Feministische Perspektiven in der juristischen Ausbildung
Ungleichbehandlung im Jurastudium
Feministische Perspektiven in der juristischen Ausbildung
Ungleichbehandlung im Jurastudium

Obwohl mehr Frauen als Männer Jura studieren, ist die juristische Ausbildung weiterhin geprägt von einer tradierten geschlechtlichen Ungleichbehandlung.
„Und Sie denken, Sie könnten diese Prüfung beim ersten Mal bestehen, obwohl Sie es sich erlaubt haben, zwischenzeitlich ein Kind zu bekommen?“ Das war die Einstiegsfrage des Prüfers in die mündliche Prüfung zum zweiten Staatsexamen an meine Mutter. Mein Vater wurde das nicht gefragt.
Auch wenn die mündliche Prüfung meiner Mama mittlerweile über 20 Jahre zurückliegt, haben sich die Strukturen im Recht sowie in der rechtswissenschaftlichen Ausbildung kaum verändert. Noch immer ist die juristische Wissenschaft eine Männerdomäne, obwohl mittlerweile mehr Frauen den Studiengang absolvieren.1Wie viele Jura-Studierende und -Absolventen gibt es in Deutschland?, 2023, online abrufbar unter: https://www.lto.de/karriere/jura-studium/wieviel-jurastudierende-gibt-es-in-deutschland [zuletzt abgerufen am 27.01.2025]. Noch immer ist die Hausfrau O das Opfer und T der Täter in strafrechtlichen Sachverhalten und noch immer privilegiert das Heimtückemerkmal die körperliche Überlegenheit und patriarchale Vorstellungen von Männern, ohne zu einem Zeitpunkt in der juristischen Ausbildung hinterfragt zu werden. Im Zuge der juristischen Ausbildung gibt es zwei Oberpunkte, bei denen die geschlechtliche Ungleichbehandlung Studierende unmittelbar betrifft: zum einen die institutionellen und strukturellen Geschlechterunterschiede im System des Jurastudiums und zum anderen die sich aus dem materiellen Recht ergebenden Geschlechterunterschiede und der damit einhergehende Umgang in der Lehre.
Geschlechterunterschiede in der staatlichen Prüfung
Von 2006 bis 2016 wurde die Benotung in der ersten sowie in der zweiten juristischen Prüfung in Nordrhein-Westfalen statistisch aufbereitet und diversen empirischen Untersuchungen unterzogen, auch in Bezug auf das Merkmal des Geschlechts.2Glöckner/Towfigh/Traxler, Empirische Untersuchung zur Benotung in der staatlichen Pflichtfachprüfung und in der zweiten juristischen Staatsprüfung in Nordrhein-Westfalen von 2006 bis 2016, 2017, online abrufbar unter: https://www.justiz.nrw/JM/justizpol_themen/juristenausbildung/archiv/benotung_staatliche_juristische_pruefungen/180331-v_fin-Abschlussbericht-korr1.pdf [zuletzt abgerufen am 27.01.2025]. Hierbei wurde festgestellt, dass Frauen trotz gleicher Voraussetzung, d.h. gleicher Abiturnote und ggf. gleicher erster Examensnote, schlechter im staatlichen Teil beider Examina abschneiden als Männer. Den universitären Teil des ersten Staatsexamens absolvierten Frauen dagegen mit gleichen oder minimal besseren Noten als ihre männlichen Kommilitonen. Aus dieser Beobachtung muss geschlussfolgert werden, dass es eine geschlechtsbezogene Ungleichbehandlung im staatlichen Teil der ersten Prüfung geben muss.
Diese Negativabweichung ist gerade in den mündlichen Prüfungen stärker ausgeprägt. Bei Frauen besteht in der mündlichen Prüfung für die durchschnittliche Vornote im schriftlichen Teil eine signifikant geringere Wahrscheinlichkeit, die nächste Notenschwelle zu erreichen, als bei Männern. Diese Geschlechtsunterschiede sind bei den Schwellenwerten 9,0 und 11,5 stärker ausgeprägt. In einer rein männlich besetzten Prüfungskommission ist der geschlechtliche Benotungsunterschied deutlich ersichtlich; gleichzeitig kann der Notenunterschied statistisch nicht mehr nachgewiesen werden, sobald eine Frau Teil der Prüfungskommission ist.
