15.08.2016

Chancengleichheit in Prüfungen

BVerfG: Nachteilsausgleich, aber kein Notenschutz für Legastheniker

Chancengleichheit in Prüfungen

BVerfG: Nachteilsausgleich, aber kein Notenschutz für Legastheniker

Von grundsätzlicher Bedeutung: Umfang des Anspruchs auf behinderungsbezogenen Nachteilsausgleich. | © froxx - Fotolia
Von grundsätzlicher Bedeutung: Umfang des Anspruchs auf behinderungsbezogenen Nachteilsausgleich. | © froxx - Fotolia

In einem kürzlich entschiedenen Verfassungsbeschwerde-verfahren hatte sich das BVerfG mit einem verwaltungs-gerichtlichen Verfahren aus dem Bereich des Schulrechts auseinanderzusetzen (BVerfG, Beschl. v. 09. 06. 2016 – 1 BvR 2453/12).

Der Beschwerdeführer besuchte ein öffentliches technisches Fachgymnasium. Da er an einer Lese- und Rechtschreibstörung (Legasthenie) leidet, beantragte er zum Nachteilsausgleich eine Schreibzeitverlängerung für die Anfertigung von Klausuren sowie die Nichtbewertung der Rechtschreibung (sog. Notenschutz). Die Schule lehnte dies ab. Im einstweiligen Rechtsschutzverfahren verpflichtete das Oberverwaltungsgericht (OVG) die Schule, dem Beschwerdeführer bis zur Entscheidung in der Hauptsache bei der Anfertigung schriftlicher Leistungsüberprüfungen außer in naturwissenschaftlich-mathematischen Fächern eine Schreibzeitverlängerung von 10 % der jeweiligen Bearbeitungszeit zu gewähren.

In der Hauptsache wies das Verwaltungsgericht (VG) seine Klage ab, die u. a. darauf gerichtet war, Klausurabwertungen wegen Schreibfehlern (sog. „GRZ-Abzug”) im Fach Deutsch in der Jahrgangsstufe 12 anzuheben. Den Antrag des Beschwerdeführers auf Zulassung der Berufung lehnte das OVG ab (NdsOVG, Beschl. v. 20. 09. 2012 – 2 LA 234/11). Nach seiner Auffassung bestanden an der Richtigkeit der Entscheidung des VG im Ergebnis keine ernstlichen Zweifel. Es sei nicht ersichtlich, dass die den Noten zugrunde liegenden Bewertungen fehlerhaft gewesen sein könnten.


Gebot effektiven Rechtsschutzes verletzt

Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 19 Abs. 4 GG, aus Art. 3 Abs. 1 und 3 GG in Verbindung mit der UN-Behindertenrechtskonvention sowie aus Art. 12 GG. Das Bundesverfassungsgericht hat den Beschluss des OVG wegen einer Verletzung des Beschwerdeführers in seinem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG aufgehoben und die Sache an das OVG zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen.

Aus den Gründen: „Die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet. Die Auslegung und Anwendung der Vorschriften über die Zulassung der Berufung durch das Oberverwaltungsgericht wird der verfassungsrechtlichen Verbürgung effektiven Rechtsschutzes nicht gerecht.

Das Gebot effektiven Rechtsschutzes gemäß Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gewährleistet zwar keinen Anspruch auf die Errichtung eines bestimmten Instanzenzuges. Hat der Gesetzgeber jedoch mehrere Instanzen geschaffen, darf der Zugang zu ihnen nicht in unzumutbarer und durch Sachgründe nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden. Das Gleiche gilt, wenn das Prozessrecht – wie hier die §§ 124, 124a VwGO – den Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit gibt, die Zulassung eines Rechtsmittels zu erstreiten. Aus diesem Grund dürfen die Anforderungen an die Darlegung der Zulassungsgründe nicht derart erschwert werden, dass sie auch von einem durchschnittlichen, nicht auf das gerade einschlägige Rechtsgebiet spezialisierten Rechtsanwalt mit zumutbarem Aufwand nicht mehr erfüllt werden können und die Möglichkeit, die Zulassung eines Rechtsmittels zu erstreiten, für den Rechtsmittelführer leerläuft. Dies gilt nicht nur hinsichtlich der Anforderungen an die Darlegung der Zulassungsgründe gemäß § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO, sondern in entsprechender Weise für die Auslegung und Anwendung der Zulassungsgründe des § 124 Abs. 2 VwGO selbst. Mit dem Gebot effektiven Rechtsschutzes unvereinbar ist eine Auslegung und Anwendung des § 124 Abs. 2 VwGO danach dann, wenn sie sachlich nicht zu rechtfertigen ist, sich damit als objektiv willkürlich erweist und den Zugang zur nächsten Instanz unzumutbar erschwert.

Das OVG hat durch seine Handhabung des Zulassungsgrundes der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO den Zugang zur Berufungsinstanz in sachlich nicht zu rechtfertigender Weise verengt und dadurch das Gebot effektiven Rechtsschutzes verletzt.

Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit eines verwaltungsgerichtlichen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) sind immer schon dann begründet, wenn der Rechtsmittelführer einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage stellt. Dies hat der Beschwerdeführer getan. Er hat aufgezeigt, dass das Verwaltungsgericht seinen Verpflichtungsantrag rechtsfehlerhaft als unzulässig behandelt hat und die angenommene Unzulässigkeit der Feststellungsanträge betreffend den Notenschutz und den Umfang des ihm zustehenden Nachteilsausgleichs aus Subsidiaritätsgründen zumindest ernstlichen – vom OVG selbst näher aufgezeigten – Zweifeln begegnet. Das OVG hat mit einer verfassungsrechtlich nicht hinnehmbaren Begründung gleichwohl die Berufung nicht zugelassen.

Neue entscheidungstragende Gründe außerhalb des Prüfungsumfangs

Es begegnet zwar keinen grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn das Berufungsgericht bei der Überprüfung des angefochtenen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) auf andere rechtliche oder tatsächliche Gesichtspunkte abstellt als das VG in den Entscheidungsgründen seines Urteils und wenn es – soweit rechtliches Gehör gewährt ist – die Zulassung der Berufung deshalb ablehnt, weil sich das Urteil aus anderen Gründen im Ergebnis als richtig erweist. Es widerspricht jedoch sowohl dem Sinn und Zweck des dem Berufungsverfahren vorgeschalteten Zulassungsverfahrens als auch der Systematik der in § 124 Abs. 2 VwGO geregelten Zulassungsgründe und kann den Zugang zur Berufung in sachlich nicht mehr zu rechtfertigender Weise einschränken, wenn das Berufungsgericht auf andere Gründe entscheidungstragend abstellt als das Verwaltungsgericht, die nicht ohne Weiteres auf der Hand liegen und deren Heranziehung deshalb über den mit Blick auf den eingeschränkten Zweck des Zulassungsverfahrens von ihm vernünftigerweise zu leistenden Prüfungsumfang hinausgeht.

Dass dem Beschwerdeführer vor Erlass der angegriffenen Entscheidung im Hinblick auf die neue Begründung des OVG im Berufungszulassungsverfahren rechtliches Gehör gewährt worden wäre, lässt sich den beigezogenen Akten des Ausgangsverfahrens nicht entnehmen. Darüber hinaus lagen die Voraussetzungen für einen Austausch der Begründung hiernach auch nicht vor.

Grundsätzliche Bedeutung der Rechtsfrage

Hinsichtlich der auf den Notenschutz bezogenen Klageanträge ergibt sich dies schon daraus, dass das OVG die angenommene inhaltliche Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils auf Gründe stützt, denen ihrerseits grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zukommt. Denn die Heranziehung von Erwägungen mit Grundsatzbedeutung zur Ablehnung des Zulassungsgrundes der ernstlichen Zweifel verkürzt den vom Gesetzgeber für Fragen von grundsätzlicher Bedeutung vorgesehenen Rechtsschutz im Berufungsverfahren in sachlich nicht zu rechtfertigender Weise.

Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtsfrage immer dann, wenn es maßgebend auf eine konkrete, über den Einzelfall hinausgehende Rechtsfrage ankommt, deren Klärung im Interesse der Einheit oder der Fortbildung des Rechts geboten erscheint. Der Begriff der grundsätzlichen Bedeutung im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO entspricht danach weitgehend dem der grundsätzlichen Bedeutung in der revisionszulassungsrechtlichen Bestimmung des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.

Nach diesen Maßstäben kam der vom OVG verneinten Frage, ob der Beschwerdeführer im Hinblick auf seine Legasthenie sogenannten Notenschutz in Form der Nichtbewertung der Rechtschreibung verlangen konnte, grundsätzliche Bedeutung zu. Denn ihre Beantwortung hat Bedeutung weit über den Einzelfall des Beschwerdeführers hinaus und betrifft den Umfang des verfassungsrechtlich sowohl unter dem Gesichtspunkt der Chancengleichheit im Prüfungsrecht als auch des Benachteiligungsverbots gemäß Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG bestehenden Anspruchs auf behinderungsbezogenen Nachteilsausgleich. Die umstrittene Frage des Umfangs des Nachteilsausgleichs, der an Legasthenie leidenden Schülern zusteht, war zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts noch nicht höchstrichterlich geklärt. Erst im Jahr 2015 hat das BVerwG entschieden, dass aus dem Gebot der Chancengleichheit nur Ansprüche auf Änderung der Prüfungsbedingungen (Nachteilsausgleich), nicht aber solche auf Änderung des Maßstabs der Leistungsbewertung (Notenschutz) abgeleitet werden könnten. Hiergegen sind beim BVerfG mittlerweile Verfassungsbeschwerden anhängig (1 BvR 2577/15, 1 BvR 2578/15, 1 BvR 2579/15), über die noch nicht entschieden ist.

Ministerialrat Dr. Dr. Frank Ebert

Ministerialrat a.D. Dr. Dr. Frank Ebert

Leiter des Thüringer Prüfungsamts a.D., Erfurt
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