach Abschluss der Beratungen am 26.04.2023 empfahl der Haushaltsausschuss mit den Stimmen der Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Annahme der Änderungsvorschläge und Anmerkungen des GBD (Vorlage 7 zu Drs. 19/881 sowie Vorlage 5 zu Drs. 19/775 neu). Die Änderungsvorschläge der Fraktion der CDU (Vorlage 5 zu Drs. 19/881 und Vorlage 3 zu Drs. 19/775 neu) lehnte der Haushaltsausschuss mit den Stimmen der Ausschussmitglieder der regierungstragenden Fraktionen gegen die Stimmen der Ausschussmitglieder der Fraktion der CDU bei Enthaltung des Ausschussmitglieds der Fraktion der AfD ab.

Nach dem Abschluss der Ausschussberatungen legte die Fraktion der CDU mit Drucksache vom 28.04.2023, übermittelt am 02.05.2023, einen Änderungsantrag zum Entwurf des Begleitgesetzes vor. Der Landtag beriet über den Antrag in der Plenarsitzung am 03.05.2023. Er lehnte den Entwurf mit den Stimmen der regierungstragenden Fraktionen mehrheitlich ab. Stattdessen beschloss der Landtag das Nachtragsgesetz und das Begleitgesetz in der vom Haushaltsausschuss vorgeschlagenen Fassung.3 Am 09.05.2023 wurden die Gesetze im Gesetz- und Verordnungsblatt veröffentlicht.4

Anforderungen der Niedersächsischen Verfassung an die Beratungsdauer

Maßstab

In Niedersachsen muss es zum Schutz des freien Mandats eine Mindestberatungsdauer geben, die den Gestaltungsspielraum der Parlamentsmehrheit mit Blick auf den Ablauf des Gesetzgebungsverfahrens begrenzt, um eine hinreichende Ausübung des freien Mandats durch die einzelnen Abgeordneten zu ermöglichen.5 Art. 20 Abs. 1 NV, der den Ausschüssen die Vorbereitung der Beschlüsse aufträgt, und Art. 22 Abs. 1 Satz 1 NV, der eine öffentliche Verhandlung über Gesetzentwürfe vorsieht, verbinden Ausschuss- und Plenarberatung wie zwei kommunizierende Röhren: Je mehr Vorbereitung in den Ausschüssen stattgefunden hat, desto weniger Beratungsbedarf besteht im Plenum und desto eher ist die Abstimmung über einen entscheidungsreifen Gesetzentwurf möglich – und umgekehrt.

Die Parameter, auf die es nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts zur Bestimmung der Beratungszeit ankommen soll (Umfang, Komplexität, Dringlichkeit sowie Entscheidungsreife und weitere, die Arbeitsabläufe des Parlaments bestimmende Faktoren),6 lassen sich mithilfe der (landes-)verfassungsrechtlichen Maßgaben präzisieren. Keine Rolle spielt, wer den Gesetzentwurf eingebracht hat und welcher Materie der Entwurf zuzuordnen ist. Die einzige Ausnahme ist das Budgetrecht des Parlaments, gewissermaßen ein „Metarecht“, weil das Haushaltsgesetz als „Gesetz der Gesetze“ den Gestaltungsspielraum über die Vorgaben einzelner Fachgesetze hinaus bestimmt. Dass das Haushaltsrecht für das Parlament von besonderer Bedeutung ist, folgt landesverfassungsrechtlich insbesondere aus Art. 65 NV, der das Budgetrecht des Landtags als „Königsrecht des Parlaments“7 sichert.

Die Wahrung der Abgeordnetenrechte ist dementsprechend gerade bei Beschlüssen über haushaltsrechtliche Angelegenheiten von großer Wichtigkeit. Sind die finanziellen Möglichkeiten des Staates begrenzt, ist es umso wichtiger, dass der Gesetzgeber die knappen Mittel effizient verteilt und so Gestaltungsspielräume bewahrt („Gestaltungsspielraumerhaltung durch Budgetschonung“8). Seiner haushaltspolitischen Gesamtverantwortung kann der Gesetzgeber nur gerecht werden, wenn die Abgeordneten sich umfassend darüber informieren konnten, welche Konsequenzen ihre Entscheidung zeitigen wird.9 Hinzu kommt, dass die Entwürfe der Haushaltsgesetze nicht nur besonders umfangreich, sondern wegen der zahlreichen verschiedenen Haushaltstitel auch über die Maßen komplex sind. Allein deshalb, also nur aufgrund der Anwendung der andernorts wiedergegebenen, allgemein gefassten Kriterien, ist den zuständigen Ausschüssen und dem Plenum als solchem in Haushaltsfragen regelmäßig mehr Zeit zur Beratung zuzugestehen als bei anderen Materien.

Auch Haushaltsgesetze können dringend sein. Fälle besonderer Dringlichkeit sind nicht auf die herausgehobenen Beispiele der Krisengesetzgebung vergangener Jahre beschränkt.10 Muss das Parlament zwingend in kürzester Zeit reagieren, besteht ein sachlicher Grund für beschleunigt durchgeführte Beratungen, falls das beratene Gesetz dem Zweck dient, zur Krisenbewältigung beizutragen. Ein solches Verfahren kann indes nur den Ausnahmefall darstellen, schließlich erweist es sich als überdurchschnittlich fehleranfällig.11

Den gesamten Beitrag entnehmen Sie den NdsVBl. Heft 8/2024.

 

Univ.-Prof. Dr. Bernd J. Hartmann

Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, insb. Verwaltungsrecht, an der Universität Regensburg
 

Dipl. Jur. Simon Marx

War bis zum 31.12.2023 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am ISVWR und promoviert bei Professor Hartmann
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