15.01.2013

Leadership lernen

Harvard-Flaggschiff "Senior Executives in State and Local Government"

Leadership lernen

Harvard-Flaggschiff "Senior Executives in State and Local Government"

David King: \"This is the place; this is where you gonna come if you take it to the next level.\" | © pincasso - Fotolia
David King: \"This is the place; this is where you gonna come if you take it to the next level.\" | © pincasso - Fotolia

Das Erfolgsprogramm der berufsbegleitenden Fortbildung

Das Programm Senior Executives in State and Local Government (SSL) gilt als das „Flaggschiff“ der berufsbegleitenden Fortbildung der Harvard Kennedy School. Seit 1978 werden in dem Intensivprogramm Führungskräfte aus Politik und Verwaltung der kommunalen, regionalen und Landesebene ausgebildet. Die Schlagworte Leadership und Creating Public Value prägen den Kurs. Erstklassige Referenten, eine handverlesene Auswahl an Teilnehmern und im Anschluss ein gewaltiges Alumni-Netzwerk sind die Stärken der Fortbildung.

„Wir haben in den vergangenen Jahren mehr Kongressabgeordnete hervorgebracht als jedes andere Harvard-Programm“, lässt David King gleich in der ersten Stunde des Seminars die Angereisten wissen. Der Professor leitet das Executive-Education-Programm und in seinem Tonfall mischen sich Selbstbewusstsein und Selbstverständlichkeit der ältesten US-Eliteuniversität.

Der „Senior Lecturer in Public Policy“ begrüßt freundlich aber bestimmt: Viele versuchten über Jahre einen Platz zu bekommen, der Kreis der Ausgewählten sitze nun hier im Littauer Building. Als erster deutscher Teilnehmer habe ich im Sommer 2012 das dreiwöchige Programm absolviert. Gemeinsam mit Kurzzeitstudenten aus vielen Bereichen des öffentlichen Lebens der USA, Irlands, Australiens und weiterer Staaten bearbeiteten wir Fallstudien, hörten Dinnerspeeches, führten Musterverhandlungen und gingen gemeinsam Klettern.


Zweimal im Jahr wird das SSL angeboten. Politiker, politische Beamte oder Führungskräfte der öffentlichen und staatsnahen Verwaltung sind dabei. Viele sind direkt gewählt oder parlamentarisch ernannt, so dass Ehrenbezeichnungen wie „Honorable“ in der Teilnehmerliste keine Seltenheit sind. In meinem Sommerkurs fanden sich Mitglieder der kommunalen und föderalen Legislativen wie hauptamtliche Mitglieder der Citycouncils oder Landessenatoren. Zum anderen nahmen Leitungskräfte aus Behörden, öffentlichen Infrastruktureinrichtungen wie Häfen oder die sogenannten „First Responder“ teil. Dazu gehören in Amerika die hauptamtlichen Polizei- und Feuerwehrchefs, die nach den Anschlägen vom 11. September besondere Anerkennung genießen. Das Alter lag zwischen Mitte 30 und Ende 50; Frauen stellten ein Drittel der Gruppe. Obwohl es sich um einen universitären Lehrgang handelt, ist der akademische Hintergrund der Teilnehmer in diesem Bereich zweitrangig. Vor allem sollen Führungskräfte angesprochen werden, die auf dem Weg nach oben sind. King im Originalton: „This is the place; this is where you gonna come if you take it to the next level.“

Das Bewerbungsverfahren

Das Bewerbungsverfahren schließt gut vier Monate vor Kursbeginn. In einem Essay ist die Motivation darzulegen, standardisierte Fragen über den persönlichen Hintergrund und den weiteren geplanten Werdegang sind zu beantworten. Harvard lebt das Wettbewerbsprinzip. Hohe Ambitionen zu artikulieren, kann im Aufnahmeprozess nicht schaden. Ob und wie viele potenziell zahlende Kunden tatsächlich abgewiesen werden, bleibt Geheimnis der School. Natürlich fühlen sich die Bewerber vom klingenden Namen der Universität angezogen. Ebenso ist es jedoch auch für die Ivy-League-Hochschule ein Baustein ihres Marketingengagements, aufstrebenden Mitgliedern der Kommunal- und Landesverwaltungen die „Affiliation“ mitzugeben, dieses gewisse Etwas im Lebenslauf. Die als demokratisch-liberal geltende Kennedy School festigt damit ihren Ruf als amerikanische Kaderschmiede.

