01.02.2018

Befragung per App

Kommunale Bürgerbeteiligung mit dem Smartphone

Befragung per App

Kommunale Bürgerbeteiligung mit dem Smartphone

Um an einer Abstimmung via App teilnehmen zu können, müssen die Teilnehmer zuvor einen persönlichen Zugangscode auf ihrem Smartphone installieren. | © KonstantinosKokkinis - Fotolia
Um an einer Abstimmung via App teilnehmen zu können, müssen die Teilnehmer zuvor einen persönlichen Zugangscode auf ihrem Smartphone installieren. | © KonstantinosKokkinis - Fotolia

Die Universitätsstadt Tübingen möchte künftig Bürgerbefragungen per App durchführen. Ziel ist es, mit einer kurzen Vorlaufzeit und einem überschaubaren Aufwand vor grundlegenden Weichenstellungen der Politik die Meinung der Bevölkerung einzuholen. Die App ist so angelegt, dass nur Einwohnerinnen und Einwohner Tübingens an einer Befragung teilnehmen können und eine mehrfache Teilnahme ausgeschlossen ist.

Bürgerbeteiligung in Tübingen

Seit vielen Jahren ist die Bürgerbeteiligung fester Bestandteil der politischen Willensbildung in Tübingen. Und das mit gutem Grund: Sie hilft der Verwaltung, Ideen und Interessen aufzugreifen. Sie erlaubt dem Gemeinderat Entscheidungen auf besserer Grundlage. Und sie sorgt für eine breitere Akzeptanz und damit letztlich mehr Rückhalt für die kommunale Demokratie, weil die Einwohnerinnen und Einwohner in Entscheidungen und Planungen einbezogen sind.

In den letzten Jahren wurden die Elemente der Bürgerbeteiligung in Tübingen, die in erster Linie auf Beratung setzen, stetig ausgebaut und gestärkt: Einwohnerinnen und Einwohner von Tübingen können sich frühzeitig einbringen. Neue Beteiligungsformate, wie bspw. der Bürgerinnenrat ergänzen bewährte Formate der Bürgerbeteiligung. Prozesse und Entscheidungen werden transparent gemacht.


Das Gegenstück zur beratenden Bürgerbeteiligung ist der Bürgerentscheid nach § 21 Gemeindeordnung. Hier beschränkt sich die Rolle der Bürgerinnen und Bürger nicht auf die des Beratenden, hier entscheidet die Bürgerschaft anstelle des Gemeinderats. Auch wenn die Hürden für dieses direktdemokratische Element durch die Novelle der Gemeindeordnung im Jahr 2015 gesunken sind, ist der Bürgerentscheid nach wie vor eine Ausnahme. Der letzte Bürgerentscheid in Tübingen fand 1993 statt.

Zwischen der direkten Demokratie und den beratenden Elementen der Bürgerbeteiligung sind Bürgerbefragungen angesiedelt, die versuchen, die Meinung der Bürgerinnen und Bürger zu einem oder mehreren Themen zu erheben. Anders als beim Bürgerentscheid können dabei auch zu einer Frage mehrere Antwortmöglichkeiten vorgegeben werden. Eine Bürgerbefragung entfaltet keinerlei rechtliche Bindewirkung für den Gemeinderat, dieser ist unabhängig vom Ergebnis einer Befragung frei in seiner Entscheidung.

Eine Bürgerbefragung kann in Form einer schriftlichen Befragung aller Bürgerinnen und Bürger erfolgen. Alternativ kann eine Bürgerbefragung auch durch eine repräsentative, anonyme, unverbindliche Befragung von ausgewählten Bürgerinnen und Bürgern zu bestimmten Themen der Verwaltung, etwa in Form eines auszufüllenden Papier- oder Onlineformulars oder als mündlich durchgeführtes Interview erfolgen.

