29.04.2025

Bürgerfreundliche Sozialverwaltung

7. Speyerer Sozialrechtstage 2025 vom 17. und 18. März 2025

Bürgerfreundliche Sozialverwaltung

7. Speyerer Sozialrechtstage 2025 vom 17. und 18. März 2025

Keineswegs sind Leistungen der Sozialhilfe bei berechtigten Zweifeln an der Hilfebedürftigkeit ohne Weiteres einzustellen. © magele-picture - stock.adobe.com
Keineswegs sind Leistungen der Sozialhilfe bei berechtigten Zweifeln an der Hilfebedürftigkeit ohne Weiteres einzustellen. © magele-picture - stock.adobe.com

An die 70 Teilnehmende – sowohl in Präsenz als auch online – widmeten sich bei den 7. Speyerer Sozialrechtstagen am 17. und 18. März 2025 bei der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer dem Generalthema „Bürgerfreundliche Sozialverwaltung“. Zu dieser Thematik gab es insgesamt elf Referate, teils aus sozialwissenschaftlicher und teils aus juristischer Perspektive.

I. Nach der Begrüßung und Einführung von Prof. Dr. Constanze Janda, der Initiatorin und Leiterin der Tagung, referierte Prof. Dr. Anne van Rießen des Fachbereichs Sozial- und Kulturwissenschaften der Hochschule Düsseldorf, Fachgebiet Methoden Sozialer Arbeit, zum Thema „Nichtinanspruchnahme von Sozialleistungen – Ursachen und Lösungsansätze“. Im Anschluss daran folgte der Vortrag von Dr. Jasmin Schnitzer, Richterin am Sozialgericht Frankfurt/Main, derzeit abgeordnet ans Bundessozialgericht, mit dem Thema „Aufklärungs-, Beratungs- und Hinweispflichten der Sozialleistungsträger“. Der „Praxisbericht: Gelingende rechtskreisübergreifende Beratung im Sozialrecht“ von Marje Mülders, Leiterin der Bezirkssozialverwaltung Oberpfalz, beendete den ersten Teil der Veranstaltung.

Am Nachmittag des 17. März erläuterte Prof. Dr. Frederik Harbou von der Ernst-Abbe-Hochschule Jena das Thema „Amtsermittlung der Träger vs. Mitwirkungspflichten der Antragstellenden“, dessen Referat später exemplarisch in diesem Veranstaltungsbericht noch genauer dargestellt wird. Christiane Kranz und Claire Vogt des Referats „Lebensläufe und Grundsatzfragen“ im Fachbereich „Wohlfahrtspflege, Innovation und Politik“ vom Deutschen Caritasverband e. V. in Freiburg widmeten sich dem Thema „Behördliche Anforderungen und Mitwirkungspflichten: Ein Praxisbericht“ mit anschließender Diskussion aller Teilnehmenden.


Den Abschluss des ersten Tages der Veranstaltung bildeten der Vortrag von Michaela Blaha, Gründerin der IDEMA Gesellschaft für verständliche Sprache mbH, ein An-Institut der Ruhr-Universität Bochum, zum Thema „Verständliche Verwaltungssprache: Anspruch und Wirklichkeit“ sowie der Beitrag von Dr. Regine Schmalhorst, Geschäftsführerin des Bereichs „Förder- und Geldleistungen“ der Zentrale der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg, unter der Überschrift „Wertschätzende, verständliche und bürgernahe Sprache in einer modernen Verwaltung“, wiederum gefolgt von einer allgemeinen Diskussion.

Beispielhaft herausgegriffen sei die oben bereits erwähnte Gegenüberstellung der „Amtsermittlung der Träger vs. Mitwirkungspflichten der Antragstellenden“ von Prof. Dr. Frederik von Harbou, Professor für Rechtswissenschaft am Fachbereich Sozialwesen der Ernst-Abbe-Hochschule Jena.