Prüfungskommissionen verpflichtend mit mindestens einer Frau
Eine naheliegende Maßnahme, die ohne größere Kosten effektiv den Notenunterschied zumindest in den mündlichen Prüfungen beseitigt, ist eine diverse Besetzung von Prüfungskommissionen. Divers soll in diesem Kontext bedeuten, dass in der mit drei Prüfenden besetzten Prüfungskommission zumindest eine Frau verpflichtend teilnehmen muss. Da allerdings wesentlich mehr Männer in den Staatsexamina prüfen und es daher problematisch ist, für jede mündliche Prüfung eine weibliche Prüferin zu organisieren, ist dieser Vorschlag nicht so einfach umzusetzen.
Das Argument des Kapazitätenmangels erscheint im Vergleich zu der großen Bedeutung der mündlichen Prüfung für weibliche Prüflinge schlecht nachvollziehbar. Obwohl statistisch nachgewiesen ist, dass Frauen bei einer ausschließlich mit männlichen Prüfern besetzten Prüfungskommission schlechter abschneiden, fordern die Verantwortlichen – statt sich um die Organisation von Prüferinnen zu bemühen – von weibli chen Prüflingen die Akzeptanz einer schlechteren Note. Um den Interessen der weiblichen Prüflinge und den Bedenken der Prüfungsämter gerecht zu werden, muss zumindest in Betracht gezogen werden, eine diverse Besetzung der Prüfungskommission verpflichtend zu machen, wenn ein weiblicher Prüfling an der Prüfung teilnimmt.
Mit solch einer Maßnahme würde man lediglich ein Symptom bekämpfen, jedoch nicht der geschlechtlichen Ungleichbehandlung im gesamten staatlichen Teil entgegenwirken. Daraus resultierend bedarf es bei der Bekämpfung der festgestellten Leistungsunterschiede mehrerer Maßnahmen, die sich auf lange Sicht vorrangig mit der Ursache auseinandersetzen. Zur Entwicklung solcher Mittel bedarf es daher zunächst dringend einer Studie, welche die Ursache der festgestellten Diskriminierung untersucht. Mit einer solchen empirischen Datengrundlage kann anschließend gezielt gegen die Ungleichheiten vorgegangen und in der Folge der Leistungsunterschied bekämpft werden.
Sexistische Lehrmaterialien
Fallbeispiele spielen in der juristischen Ausbildung eine zentrale Rolle. Anhand fiktiver Sachverhalte lernen die Studierenden Fälle in den verschiedenen Rechtsgebieten kennen und müssen die entsprechenden Rechtsnormen anwenden. Die Fallbeispiele werden in der Regel von den Lehrpersonen an den Hochschulen erstellt und zur Bearbeitung zur Verfügung gestellt – eine inhaltliche Kontrolle gibt es nicht.
Die Darstellung von Frauen ist dabei oft klischeebehaftet, wenn sie überhaupt in Sachverhalten vorkommen. So analysierte eine Studie, die sich mit Übungsfällen der Hamburger Universität und der Bucerius Law School auseinandersetzte, dass Frauen lediglich zu 18 Prozent in juristischen Sachverhalten auftauchen. Die wenigen Frauen werden dann zu 46 Prozent über die Beziehung zu einem Mann definiert. Den eigenständigen Handlungen von Frauen und auch ihrer eigenen Berufstätigkeit kommt dabei wenig Bedeutung zu. Ebenfalls kritisch zu betrachten ist die weiterhin selten genutzte Verwendung geschlechtergerechter Sprache.3Valentiner/Bilawa/Beeck et al., (Geschlechter)Rollenstereotype in juristischen Ausbildungsfällen, Eine hamburgische Studie, Universität Hamburg, 2017, online abrufbar unter: https://www.uni-hamburg.de/gleichstellung/download/studie-rollenstereotypen-geschlechterforschung-1.pdf [zuletzt abgerufen am 28.01.2025].
Auf diesen Missstand macht auch der Instagram-Account @ueblenachlese des Deutschen Juristinnenbundes e.V. (djb) aufmerksam. Der djb ist ein ehrenamtlicher Zusammenschluss von Juristinnen, der rechts- und sozialpolitische Forderungen erarbeitet und sich mit vielfältigen gleichstellungspolitisch relevanten Themen befasst. Mit diesem Account wird Studierenden die Möglichkeit geboten, problematische Sachverhalte weiterzuleiten. Der Arbeitsstab „Ausbildung und Berufseinstieg“ des djb stellt eingereichte Sachverhalte auf seinem Account vor, hinterfragt diese kritisch und macht Vorschläge für eine diskriminierungsfreie Alternative des Fallbeispiels.