Entscheidender Lernfaktor: die „study group“

Die Gruppengröße ist ein entscheidender Lernfaktor, da es im Plenum immer wieder zu Interaktionen zwischen den Gruppenmitgliedern kommen soll. Im Durchschnitt sind weniger als 50 Personen in dem Lehrgang. Jeden Morgen trifft man sich bereits um 7:45 Uhr in einer wöchentlich neu zusammengesetzten Sechsergruppe, der „study group“. Darin besprechen die Kollegen die Fallstudien vor oder diskutieren aktuelle Themen. Bemerkenswert ist nicht nur die inhaltliche Stärke des Lehrpersonals, sondern auch die Vorbereitung auf jeden einzelnen Teilnehmer. Immer wieder kommt es zu spontanen An- und Nachfragen, wie denn der Einzelne gewisse Dinge vor seinem beruflichen Erfahrungshintergrund sieht: „Und wie würde das ein deutscher Bürgermeister machen, Herr Meineke?“ – „Die Parteilosen wollen sich ja einfach nicht entscheiden, oder sehen Sie das anders?“ – Gern werden von den Dozenten auch Streitgespräche heraufprovoziert. Die eiserne Regel gilt: „What’s in the classroom, stays in the classroom.” Dieses Prinzip der verschlossenen Tür wird spätestens dann plausibel, wenn die Teilnehmer offenbaren, dass einer schon einmal gegen den anderen kandidiert hat oder es irgendwann zu Kampfkandidaturen gegeneinander kommen könnte. Dies soll die konstruktive Lern- und Gruppenatmosphäre des Kurses bereichern, aber nicht belasten.

Der Lehrinhalt: Vorlesungen und Fallstudien

Der Lehrinhalt ist eine intelligente Mischung aus Vorlesungen und Fallstudien. Die Theorie ist so gestaltet, dass sie ein tieferes Verständnis des amerikanischen politischen Systems gewähren soll. Bis auf Tocqueville und seine Schriften aus dem 19. Jahrhundert wird zurückgegriffen, um das gespaltene Verhältnis des Amerikaners zu seiner öffentlichen Verwaltung zu beschreiben. Ebenso liefern die aktuellen Forschungs- und Beratungsergebnisse der Universität Unterrichtsstoff. Dr. King zum Beispiel hat selbst die US-Reformkommission zur Modernisierung des Wahlsystems geleitet und nutzt dies zu Theorie-Praxis-Transfers. Dabei vergisst er die ökonomische Spieltheorie ebenso wenig wie die handfesten Gepflogenheiten auf Capitol Hill. Für den deutschen Teilnehmer sind es faszinierende Inneneinsichten in ein System, das als eine Wiege der westlichen Demokratie gilt und zugleich von innerer Spaltung, Unsicherheit und Selbstzweifeln der Administration zermürbt ist. Trotz allem ist ein Aufbauwille spürbar, Probleme hemdsärmlig anzupacken und unkompliziert zu lösen. Selbst für die internationalen Teilnehmer sind die US-spezifischen Kurseinheiten bereichernd, da sie zu einer kritischen Sicht auf das eigene Wirken einladen. Insbesondere wird man gezwungen, sich aus der Außenperspektive zu sehen und durch die Erklärung von Systemunterschieden das eigene Tun zu analysieren. Für mich wurde vor allem die Festigkeit und das Traditionsbewusstsein der deutschen Bürokratie deutlich, und trotz aller Kritik auch die tiefe Verankerung von Behördenwesen und Rechtsstaatsprinzip in der Bevölkerung.

