15.08.2016

Kulturelle Vielfalt im Behörden-Alltag

Ein Spagat zwischen Routine und hoher Komplexität

Kulturelle Vielfalt im Behörden-Alltag

Ein Spagat zwischen Routine und hoher Komplexität

Kulturelle Vielfalt im Behörden-Alltag
Das Thema der interkulturellen Kompetenz ist in Schulungen, Lehrgängen und im Studium bisher zu kurz gekommen. | © Ricochet64 - Fotolia

Grundsätzliches

Kulturelle Vielfalt ist in Deutschland Realität – nicht erst seit der aktuellen Flüchtlingskrise, die zu einer Aufnahme von ca. 950.000 Menschen im Jahre 2015 geführt hat. Denn Deutschland hat sich längst zu einem Einwanderungs- und Integrationsland entwickelt, wenn auch sukzessive und im Grunde widerwillig – nicht zuletzt auch wegen einer Ausländerabwehrenden Politik (vgl. Liedtke, Die Türkeistämmigen in Deutschland – gebraucht, gedemütigt, geduldet!?”, in: Deutsches Polizeiblatt (DPolBL) 06/2015, S. 9 ff.).

Heute leben in unserem Land Menschen aus etwa 200 Nationen; fast 20 % der Einwohner haben eine Migrationsbiografie. Beinahe jedes dritte Kind unter 18 Jahren hat Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern, die nicht aus Deutschland stammen. Die Mehrzahl dieser Menschen (ca. 96 %) lebt in den westlichen Bundesländern (Köse, a.a.O., S.28), wobei die Einwanderungsgeschichten der einzelnen Zuwanderergruppen nicht gleich verlaufen sind. Es handelt sich um Menschen, die u. a. aus rechtlichen Gründen als „Ausländer, Asylbewerber, Aus- bzw. Umsiedler, Zuwanderer, Flüchtlinge, Migranten oder Menschen mit Migrationshintergrund” bezeichnet werden. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes (2014) sind mit ca. 60 % mehr als die Hälfte der Personen mit Migrationshintergrund deutsche Staatsangehörige. Insgesamt bilden die Türkeistämmigen („Türken”) die größte Gruppe mit über 3 Millionen; diese sind überwiegend Muslime mit Unterschieden in der religiösen Orientierung.

Ein behördlicher Kontakt mit Menschen aus anderen Kulturen ist insbesondere in den Ballungszentren längst zur Routine geworden. Gemeint sind damit Stadtregionen mit einem hohen Migrantenanteil in mehreren Städten bzw. Stadtteilen. Dazu gehören etwa das Ruhrgebiet, das Rhein-Main-Gebiet, die Region Stuttgart – Karlsruhe sowie die Stadtstaaten Berlin und Bremen.


Dennoch sind in diesen „interkulturellen Überschneidungssituationen” neben verbaler Aggression auch körperliche Gewalt anzutreffen, nicht zuletzt im Vollzugsbereich. Somit wird kulturelle Vielfalt auch als unmittelbar konfliktär erlebt. Konkret stehen die Beschäftigten u. a. in den Jobcentern, den kommunalen Ämtern, den Sozialdiensten oder den Kindertagesstätten vor komplexen Begegnungen. Dies gilt insbesondere auch für die große Gruppe der Lehrer und Polizisten. Gerade Polizeibeamte klagen darüber, dass sie in alltäglichen Situationen dem Rassismusvorwurf ausgesetzt sind und in Konflikten kaum Kooperationsbereitschaft anzutreffen ist. Auf der anderen Seite werden sie nicht nur durch individuelle (Arbeits-)Belastungen, sondern auch durch eigene stereotype Vorstellungen über Länder (u. a. arabische, nordafrikanische, Türkei), Gruppen (z. B. die Russen, Araber, Türken) oder Religionen (u. a. der politische Islam) daran gehindert, stets kultursensibel zu reagieren. Nicht zuletzt beeinflussen bzw. belasten Erfahrungen mit gescheiterten Integrationsverläufen die dienstliche Begegnung und lassen selektive Wahrnehmungen entstehen. Auch stehen sich divergierende Erwartungen gegenüber und sind häufig Hintergrund gestörter Interaktionen. Mehrheitlich bestehen über diejenigen Personen negative „Bilder im Kopf”, die aus den arabisch/türkischen und nordafrikanischen Gebieten zugewandert sind bzw. bereits seit langem als Menschen mit Migrationsbiografie in unserer Gesellschaft leben. Beachtenswert ist, dass nach einer repräsentativen „ZuGleich”-Studie der Universität Bielefeld in Deutschland zwar die „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit” abnimmt, aber Vorurteile im Hinblick auf gewisse Gruppen wie Muslime, Flüchtlinge sowie Sinti- und Roma weiterhin beträchtlich sind. Beschäftigte des öffentlichen Sektors leben nicht auf einer Insel, sollten sich aber als „Gesichter der Einwanderungsgesellschaft” ihrer zentralen Rolle in der Praxis bewusst sein. Letztlich bestimmen sie regelmäßig über existenzielle Sachverhalte u. a. von Zuwanderern und Migranten, entweder positiv (u. a. durch Leistungsbescheid) oder negativ (u. a. durch Leistungsentzug, Freiheitsentziehung). Hier kommen Machtsymmetrien zum Ausdruck, die von Zuwanderern/Migranten auch als generalisiertes Misstrauen empfunden werden. So entschied das OVG Rheinland-Pfalz (Urt. v. 21. 04. 2016, 7A11108/14), dass die Kontrolle einer dunkelhäutigen Familie durch die Bundespolizei rechtswidrig gewesen ist, da die Kontrolle ausschließlich aufgrund der Hautfarbe erfolgte. Andere Fahrgäste waren mit keiner Maßnahme behelligt worden.