Repräsentative Bürgerbefragungen kommen durchaus zu validen Ergebnissen. Die Aussagen sind belastbar. Der Nachteil repräsentativer Befragungen sind die Kosten und die fehlende Debatte. Eine Stärke des Bürgerentscheids und einer analog angelegten Bürgerbefragung ist, dass alle Bürgerinnen und Bürger eingebunden werden und damit das Thema breit diskutiert wird. Bei einer repräsentativen Stichprobe findet dieser wichtige Prozess der Meinungsbildung nicht statt.

Modellvorhaben BürgerApp

Die Verwaltung ist der Überzeugung, dass es bei grundlegenden Entscheidungen des Gemeinderats wichtig wäre, genauer den Willen der Einwohnerinnen und Einwohner zu kennen. Dies kann die Diskussion und Abwägungsprozess des Gemeinderats nicht ersetzen, ist aber ein Hinweis, dass der Gemeinderat auch im Sinne der Einwohnerinnen und Einwohner agiert bzw. einen abweichenden Beschluss gut begründen muss. Daher sind Bürgerbefragungen ein sinnvolles Instrument zur Stärkung der kommunalen Demokratie und eine Unterstützung zur Entscheidungsfindung des Gemeinderats. Dabei muss aber immer klar kommuniziert werden, dass eine Bürgerbefragung nie, auch nicht indirekt, eine Entscheidung des Gemeinderats ersetzt.

Der Aufwand für die Durchführung einer Bürgerbefragung ist in den derzeitigen Formen jedoch zu hoch, um diese regelmäßig anwenden zu können. Einige Kommunen haben daher bereits versucht, die Meinung der Bevölkerung im Internet zu erfragen. Die Erfahrung zeigt, dass es eine hohe Hürde ist, eine Internetadresse aufzurufen und sich registrieren bzw. einloggen zu müssen, um an einer Befragung teilzunehmen. Die Beteiligungen an solchen Befragungen sind sehr gering.

Eine Abstimmung per App ist dagegen einfach und schnell möglich. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts besitzen derzeit 95,1 % aller Haushalte ein Mobilfunkgerät. Nach Aussagen des Internetportals statista besaßen im April 2016 49 Millionen Menschen in Deutschland ein Smartphone, eine Studie von ARD und ZDF belegt, dass das Smartphone das meistgenutzte Gerät für einen Internetzugang ist. Somit können über eine App große Teile der Bevölkerung erreicht werden.

Die Verwaltung hat daher dem Gemeinderat vorgeschlagen, BürgerApp zu entwickeln. Diese App soll es ermöglichen via Smartphone Bürgerbefragungen durchzuführen.

Eine solche Befragung kann nicht vollständig repräsentativ sein. Da es aber bei einer Bürgerbefragung um Tendenzen und nicht um das genaue Abbild der Meinung oder eine Wahl geht, kann eine gewisse Unschärfe toleriert werden.

Warum gerade eine App?

Die App bietet die Möglichkeit, mit einer relativ kurzen Vorlaufzeit und einem überschaubaren Aufwand vor grundlegenden Weichenstellungen der Politik die Meinung der Bevölkerung einzuholen. Da hier auch Varianten zur Abstimmung gestellt werden können, ist ein differenziertes Meinungsbild zu erwarten.

Durch die Abstimmung werden im Vorfeld Diskussionsprozesse über den Kreis hinaus derer, die davon betroffen sind, in Gang gesetzt. Aktuelle Beteiligungsformen haben den Nachteil, dass sich in erster Linie vor allem Betroffene engagieren, die dort ihre persönlichen Interessen vertreten. Die Diskussion der gesamten Stadtgesellschaft weitet den Blick für das gesamtstädtische Interesse.

Auch zeigt sich, dass der Zugang für bestimmte Bevölkerungsgruppen zu den klassischen Beteiligungsformaten nicht vorhanden ist. Daher dominieren bestimmte Bevölkerungsgruppen Beteiligungsverfahren. Der ehemalige Münchner Oberbürgermeister und Präsident des Deutschen Städtetags spricht daher von einer »Beteiligungsaristokratie«. Die Verwaltung ist davon überzeugt, dass durch diese App gerade auch wieder Menschen für Kommunalpolitik gewonnen werden können, die sich den klassischen Informationswegen (Lokalzeitung, lokales Radio) entzogen haben. Auch jüngere Menschen können auf diese Weise angesprochen werden.