Kernaspekte des Programms: Leadership & Public Value

Leadership und die Schaffung von Public Value sind zwei Kernaspekte des Programms. Für das Führungstraining wird Harvard-Urgestein Marty Linsky aufgeboten. Die einzelnen Kapitel seiner Bücher wie „Leadership on the Line: Staying Alive through the Dangers of Leading“ sind Pflichtlektüre bereits im Vorfeld des Kurses. Anhand von biographischen Skizzen wie der des früheren New Yorker Stadtplaners Robert Moses werden Möglichkeiten und Grenzen individueller Führung und kollektiver Verantwortung im öffentlichen Bereich diskutiert. Moses wurde nie in ein öffentliches Amt gewählt und prägte das Gesicht der Stadt deutlicher als alle Bürgermeister während seiner Schaffensphase. Linsky hämmert uns immer wieder ein, dass Leadership eben nicht bedeutet, das zu tun, was ohnehin von einem erwartet wird. Das Mitglied des „Center for Public Leadership“ regt Debatten über Grenzen an, sei es durch Beharren auf Zuständigkeiten oder verantwortungsvolles Überschreiten von Kompetenzen. Patentlösungen bringt Linksy dabei nicht mit, vielmehr ermutigt er, den eigenen Erfahrungsschatz als Referenzhorizont systematisch zu nutzen. Erklärtes Ziel ist es, den Teilnehmern – wohlgemerkt Führungskräfte, deren Stärke die Durchsetzung und nicht die Reflexion ist – Techniken aufzuzeigen, aus sich selbst heraus an sich selbst zu arbeiten.

Professionell Distanz zu sich selbst aufbauen zu können und die eigene Arbeit aus vielen Perspektiven zu spiegeln, ist eine der wichtigsten Lehren, die ich mitgenommen habe. Gerade diese multiple Sichtweise trifft auf eine der wesentlichen Herausforderungen der öffentlichen Führung: In kaum einem Berufsfeld müssen so viele unterschiedliche Interessengruppen in der Erarbeitung von Public Policy und Durchsetzung der Maßnahmen berücksichtigt werden. Die Kennedy School mit ihren namhaften Lehrern und Absolventen im Marschgepäck sensibilisiert mit Routine für Charaktere und Befindlichkeiten. Zugleich trainiert sie das Erkennen von Handlungsbegrenzungen und Wegen zu ihrer Überwindung. Durchsetzungsfähige Meinung und Haltung für den behördlichen und politischen Alltag zu entwickeln und mitzunehmen, ist Maxime des Programms.

Ein weiterer Schwerpunkt lautet Public Value. Seien es Kurseinheiten zu Mikroökonomik, Cooperative Governance oder Public/Private-Partnerships. Die Frage, wie sich über die Schaffung von öffentlichem Mehrwert Verwaltungshandeln weiter legitimieren und verbessern lässt, nimmt breiten Raum in den praktischen Kurseinheiten ein. Grundlegend unterschiedlich zu vielen deutschen Fortbildungsveranstaltungen ist, dass auch bei theoretischen Themen konsequent an Fallstudien und mit Praxisbeispielen gearbeitet wird.