Kulturelle Vielfalt und interkulturelle Kompetenz

Kulturelle Vielfalt meint generell das Vorhandensein unterschiedlicher Werte, Verhaltensmuster und Glaubensvorstellungen. Die Allgemeine Erklärung zur kulturellen Vielfalt der Vereinten Nationen postuliert, dass diese „als Quelle des Austauschs, der Erneuerung und der Kreativität ebenso wichtig für die Menschheit ist wie die biologische Vielfalt für die Natur” (vgl. wikipedia.org/wiki/Kulturelle_Vielfalt#cite_note-2 (05. 03. 2016). Konkret geht es u. a. um die Sprachenvielfalt, Vielfalt in Fragen der Begrüßung und Verabschiedung, des Zeigens oder Nichtzeigens von Gefühlen, der Körpersprache, des Einhaltens einer physischen Distanz zu Anderen, der Bekleidung, oder der Körperpflege. Nicht zuletzt geht es auch um den Umgang mit Konflikten. Diese Verschiedenheit in kultureller, religiöser und nationaler Hinsicht wird in der Sozialwissenschaft und in der Praxis durch den Begriff „Diversität” (vgl. Redefining, Diversity, 1996, S. 5) abgebildet.

„Interkulturelle Kompetenz” hingegen meint die Fähigkeit, sich in unterschiedlichen Kulturkreisen ohne Hindernis zu bewegen. Dafür ist ein individueller Perspektivwechsel notwendig, welcher hauptsächlich auf einem interkulturellen Lernen gründet. Zu diesem Lernen gehören neben der interkulturellen Bildung (Land, Leute, Politik, Religion des Landes) vor allem auch interkulturelle Begegnungen im behördlichen und privaten Alltag. In meinen Tagungen und Seminaren u. a. mit Amtsträgern wird die Agenda regelmäßig von Fragestellungen zum Islam und seiner komplexen Wirkmacht bestimmt. Frappierend sind die Kenntnislosigkeit u. a. über den Alltag, die Religiosität und die Werteauffassungen der Muslime in Deutschland. Erfreulicherweise wird diese aber fast vollständig durch ein besonderes Interesse an diesen Dingen kompensiert und natürlich gibt es auch keinen Grund, speziell das Thema Religion nicht ebenfalls als Aspekt der kulturellen Vielfalt bzw. der interkulturellen Verständigung zu behandeln.

Persönliche Fähigkeiten und kulturelle Gegensatzpaare

Der kultursensible Kontakt zu ausländischen Menschen bzw. solchen mit Migrationsbiografie erfordert auf Seiten der Amtsträger bestimmte persönliche Fähigkeiten, die „mitgebracht” werden sollten: Toleranz, Empathie, Interaktionsfreudigkeit, eigenkulturelle Bewusstheit, Selbstsicherheit und nicht zuletzt auch die Fähigkeit, Widersprüchlichkeiten zu ertragen. Empathie zeigen ist für die interkulturelle Verständigung ein ganz zentrales Element. Es gehört zu den Basistechniken jeglicher Verständigung, die Gefühle der Interaktionspartner zu würdigen. Das Auflösen interkultureller Spannungen setzt Empathie voraus. Darüber hinaus ist der Aspekt der persönlichen Grenzziehung gegenüber Übergriffigkeiten in jeglicher Form ebenfalls zentral. Länderspezifische Kenntnisse sind gleichermaßen für ein Verstehen und Verstanden werden unabdingbar. Auch gehört die Bereitschaft, bestimmte Schlüsselbegriffe u. a. in der türkischen Sprache zu erlernen, für Bedienstete (gerade) in den Ballungsräumen zu den Voraussetzungen einer professionellen Aufgabenerfüllung.

Über bestimmte persönliche Fähigkeiten hinaus hat sich außerdem die Unterscheidung zwischen einer eher kollektivistischen, sog. „High-context – Kultur” (u. a. arabisch/türkischer Bereich) und einer eher individualistischen, sog. „Low – context – Kultur” (u. a. westeuropäischer Bereich) als nützlich erweisen. Denn daraus ergeben sich bestimmte Gegensatzpaare, die, manche auf den ersten Blick befremdliche Reaktion des Gegenübers oftmals transparenter machen können.

