15.02.2015

Possenspiel um kirchliche Deutungshoheit

Das BVerfG verwirrt mit Beschluss zum Arbeitsrecht in Tendenzbetrieben

Possenspiel um kirchliche Deutungshoheit

Das BVerfG verwirrt mit Beschluss zum Arbeitsrecht in Tendenzbetrieben

Die Frage muss erlaubt sein: Was hat sich das Bundesverfassungsgericht dabei gedacht?|© fotomek - Fotolia
Die Frage muss erlaubt sein: Was hat sich das Bundesverfassungsgericht dabei gedacht?|© fotomek - Fotolia

Traditionell ist das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften in Deutschland qua verfassungsrechtlicher Garantie stark ausgeprägt. Dieses kirchliche Selbstbestimmungsrecht umfasst alle Maßnahmen, die der Sicherstellung der religiösen Dimensionen des Wirkens im Sinne des jeweiligen kirchlichen Selbstverständnisses und der Wahrung der unmittelbaren Beziehung der Tätigkeit zum kirchlichen Grundauftrag dienen. Ebenfalls traditionell entscheiden die deutschen Arbeitsgerichte, dass Loyalitätsobliegenheiten kirchlicher Arbeitnehmer am kirchlichen Selbstverständnis und dem Erhalt der Integrität der Dienstgemeinschaft und Glaubwürdigkeit des Verkündigungsauftrags der Kirchen in der Öffentlichkeit zu messen sind. Deshalb führen diese Abwägungsprozesse dazu, dass die Abwägung zwischen kirchlichem Selbstverständnis und den betroffenen Grundrechten der Arbeitnehmer ein starkes Gewicht der Argumente der kirchlichen Arbeitgeber ergibt.

Abschichtung der Loyalitätspflichten

Ab Mitte der siebziger Jahre versuchte das BAG die Loyalitätsobliegenheiten neu zu interpretieren und eine Abschichtung zwischen hohen Loyalitätspflichten bei Tätigkeiten in direktem Zusammenhang mit dem kirchlichen Verkündigungsauftrag und minder ausgeprägten Loyalitätspflichten bei verkündigungsferneren Tätigkeiten vorzunehmen. Hier hatte das BVerfG in seinem Beschluss vom 04. 06. 1985 festgestellt, dass diese arbeitsgerichtliche Rechtsprechung gegen das kirchliche Selbstbestimmungsrecht aus Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 WV verstoße, weil das BAG sich in innerkirchlichen Angelegenheiten eine Einschätzungsprärogative und Überprüfungsmöglichkeit anmaße, die ihm nicht zustehe. Nach diesem Beschluss versank das Arbeitsrecht der Tendenzbetriebe in Deutschland für Jahrzehnte in beharrlich geübter Tradition.

Vor allem durch die differenzierte Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, EGMR, im Falle des gekündigten Kirchenorganisten Schüth vom 23. 09. 2010, kam wieder Bewegung in die Sache. Der EGMR forderte eine umfassende Abwägung der Rechtspositionen des kirchlichen Arbeitgebers mit den berechtigten Belangen des Arbeitnehmers vor dem Hintergrund der konventionsrechtlichen Garantien der Europäischen Menschenrechtskonvention, EMRK, die auch nach Auffassung des BVerfG ‚als Auslegungshilfe bei der Auslegung der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze des GG heranzuziehen sind, indem ihre Wertungen schonend in das vorhandene dogmatisch ausdifferenzierte nationale Rechtssystem eingepasst werden’.


Der Fall Schüth

Der Arbeitsrechtsstreit, der dem aktuellen Beschluss zugrunde liegt, erinnert in seiner Struktur an den Fall Schüth. Der Chefarzt eines Krankenhauses in kirchlicher Trägerschaft entschloss sich nach der Scheidung von seiner Ehefrau zu einer Wiederheirat. Er suchte das Gespräch mit der Kirche und leitete ein Verfahren zur Annullierung seiner Erstehe vor der zuständigen kirchlichen Instanz ein. Der kirchliche Arbeitgeber kündigte dem Chefarzt. Dessen Klage hatte in allen arbeitsgerichtlichen Instanzen Erfolg.