Damit übernimmt dieser Social-Media-Account die Aufgabe, die eigentlich die Antidiskriminierungsstellen an Hochschulen abdecken sollten. An einigen wenigen juristischen Fakultäten und Fachbereichen gibt es sogar unabhängige Anlaufstellen, die sich ausschließlich mit der Diskriminierung in Sachverhalten beschäftigen. Als Positivbeispiel ist die Sachverhaltsmeldestelle der Universität Münster zu nennen.4Meldestellen für diskriminierende Sachverhalte, Website der Universität Münster, online abrufbar unter: https://www.jura.uni-muenster.de/de/fakultaet/gleichstellung/meldesystem-fuer-diskrimierende-sachverhalte [zuletzt abgerufen am 28.01.2025]. Dort können Studierende anonym Sachverhalte hochladen, die an die Gleichstellungsbeauftragten weitergeleitet werden. Sollte ein Sachverhalt nach einer Prüfung als diskriminierend eingestuft werden, können weitere Maßnahmen, wie die Anpassung oder das Verwerfen des Sachverhalts, sowie eine Besprechung mit der Lehrperson erfolgen. Bei solchen Meldestellen handelt es sich um ein effektives Mittel, um Diskriminierung im juristischen Ausbildungsmaterial nachhaltig zu bewältigen, weshalb ein flächendeckendes Angebot an den juristischen Fakultäten und Fachbereichen des Landes notwendig ist. Dabei könnte der Aufgabenbereich der Gleichstellungsbeauftragten oder des Gleichstellungsteams um die kritische Aufarbeitung von Sachverhalten erweitert oder eine überregionale Stelle geschaffen werden.
Umgang mit Geschlechterunterschieden in der juristischen Ausbildung
Innerhalb meiner gesamten, mittlerweile drei Jahre dauernden Studienzeit wurde ich kein einziges Mal auf geschlechtliche Diskriminierung im materiellen Recht aufmerksam gemacht. Dabei ist es angesichts der erst seit einigen Jahren aufbrechenden patriarchalen Strukturen nur logisch, dass es diese geben muss. Ein gesellschaftliches Konstrukt, wie das jahrtausendalte Patriarchat, kann nicht von heute auf morgen aus den Köpfen der Menschen und schon gar nicht aus dem Gesetz verschwinden. Beispiele für rechtliche Ungleichbehandlung sind das Familienrecht, gerade in Bezug auf das Abstammungsrecht und die Leihmutterschaft, das Arbeits- und Steuerrecht und das Strafrecht, gerade bei Sexual- und Tötungsdelikten.
Ein auch für juristische Laien recht greifbares Beispiel ist der „Mordparagraf“ § 211 StGB. Hiernach ist Mörder, wer einen Menschen tötet und mindestens eins der neun Mordmerkmale erfüllt. In Abgrenzung zum Totschlag aus § 212 StGB wird der Mörder anstatt mit einer bis zu 15-jährigen mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft. Soweit ein Mordmerkmal erfüllt ist, ist die Tötung des Menschen mithin so verwerflich, dass eine wesentlich höhere Strafe gerechtfertigt ist.
Mit Blick auf die geschlechtliche Ungleichbehandlung im Recht ist im Strafrecht besonders das Heimtücke-Merkmal von Relevanz. Mit diesem Mordmerkmal soll, vereinfacht gesagt, besonders bestraft werden, wer die Unkenntnis des Opfers bezüglich des Angriffs bewusst ausnutzt. Die erhöhte Verwerflichkeit im Vergleich zum Totschlag begründet sich in der besonderen Gefährlichkeit für das Opfer, da es vom Täter in einer hilflosen Lage überrascht und so gehindert wird, sich zu wehren.
Indem die Frau angesichts ihrer in der Regel körperlichen Unterlegenheit häufig darauf angewiesen ist, ein Momentum der Arglosigkeit auszunutzen, ist dieses Mordmerkmal bei Tötungsdelikten durch Frauen meistens erfüllt. Im Gegensatz hierzu erfüllen Tötungen von Männern oft kein Mordmerkmal, trotz ähnlichen Unrechtsgehalts. Dies lässt sich nicht nur mit der körperlichen Überlegenheit, sondern besonders mit der strukturellen gesellschaftlichen Unterdrückung von Frauen begründen.5Symbolhafte Strafschärfungen statt effektiver Bekämpfung geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt, djb, 2024, online abrufbar unter: https://www.djb.de/presse/pressemitteilungen/detail/pm24-57 [zuletzt abgerufen am 28.01.2025]. Im Ergebnis werden hierdurch sogenannte Femizide, also Tötungen von Frauen aufgrund ihres Geschlechts, nicht hinreichend vom aktuellen Recht berücksichtigt und Männer privilegiert.