1. Komplex aus Amtsermittlung, Beweis und Mitwirkung

Zu Beginn stellte Prof. von Harbou die Regelungen aus Amtsermittlung gem. § 20 SGB X, den Beweis nach § 21 SGB X und die Mitwirkung nach §§ 60 ff. SGB I dar. Der Grundsatz der Amtsermittlung nach § 20 SGB X umfasse eine objektive Untersuchung, auch für Beteiligte günstiger Umstände, sowie der Beweismittel nach Ermessen, § 21 SGB X. Jedoch seien im Sozialrecht im Vergleich zu sonstigem Verwaltungsrecht (vgl. § 26 Abs. 2 VwVfG) die Pflichten der Bürgerinnen und Bürger besonders ausgeprägt. Zur Begründung führte Prof. von Harbou das Leitbild des aktivierenden Sozialstaats an; Aus Solidarität der Gemeinschaft gegenüber dem Einzelnen folgt spiegelbildlich die Pflicht des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft (Gemeinschaftsbezogenheit der Person, Eichenhofer, Eberhard, Sozialrecht, 13. Aufl. 2024, Rn. 200-202; Sommer, Thomas, Die Mitwirkungspflichten des Leistungsberechtigten nach §§ 60 ff. SGB I, ZfSH/SGB 2010, S. 278).

2. Regelungen und Terminologisches

Die Regelungen der Mitwirkungspflichten beinhalten sowohl

a) allgemeine Mitwirkungspflichten gem. §§ 60 bis 64 SGB I, die bspw. die Angabe leistungserheblicher Tatsachen (auch Änderungen), die Vorlage erheblicher Beweismittel und die Duldung ärztlicher Untersuchungen umfassen, als auch

b) spezielle Mitwirkungspflichten, etwa nach §§ 56 bis 61 SGB II (Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Bürgergeld, Grundsicherung für Arbeitsuchende) oder nach § 7e AdVermiG (Adoptionsvermittlungsgesetz), sowie

c) präzise „Obliegenheiten“, weil ihre Verletzung „nur“ zu eigenem Rechtsnachteil führt (§ 66 SGB I) und die Erfüllung von Mitwirkungspflichten nicht mittels Verwaltungsakts selbständig durchsetzbar/einklagbar ist.

3. Grenzen der Mitwirkungspflichten

a) Sie liegen insb. in der Unzumutbarkeit und auch Unverhältnismäßigkeit nach § 65 SGB I. Gem. § 65 Abs. 1 SGB I bestehen die Mitwirkungspflichten nicht, wenn sie nicht erforderlich, angemessen oder zumutbar sind. Außerdem können sie nach § 65 Abs. 2 SGB I abgelehnt werden, wenn das Risiko von Gesundheitsschäden oder erheblichen Schmerzen besteht. Angaben können darüber hinaus nach § 65 Abs. 3 SGB I auch verweigert werden bei Gefahr von Strafverfolgung.

b) Allerdings besteht die Vorlagepflicht von Kontoauszügen bei SGB II-Leistungsbezug unabhängig von einem konkreten Betrugsverdacht. Diese Vorlagepflicht ist weder unzumutbar noch unangemessen; Jedoch sind Schwärzungen auf der Ausgabenseite des Kontoauszugs möglich, zum Schutz von Sozialdaten nach §§ 67 ff. SGB X (BSG, Urteil vom 19.2.2009 – B 4 AS 10/08 R).

c) Aus der Mitwirkungspflicht „erwächst jedoch keine Ermittlungspflicht des Antragstellers bzw. Leistungsempfängers. Die Auskunftspflicht erstreckt sich vielmehr nur auf die Tatsachen, die ihm selbst bekannt sind. Die Behörde kann von ihm dagegen nicht verlangen, Beweismittel – etwa Nachweise über Einkommensverhältnisse – von einem privaten Dritten zu beschaffen und ihr vorzulegen“ (BSGE 72, 118). „In der Nichtvorlage einer Beweisurkunde liegt noch keine Pflichtverletzung, wenn der Antragsteller die Urkunde gar nicht in Händen hat“ (BVerwG, Beschluss vom 11.2.2009 – 3 PKH 1.09, Rz. 6).

d) Ein voreiliges „Abladen“ der Aufklärungspflicht scheidet nach einer Entscheidung des SG Berlin ebenfalls aus:

„Keineswegs sind Leistungen der Sozialhilfe bei berechtigten Zweifeln an der Hilfebedürftigkeit ohne Weiteres einzustellen. Die Behörde verkennt, dass sie sich nicht in bloßen Vermutungen zu ergehen hat, sondern grundsätzlich den Sachverhalt von Amts wegen gemäß § 20 SGB X aufzuklären hat. Der Leistungsberechtigte bzw. Antragsteller kann allerdings bei der Ermittlung des Sachverhaltes herangezogen werden und ggf. gemäß § 66 SGB I auch sanktioniert werden, wenn er der Mitwirkungspflicht nicht ausreichend nachkommt. Entsprechend dem Verfahren gemäß §§ 60 ff. SGB I ist die Behörde aber nicht ansatzweise vorgegangen. “ (SG Berlin, Beschluss v. 23.11.2005, S 88 AY 335/05; Schaumberg, Torsten, Sozialrecht, 4. Aufl. 2023, S. 235).

4. Spezialproblem: Hausbesuche

a) In der Praxis gibt es Hausbesuche insb. im SGB II-Bereich zur Überprüfung des Vorliegens einer Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft sowie der Erforderlichkeit einer (Baby-)Erstausstattung. Entgegen früher vertretener Meinung besteht hier keine Mitwirkungspflicht; früher gab es die Konstruktion über die Mitverantwortung zur Sachverhaltsaufklärung, § 21 Abs. 2 SGB X. Hausbesuche sind eine Form der Augenscheinnahme nach § 21 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB X (Mrozynski, Peter, SGB I, Kommentar, 7. Aufl. 2024, § 60, Rn. 12; Frings, Dorothee, Sozialrecht für die Soziale Arbeit, 3. Aufl. 2015, S. 62 f.; Thomé, Harald, Leitfaden SGB II/SGB XII, 32. Aufl. 2023, S. 429 ff.).

b) Dies wird in der Praxis über die Regeln der Beweislast gelöst: „Wer Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende beantragt, [trägt] die Folgen einer objektiven Beweislosigkeit“ (BSG, Urteil v. 19.2.2009 – B 4 AS 10/08 R). Selbst für anspruchshindernde bzw. -vernichtende Tatsachen kann es zur Verlagerung der Beweislast kommen, wenn der private Bereich des Leistungsempfängers betroffen ist.

c) These: Hausbesuche jedenfalls ohne Parlamentsgesetz sind rechtswidrig.

Nach der Wesentlichkeitstheorie ist die Erwähnung von Außendiensten in § 6 SGB II nicht ausreichend für Hausbesuche; Argument ist die Grundrechtsrelevanz nach Art. 13 GG (Unverletzlichkeit der Wohnung); betrifft auch status positivus.

5. Fazit von Prof. Dr. von Harbou:

a) Grundsätzlich erscheinen Mitwirkungspflichten als Kehrseite der Solidarität legitim.

b) Die Verwaltung darf sich unter Berufung auf sie aber nicht ihrer Pflicht zur umfassenden Sachverhaltsaufklärung entledigen (keine Ermittlungspflicht der Bürgerinnen und Bürger).

c) Hausbesuche im SGB II-Bereich sind mangels ausreichend konkreter Rechtsgrundlage rechtswidrig.

II. Den zweiten und abschließenden Tag der Veranstaltung am 18. März läutete Prof. Dr. Dirk Bieresborn, Richter am Bundessozialgericht und Datenschutzbeauftragter, mit seinem Vortrag „Der digitale Sozialstaat: Datenschutz als Hindernis?“ ein. Im Anschluss daran gab Dr. Florian Theißing von der Agora Digitale Transformation, Berlin, in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Caritasverband zum gleichen Thema seinen Praxisbericht „Den digitalen Sozialstaat nutzendenorientiert gestalten“. Danach lieferte Maximilian Nagel von Deloitte Consulting Germany seine Sicht zum Thema „Vereinfachung des Sozialrechts – ein Weg aus der ´Komplexitätsfalle´?“, bevor Dr. Gesa Schirrmacher, Leiterin der Abteilung „Soziales, Pflege und Psychiatrie“ des Niedersächsischen Ministeriums für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Gleichstellung in Hannover, die informative und gelungene Tagung mit ihrem Beitrag „Aktuelle Vorhaben zur Verbesserung der Bürgerfreundlichkeit des Sozialstaats“ beendete.

 
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