Ermutigt durch das Schüth-Urteil des EGMR und seinen umfassenden Abwägungskriterien, kamen die Instanzen der deutschen Arbeitsgerichtsbarkeit mit jeweils moderat abweichender Argumentation zu dem Ergebnis, der Kläger verstoße zwar mit seiner Wiederverheiratung gegen seine Loyalitätsobliegenheiten aus Arbeitsvertrag und kirchlicher Grundordnung, aber eine Gesamtschau der Abwägung der beiderseitigen Interessen führe zu dem Ergebnis, dass dem Arbeitgeber die Fortführung des Arbeitsverhältnisses zumutbar sei. Zwar messe die katholische Kirche der Unauflöslichkeit der Ehe einen überragenden Stellenwert bei, der für alle Mitarbeiter verpflichtend sei, andererseits weiche der Arbeitgeber den Grundsatz selbst auf, indem er Chefärzte beschäftige, die nicht katholisch seien oder eine zweite Ehe eingegangen seien, ohne gekündigt worden zu sein. Zudem laufe das kirchliche Annullierungsverfahren der Erstehe noch und der Arbeitgeber habe trotz Kenntnis auch nicht reagiert, als der Kläger ehelos mit seiner jetzigen Frau zusammenlebte. Hier verhalte sich der Arbeitgeber auch in der Öffentlichkeit widersprüchlich und lasse erkennen, dass bestimmte Loyalitätspflichten nicht zwingend und in jedem Fall eingehalten werden müssten. Zudem fließe zugunsten des Klägers in die Abwägung ein, dass er unter Berufung auf Art. 8 und 12 EMRK den Wusch habe, in einer bürgerlichen Ehe mit seiner jetzigen Frau zu leben. Die dadurch entstehende Verletzung religiöser Pflichten habe der Kläger auch nicht aus einer ablehnenden oder gleichgültigen Haltung gegenüber der Kirche getroffen, sondern er respektiere auch in der Öffentlichkeit die Maßgaben und Leitlinien der kirchlichen Sittenlehre. Dies dürfe allerdings nicht dazu führen, dass er zu einer andauernden Ehelosigkeit gezwungen werde.

Der Beschluss des BVerfG

Da BVerfG ‚pfiff’ auf die Verfassungsbeschwerde des kirchlichen Arbeitgebers die Arbeitsgerichte durch den Beschluss vom 22. 10. 2014 mit den Worten zurück, sie hätten ‚in ihren Entscheidungen die Tragweite des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts und des Rechts auf freie Religionsausübung verkannt’. Unter Verweis auf die Grundsatzentscheidung des BVerfG aus dem Jahr 1985 gelte nach wie vor, dass ‚nach den Grundsätzen des deutschen Religionsverfassungs- und Staatskirchenrechts staatliche Gerichte nicht bewerten dürften, ob ein bestimmtes Verhalten tatsächlich von der jeweiligen Religion gefordert werde oder nicht. Allein die Kirchen selbst könnten bestimmen, was die jeweilige Glaubensüberzeugung gebiete’.

Hoch interessant werden die Ausführungen des BVerfG, wenn es konstatiert, ‚eine andere Bewertung sei auch nicht vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des EGMR geboten’. Richtig ist sicher, dass der EGMR anerkennt, dass ein staatlicher Rechtsweg zur Überprüfung rein innerkirchlicher Angelegenheiten in Deutschland nicht besteht und dies auch mit Art. 6 EMRK vereinbar sei. Schwammig und zugleich dürr werden die Anmerkungen des BVerfG zum Schüth-Urteil des EGMR, der im dortigen Fall die Konventionswidrigkeit der deutschen Arbeitsgerichtsrechtsprechung rügte. Der EGMR habe lediglich eine unzureichende Abwägung der gegensätzlichen Positionen festgestellt, aber keineswegs ‚eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Loyalitätsanforderungen oder gar deren volle gerichtliche Kontrolle angemahnt’, meint das BVerfG.