Erfolgreiche Aufnahme in das Landesprogramm »Städte und Gemeinden 4.0 – Future Communities«

Die Landesregierung von Baden-Württemberg hat als Ziel ausgegeben, die Chancen der Digitalisierung für Baden-Württemberg zu nutzen. Um die positiven Potenziale der Digitalisierung zu erschließen, soll eine ressortübergreifende Digitalisierungsstrategie erarbeitet werden. Digitalisierung soll zum Innovations- und Nachhaltigkeitsmotor werden. Nach Auffassung der Tübinger Stadtverwaltung wird mit der Bürger-App der Dialog zwischen Verwaltung, Politik und Gemeinderat ausgebaut, Bürgerinnen und Bürger werden stärker in die Willensbildung einbezogen ohne die repräsentative Demokratie zu schwächen.

Die Stadt hat sich daher erfolgreich mit dem Modellvorhaben der Bürgerbeteiligungs-App auf das Förderprogramm des Ministeriums für Inneres, Digitalisierung und Migration »Städte und Gemeinden 4.0 – Future Communities« beworben. Das Land Baden-Württemberg fördert die Entwicklung der App mit gut 72 000 Euro.

Die konkrete Umsetzung

Gemeinsam mit den beiden im Raum Stuttgart ansässigen Firmen neongelb GmbH und aaronprojects GmbH hat die Verwaltung Eckpunkte für die Entwicklung der App erarbeitet, mit denen folgende Ziele erreicht werden können:

  1. Neben der Abstimmung mit der App muss eine Abstimmung im Internet oder eine schriftliche Abstimmung möglich sein.
  2. Es muss sichergestellt werden, dass nur Einwohnerinnen und Einwohner Tübingens abstimmen können.
  3. Mehrfachabstimmungen sind auszuschließen.
  4. Das Verfahren muss datenschutzrechtlich sauber sein.
  5. Es ist ein hoher Sicherheitsstandard anzulegen.

Zudem hat der Gemeinderat im Oktober eine Satzung über die Durchführung von Einwohnerbefragungen beschlossen, welcher Regelungen zu Befragungen festsetzt: Wer beschließt eine Befragung? Wie lautet die Fragestellung? Wer darf an einer Befragung teilnehmen?

Drei Möglichkeiten der Teilnahme an einer Befragung

Auch wenn es das Ziel der Entwicklung der App ist, dass möglichst viele Einwohnerinnen und Einwohner mit dieser an einer Befragung teilnehmen können, wird es immer einen Teil der Bevölkerung geben, der dies nicht kann oder will. Daher sieht die Satzung vor, dass auch eine Teilnahme im Internet oder schriftlich möglich ist.

Vor Beginn der ersten Befragung erhalten alle Einwohnerinnen und Einwohner ihren persönlichen Zugangscode per Post. Um an einer Abstimmung via App teilnehmen zu können, muss diese auf dem jeweiligen Smartphone installiert werden. Anschließend ist es erforderlich, sich einmalig mit Hilfe des Codes zu registrieren. Damit kann sicher gestellt werden, dass nur Einwohnerinnen und Einwohner jeweils einmal abstimmen können. Beginnt eine Abstimmung erhält die Person eine Push-Benachrichtigung auf ihrem Smartphone. Sie kann nun Informationen zum Sachverhalt lesen und direkt abstimmen.

Ebenfalls möglich ist die Teilnahme im Internet. Der Nachteil hier ist, dass bei jeder Abstimmung eine Registrierung mit dem Code erforderlich ist.