Zum gemeinsamen Lunch oder Dinner werden Gastredner geladen, die ihre ureigene Sichtweise und Erfahrung zu Leadership in Politik und Verwaltung teilen. Der Chinese Jang Jianli zum Beispiel. Er ist Sohn eines hohen KP-Funktionärs und wurde zum Dissidenten, nachdem er das Massaker am Platz des Himmlischen Friedens miterlebt hatte. Nach seiner Flucht in die Vereinigten Staaten und einem Studium an diversen Elite-Universitäten kehrte er nach China zurück, wurde verhaftet und verurteilt. Trotz hart verhandelter Auslieferungsmöglichkeiten entschied er sich, volle fünf Jahre Haft im politischen Hochsicherheitstrakt abzusitzen, um in beiden Staaten ein freier Mann zu sein. Auch der Namensgeber der Schule kommt nicht zu kurz. Dan Fenn, einer der letzten lebenden Spitzenbeamten John F. Kennedys, referiert über die Führungseigenschaften des ermordeten Präsidenten. Der Duzfreund JFKs nimmt seine Schüler mit auf eine Zeitreise in die frühen sechziger Jahre. Auf dieser konfrontiert der „Adjunct Lecturer“ sie mit Zwickmühlen des Handlungsdrucks, wie Kennedy sie zur Abwendung der Kuba-Krise als möglichem Auftakt zum dritten Weltkrieg zu treffen hatte. Jedem Teilnehmer gibt er ein Exemplar von Kennedys Buch „Profiles in Courage“ mit auf den Heimweg, individuell signiert mit guten Wünschen.

Ablauf des Programms

Die drei Wochen weisen Struktur und pädagogische Dramaturgie auf. So sind die ersten Tage geprägt vom Kennenlernen der Gruppenmitglieder, Beginn der Arbeitsphasen, einigen Grundsatzreferaten sowie ersten Case-Studies. Die erste Woche schließt mit einem „Outward Bound“ und gemeinsamen Klettern am Wochenende auf Thompson Island. In der zweiten Arbeitswoche wird der Schwerpunkt auf Theorie gelegt, mitunter in einer Dichte, dass die Teilnehmer die Grenzen der Aufnahmefähigkeit erreichen. In der Schlussphase steht das Stichwort Implementierung vornan. Hier geht es vor allem um Methoden des Selbstmanagements, der Zielsetzung und -erreichung.

Insbesondere in den letzten Kurseinheiten werden Alumni aus vorherigen Kursen vorgestellt, die mit dem Instrumentarium erfolgreich ihre Karriere oder Einzelprojekte gemanagt haben. Wider Erwarten sind es nicht nur die klassischen geradlinigen Erfolgsgeschichten, die man aus Harvard erwartet. Bewusst eingesetzte Courage spielt eine große Rolle. Zum Mittagessen bei Fisch, Reis und Dosencola spricht Joel Burns. Er absolvierte das Programm im Sommer 2010. Wenige Monate später hielt er als Stadtratsmitglied von Fort Worth eine Rede, die ihn ebenso auf CNN wie auf Youtube zur Berühmtheit machte. Während einer persönlichen Erklärung zugunsten jugendlicher Mobbing-Opfer brach er vor laufenden Kameras in Tränen aus und wurde so zu einer Symbolfigur liberaler amerikanischer Politik. Ausgerechnet im Flüsterton überzeugt er die Kursteilnehmer mit seiner Aufforderung: „Stand up for what you believe in.“

Das Programm endet mit einer Zeremonie im „Harvard Faculty Club“. Diese heiligen Hallen der Universität sind dem Lehrpersonal oder besonderen Anlässen wie eben diesem vorbehalten. In den dunklen, holzvertäfelten Räumen herrscht zunächst Dinner-Atmosphäre, getragen von Stolz und Freude bei den Absolventen, sich durch das Programm gearbeitet zu haben. Mehrere Gänge werden serviert, die Public Officials aus den unterschiedlichen Staaten erheben sich spontan zu launigen Reden, zum Ende wird es amerikanisch-herzlich, ein letztes Mal Teamspirit.

Kosten des Programms

Das Programm kostet ca. 12.000 US-Dollar. Darin enthalten sind Unterricht, Unterkunft und Unterrichtsmaterialien. Für Teilnehmer aus dem Ausland kommen der Flug sowie die Übernachtungen vor der Kurseinheit hinzu. Es ist ratsam, ein paar Tage vor dem Kursbeginn anzureisen, um nicht mit einem Jetlag in das geistig fordernde Programm zu starten. Weitere Informationen sind abrufbar unter http://ksgexecprogram.harvard.edu/

 

Christoph Meineke

Bürgermeister der Gemeinde Wennigsen (Deister)
n/a