Einige Beispiele:

Menschen aus sog. „blickarmen” Kulturen (u. a. arabischer Raum) treffen auf Behördenbedienstete aus einer sog. „blickintensiven” Kultur. Gleiches gilt für „kontakt- und berührungsfreudige” im Gegensatz zu „berührungsdistanzierten” Kulturen (Broszinsky-Schwabe, Interkulturelle Kommunikation – Verständigung mit Missverständnissen, FernUniversität in Hagen 2013, S. 16 ff.). Besonders deutlich werden die Gegensätze, wenn es um Pünktlichkeit und geordnete Abläufe geht. In sog. „zeitvergessenen” Ländern (u. a. arabischer Raum) sind der Lebensrhythmus und das Verständnis von Zeit ganz anders, während in dem sog. „zeitbewussten” Deutschland sehr großer Wert auf die Einhaltung zeitlicher Vereinbarungen gelegt wird. Ein Zuspätkommen von Bürgern/Kunden wird sehr ungern gesehen und meistens kritisch kommentiert. Auch stoßen stark traditionelle Rollenaufteilungen u. a. zwischen Eheleuten auf Befremden und werden als „altmodisch” empfunden. Kollektivistisches Handeln ist für viele Zuwanderer/Migranten immer noch selbstverständlich. Gleiches gilt für den Umgang mit islamischer Bedeckung bei muslimischen Frauen (u. a. Abnehmen in bestimmten Situationen, Erwähnung des Kopftuches in einer Vermittlungs- und Beratungssituation im Jobcenter).

Diese Unterscheidungen sollten jedoch keinesfalls zu der pauschalen Annahme führen, dass alle „Fremden” den Blickkontakt vermeiden, unpünktlich oder gar „traditionell” sind. Vielmehr geht es für die Personen im öffentlichen Dienst darum zu verstehen, dass Menschen von ihrer Kultur und dem Wertebewusstsein ihrer Eltern in ihrem Denken und Handeln gesteuert sind, sodass sie in einem dynamischen Migrationsprozess vieles entsprechend neu oder anders strukturieren müssen. Nicht selten hat dieser Migrationsprozess sie deshalb unsicher oder gar verbittert gemacht. Viele sehen sich regelrecht eingeklemmt zwischen Religionen, Erziehungsstilen, Bildungssystemen, bürokratischen Regeln und Erwartungen der Mehrheitsgesellschaft. Migrationsprozesse beginnen bereits dann, wenn sich z. B. Flüchtlinge für eine Region oder ein Land entscheiden. In einer Vorbereitungsphase werden Informationen u. a. über das Internet, die sozialen Medien oder Bekannte und Familien eingeholt. Im Land angekommen trifft dieses Selbstbild u. a. auf die behördliche Wirklichkeit mit ihren starren „Low-Context”-Regeln.

„Interkulturelle Überschneidungssituationen” sind selten von Routine, sondern von einer hohen Komplexität gekennzeichnet. Die inneren und äußeren Erwartungen an die Beschäftigten des öffentlichen Sektors, mit diesen kultursensibel umzugehen, ist leichter gesagt als in der Praxis getan. Nach meinen Erfahrungen bleiben noch zu viele Beschäftigte im Zustand des „Nicht-Verstehen-Könnens”, was vor allem auf eine defizitäre Aus- und Fortbildung und strukturelle Probleme in den Organisationen zurückzuführen ist. Die hektischen Reaktionen von Behörden und Einrichtungen anlässlich des „Flüchtlingsstroms” zeigen, wie wenig systematisch das Thema der interkulturellen Kompetenz in Schulungen, Lehrgängen und im Studium vorhanden war. Es ist an der Zeit, das Bildungsangebot im Feld der interkulturellen Vielfalt mit einem nachhaltigen, festen und umfangreicheren Konzept auszustatten. Interkulturelle Kompetenz sichert nicht nur die Zufriedenheit von Beschäftigten in den Ämtern, den Einrichtungen und an der operativen Basis, sondern trägt auch zur Stabilisierung unserer Gesellschaft bei.

Hinweis der Redaktion: Dr. phil. Bernd Liedtke ist nach einer langen Dienstzeit im Polizeidienst des Landes NRW als freiberuflicher Sozialwissenschaftler bundesweit tätig. Aufgrund seiner Veröffentlichungen gilt er als Experte der kulturellen Annäherung. Sein Aufsatz – mit zahlreichen weiteren Fundstellenangaben – wird auch in Heft 7-8/2016 der Zeitschrift Ausbildung/Prüfung/Fortbildung (apf) veröffentlicht.

Dr. Bernd Liedtke, M.A.
n/a