Jede Abstimmung wird zwei Wochen vor Beginn im Internet und in der Lokalzeitung bekannt gemacht. Einwohnerinnen und Einwohner haben bis zum Beginn der Abstimmung die Möglichkeit, schriftliche Teilnahme zu beantragen. Im Gegenzug wird dann die Möglichkeit zur Teilnahme per App oder im Internet für diese Befragung gesperrt.

Verbindung von Meldedaten mit den Zugangscodes

Um Mehrfachabstimmungen zu unterbinden und um sicherzustellen, dass nur Einwohnerinnen und Einwohner an einer Abstimmung teilnehmen können, ist eine einmalige Registrierung erforderlich. Allerdings muss sichergestellt werden, dass zu keinem Zeitpunkt rückverfolgt werden kann, ob eine Person abgestimmt hat und wenn ja, wie. Zudem darf die Firma, welche die App betreibt, keinerlei Zugriff auf die Daten der Stadt erhalten.

Die Meldebehörde der Stadtverwaltung leitet die Meldedaten (Name, Anschrift, Geburtsdatum) an die abgeschottete Statistikstelle der Stadtverwaltung Tübingen. Die Firma, welche die App betreibt, stellt wiederum eine Liste mit Zugangscodes zur Verfügung. Jeder Code wird nun einer Person zugeordnet. Damit entsteht eine Liste der zulässigen Codes. Diese Liste, also ohne die Meldedaten, geht an die Firma.

Einmal jährlich erfolgt ein Abgleich der Liste der gültigen Zugangscodes. In der abgeschotteten Statistikstelle wird überprüft, welche Codes gesperrt werden müssen, weil die zugeordneten Personen nicht mehr in Tübingen leben oder verstorben sind. Zudem werden neu Teilnahmeberechtigte, also Personen die zugezogen sind oder die das 16. Lebensjahr vollendet haben, angeschrieben.

Mit diesen Sicherungsmaßnahmen ist die Rückverfolgung eines Abstimmungsverhaltens bereits ausgeschlossen. Dennoch soll noch eine weitere Sicherheit eingebaut werden. Stimmt eine Person ab, prüft das System zunächst nur, ob die Person abstimmungsberechtigt ist und ob sie noch nicht abgestimmt hat. Ist beides der Fall wird das konkrete Abstimmungsverhalten an einer anderen Stelle hinterlegt. Somit kann also nicht nur keine Verbindung zwischen den Meldedaten und dem Zugangscode hergestellt werden, auch eine Verbindung zwischen dem Zugangscode und dem jeweiligen Abstimmungsverhalten ist nicht möglich.

Der Landesbeauftragte für den Datenschutz und Informationsfreiheit Baden-Württemberg hat gegen dieses Verfahren keine datenschutzrechtliche Bedenken erhoben.

Sicherheit

Neben dem Datenschutz ist eine zweite wichtige Voraussetzung, dass ein hoher Sicherheitsstandard angelegt wird. Es muss weitestgehend ausgeschlossen werden, dass von außen eine Abstimmung manipuliert wird, indem bspw. nicht genutzte, aber grundsätzliche zulässige Zugangscodes genutzt werden oder direkt das Abstimmungsergebnis verfälscht wird. Eine hunderprozentige Sicherheit gegen Hackernetzwerke wird es nicht geben, die beteiligten Firmen und die Verwaltung legen aber großen Wert darauf, maximale Sicherheit zu ermöglichen. Die App wird daher zusätzlich einem Sicherheitscheck durch einen externen Anbieter durchlaufen.

Der Weg bis zur ersten Abstimmung

Der Tübinger Gemeinderat hat im Oktober endgültig den Weg zur Entwicklung der BürgerApp freigemacht. Damit können die beiden Firmen nun mit der Programmierung der App beginnen. Die erste Befragung kann dann voraussichtlich im ersten Halbjahr 2018 stattfinden. Gemeinderat, Verwaltung und die Firmen sind gespannt, ob sich die Erwartungen erfüllen.

 

Ulrich Narr

Leiter des Fachbereichs Kommunales bei der Universitätsstadt Tübingen
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