Stellungnahme der Präsidentin des BAG

Eine dezidiert andere Auffassung als das BVerfG vertritt die Präsidentin des BAG in ihrer Stellungnahme zur Verfassungsbeschwerde. Sie argumentiert, das BAG habe verfassungsrechtlich unbedenklich und ‚unter Orientierung an der Rechtsprechung des EGMR das kirchliche Selbstbestimmungsrecht angemessen berücksichtigt’. Kirchliche Autonomie und verfasste Loyalitätspflichten müssten sich eine Kontrastierung mit den entgegenstehenden Grund- und Menschenrechten der kirchlichen Arbeitnehmer gefallen lassen. Die kirchliche Einschätzungprärogative, was wesentliche Grundsätze der Glaubens- und Sittenlehre seien und wie Verstöße gewichtet werden müssten, bedürften mit Blick auf kollidierende Verfassungspositionen betroffener Arbeitnehmer einer Relativierung, die sich durch die Gesamtschau des vom EGMR entwickelten Kriterienkatalogs bei der umfassenden Abwägung der Interessen ergeben kann. Es könne nicht gleichgültig sein, wie das konkrete Arbeitsverhältnis durch den religiösen Auftrag und Glauben geprägt sei oder nicht, wie sich die Kirche in vergleichbaren Fällen verhalte, welcher Grad der Entwertung eigener verfassungsrechtlich garantierter Positionen für den Betroffenen entstehe und welche konkrete Situation und Intention zu der Negierung eines kirchlichen Glaubensgrundsatzes geführt habe. Diese Abwägung erodiere keineswegs die Position der Kirche, noch vernachlässige sie deren verfassungsrechtlich garantierte Rechtsposition.

Zur Argumentation des BVerfG

Ganz offensichtlich ist auch dem BVerfG bei seiner eigenen Argumentation unwohl, wenn es feststellt, dass seine Beurteilungsmaßstäbe in Einklang mit der EMRK und der hierzu ergangenen Rechtsprechung des EGMR stehen. In formalistischer Manier weist das BVerfG nämlich darauf hin, dass die Möglichkeiten einer konventionsrechtlichen Auslegung dort enden, wo diese nach den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung und Verfassungsinterpretation nicht mehr vertretbar erscheint. Ein Rezeptionshemmnis in Form eines quasi-ordre public postuliere auch Art. 53 EMRK, so dass sichergestellt sei, dass der Grundrechtsschutz nach dem GG nicht eingeschränkt werden könne. Diese ‚höchst vorsorgliche’ Bemerkung klingt wie das berüchtigte ‚Pfeifen im Walde’ und leistet der Absicht Vorschub, eine unbequeme Rechtsposition als ‚ultima ratio’ daran hindern zu können, eine geschützte nationale Rechtstradition zu infiltrieren.

Das BVerfG kommt in breiter Argumentation zu dem Ergebnis, dass auch unter Zugrundelegung der Ausstrahlungswirkung der EMRK die Verletzung einer konkreten Loyalitätsanforderung nach Einschätzung der Kirche vorzunehmen sei. Daraus könnten sich gerechtfertigte Beschränkungen konventionsrechtlich geschützter Rechtspositionen des Arbeitnehmers ergeben. Die Standpunkte der Kirche überlagerten regelmäßig die Einschätzungsgewalt staatlicher Stellen. Die Beschränkung der Überprüfungsmöglichkeiten des Staates wurzele in dem konventionsrechtlichen Autonomierecht der Kirchen und der staatlichen Neutralitätspflicht.

Von einer Aushöhlung garantierter Schutzbereiche könne keine Rede sein, da im Einklang mit der Rechtsprechung des EGMR eine umfassende Abwägung der widerstreitenden Positionen und aller sie beeinflussenden Faktoren im Einzelfall vorzunehmen sei. An dieser Stelle interpretiert das BVerfG den EGMR dahingehend, dass der EGMR den Konventionsstaaten einen weiten Einschätzungsspielraum eingesteht und zitiert nachfolgend: ‚Dennoch werden die Konventionsstaaten ihren objektiven Schutzpflichten im Einzelfall nur gerecht, wenn sie eine eingehende und alle wesentlichen Umstände des Einzelfalls berücksichtigende Abwägung der durch die Kündigung tangierten Rechtspositionen von Arbeitgeber und Arbeitnehmer vornehmen.’