Obwohl es sich beim Mord um die stärkste Bestrafung handelt, die das deutsche Recht vorsieht, und somit eine fortwährende Auseinandersetzung hiermit erforderlich ist, wird dieses Mordmerkmal unhinterfragt in Hörsälen gelehrt. Dabei ist ein stetiges kritisches Hinterfragen von bestehendem Recht unabdingbar.
Zum einen hilft es, Recht anzuwenden, wenn man den Ursprung der Norm versteht. Dies erleichtert nicht nur die Herleitung von Streitständen im Studium, sondern auch die Schaffung eines Systemverständnisses zwischen den einzelnen Rechtsgebieten. Zum anderen muss es Teil der juristischen Ausbildung sein, Recht kritisch hinterfragen zu können, um den Kern der Juristerei zu treffen, nämlich Recht auch gerecht anwenden und verändern zu können. Das Wahrnehmen der Wandlung gesellschaftlicher Strukturen und die notwendige damit einhergehende Änderung von Recht ist daher die Grundlage demokratisch resilienter Jurist:innen.
Um eine kritischere Auseinandersetzung mit Recht im Studium zu ermöglichen, sollte zunächst Raum für kritisches Arbeiten geschaffen werden. Dies könnte durch alternative Lehrmethoden erreicht werden. Beispielsweise könnten Ringvorlesungen, wie im letzten Semester an der Universität Hannover unter dem Titel „Recht – kritisch“, gehalten oder alternative Prüfungsleistungen, wie das Schreiben einer Urteilsrezension, in das Studium integriert werden.
Fazit
Die geschlechterspezifische Ungleichbehandlung ist für Studentinnen gleichzeitig an- und abwesend. Anwesend, weil der Sexismus im Lehrmaterial uns das gesamte Studium begleitet und unsere Leistungen zum Abschluss dieser Zeit schlechter bewertet werden als die unserer männlichen Kommilitonen. Gleichzeitig haben wir uns als Frauen aufgrund unserer Gesellschaft, des Alltags und der fehlenden Aufarbeitung patriarchaler Strukturen im materiellen Recht sowie des „Systems“ Jurastudium so an die Ungleichbehandlungen gewöhnt, dass sie für uns abwesend erscheinen. Es muss noch viel getan werden, aber die beginnende Aufarbeitung sowie die vielseitigen Lösungsvorschläge machen Hoffnung, dass sich endlich etwas nachhaltig verändern wird.
Entnommen aus Recht Reloaded 1/2025, S. 8.
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- 1Wie viele Jura-Studierende und -Absolventen gibt es in Deutschland?, 2023, online abrufbar unter: https://www.lto.de/karriere/jura-studium/wieviel-jurastudierende-gibt-es-in-deutschland [zuletzt abgerufen am 27.01.2025].
- 2Glöckner/Towfigh/Traxler, Empirische Untersuchung zur Benotung in der staatlichen Pflichtfachprüfung und in der zweiten juristischen Staatsprüfung in Nordrhein-Westfalen von 2006 bis 2016, 2017, online abrufbar unter: https://www.justiz.nrw/JM/justizpol_themen/juristenausbildung/archiv/benotung_staatliche_juristische_pruefungen/180331-v_fin-Abschlussbericht-korr1.pdf [zuletzt abgerufen am 27.01.2025].
- 3Valentiner/Bilawa/Beeck et al., (Geschlechter)Rollenstereotype in juristischen Ausbildungsfällen, Eine hamburgische Studie, Universität Hamburg, 2017, online abrufbar unter: https://www.uni-hamburg.de/gleichstellung/download/studie-rollenstereotypen-geschlechterforschung-1.pdf [zuletzt abgerufen am 28.01.2025].
- 4Meldestellen für diskriminierende Sachverhalte, Website der Universität Münster, online abrufbar unter: https://www.jura.uni-muenster.de/de/fakultaet/gleichstellung/meldesystem-fuer-diskrimierende-sachverhalte [zuletzt abgerufen am 28.01.2025].
- 5Symbolhafte Strafschärfungen statt effektiver Bekämpfung geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt, djb, 2024, online abrufbar unter: https://www.djb.de/presse/pressemitteilungen/detail/pm24-57 [zuletzt abgerufen am 28.01.2025].