Zu den zu berücksichtigenden Kriterien gehörten insbesondere ‚das Bewusstsein des Arbeitnehmers für die begangene Loyalitätspflichtverletzung, die Freiwilligkeit der Bindung an höhere Loyalitätsobliegenheiten, die öffentlichen Auswirkungen der Loyalitätspflichtverletzung, das Interesse des kirchlichen Arbeitgebers an der Wahrung seiner Glaubwürdigkeit, die Position des Arbeitnehmers in der Einrichtung, die Schwere des Loyalitätspflichtverstoßes in den Augen der Kirche sowie die zeitliche Dimension des Loyalitätsverstoßes, das Interesse des Arbeitnehmers an der Wahrung seines Arbeitsplatzes, sein Alter, seine Beschäftigungsdauer und die Aussichten auf eine neue Beschäftigung’.

Mahnend fügt das BVerfG hinzu, dass es die Verfassungssituation Deutschlands gebiete, dass religiös geprägte Abwägungselemente den Standpunkt der verfassten Kirche zugrunde legen müssten, sofern es hierdurch nicht zu Widersprüchen mit den Grundprinzipien der Rechtsordnung komme.

Wir erinnern uns: Das BAG hat faktische Verhaltensweisen des kirchlichen Arbeitgebers in seine Abwägung einbezogen, die Position des Arbeitnehmers innerhalb der kirchlichen Organisation bewertet, die Schwere des Loyalitätsverstoßes aus der Sicht der Kirche in die Abwägung eingebracht und auch die sonstigen tragenden Elemente des Kriterienkatalogs des EGMR berücksichtigt. Wie der EGMR im Fall Schüth hat das BAG die widerstreitenden Interessen der Parteien umfassend gewürdigt und abgewogen, ohne seine Auffassung ‚in kirchlichen Angelegenheiten’ an die Stelle des kirchlichen Arbeitgebers zu setzen.

Es kann nicht sein, was nicht sein darf?

Der aufmerksame Leser des BVerfG-Beschlusses muss zu der Erkenntnis gelangen, dass das BVerfG im zu beurteilenden Einzelfall nach dem von ihm bejahten Kriterien zu einer anderen Entscheidung hätte kommen müssen. Das Gericht interpretiert die Schüth-Entscheidung des EGMR nach dem Maßstab: ‚Es kann nicht sein, was nicht sein darf’. Vollkommen reflexionsfrei führt das BVerfG zur Schüth-Entscheidung aus, ‚dass die Entscheidungsgründe den besonderen Umständen des Einzelfalls geschuldet waren und deshalb nicht rechtfertigten, eine abweichende Beurteilung des konkret zu entscheidenden Falles nach konventionsrechtlichen Maßstäben vorzunehmen’. Welche besonderen Umstände des Einzelfalls dies sein mögen, bleibt ein Geheimnis des BVerfG. Noch entlarvender und geradezu hanebüchen argumentiert das BVerfG wenige Sätze später, wenn es ausführt, dass der EGMR nicht anders verstanden werden dürfe, weil: ‚…dann ungeklärt bleibe, warum der Gerichtshof sich einerseits auf die Maßstäbe des Bundesverfassungsgerichts aus der Entscheidung vom 4. Juni 1985 bezogen hat, ohne deren Vereinbarkeit mit der Konvention in Zweifel zu ziehen, andererseits aber die Überprüfung kirchlicher Selbstverständnisse in weitem Umfang von den staatlichen Arbeitsgerichten verlangen würde’.

Wie, um Himmels willen, so muss man sich fragen, hätte der EGMR im Jahre 2010 die grundsätzlichen Erwägungen des BVerfG aus dem Jahr 1985 rügen sollen, bevor er die Abwägungskriterien anschließend entscheidend konkretisierte und konventionskonform erweiterte? Ohne Zweifel musste der EGMR davon ausgehen, dass umgekehrt das BVerfG künftig seine Entscheidungen im Licht der Erwägungen des EGMR treffen würde.

Es ist zu hoffen, dass der EGMR im konkreten Fall erneut angerufen wird, um das vom BVerfG unterstellte identische Rechtsverständnis auf den Prüfstand zu stellen und vielleicht das Possenspiel um die Zementierung kirchlicher Deutungshoheit im tendenzbetrieblichen Arbeitsrecht zu beenden.

 

Professor Achim Albrecht

Westfälische Hochschule, Gelsenkirchen
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