10.02.2016

Interkulturalität im Betreuungsverfahren

Vertrauensvoll gemeinsam die beste Lösung für den Betroffenen finden

Interkulturalität im Betreuungsverfahren

Vertrauensvoll gemeinsam die beste Lösung für den Betroffenen finden

Interkulturelle Kompetenz gewinnt in Betreuungsverfahren zunehmend an Bedeutung.|© Gina Sanders - Fotolia
Interkulturelle Kompetenz gewinnt in Betreuungsverfahren zunehmend an Bedeutung.|© Gina Sanders - Fotolia

In der betreuungsgerichtlichen Praxis spielen Zuwanderer infolge eines wachsenden Bevölkerungsanteils mit Migrationshintergrund eine immer größere Rolle. Ein bedeutender Anteil der Wohnbevölkerung in Deutschland, nämlich fast zehn Prozent, besitzt keine deutsche Staatsangehörigkeit. Jeder fünfte Einwohner Deutschlands hat einen Migrationshintergrund. Immerhin 13,3 Prozent der Menschen in Deutschland verfügen über eine eigene grenzüberschreitende Migrationserfahrung.

Große Hemmschwelle bei Zuwanderern

Dieser gewachsenen Zahl an Verfahrensbeteiligten mit Migrationshintergrund muss kompetent begegnet werden. Hierfür erscheint ein gewisses Maß an interkultureller Kompetenz bei Behörde und Gericht unerlässlich. Denn gerade in Betreuungs- und Unterbringungsverfahren geht es nicht nur um die juristisch richtige Entscheidung, sondern Gericht, Betroffene, Betreuungsbehörde und evtl. Sozialarbeiter, Angehörige und Ärzte müssen oft gemeinsam an der besten Lösung für den Betroffenen arbeiten. Hier kann es um ganz existenzielle Dinge gehen, wie die Vermeidung von Fixierung, die Frage eines Umzugs in ein Heim, die Frage, wieviel Geld der Betroffene zur freien Verfügung haben darf u. v. a.

Die Arbeit an der für den Betroffenen besten Lösung setzt aber eine vertrauensvolle Zusammenarbeit des Gerichts und der Betreuungsbehörde mit dem Betroffenen und dessen Angehörigen voraus. Dies ist bei Zuwanderern nicht selbstverständlich, sondern es gibt oft eine große Hemmschwelle, Vertrauen zu der deutschen Behörde oder dem deutschen Gericht als Institution oder dem Behördenvertreter oder Richter als Person aufzubauen.


Als Folge kultureller Verschiedenheit von Betroffenen einerseits und Behörde und Gericht andererseits treten beispielhaft folgende typische Schwierigkeiten auf:

  • Unverständnis des Betreuungs- oder Unterbringungsverfahrens: Die verschiedenen Rollen der Beteiligten im Verfahren können durch Betroffene oder Angehörige nicht richtig eingeordnet werden;
  • Misstrauen oder (im Gegenteil) überhöhte Erwartungen an den Richter bei Betroffenen und Angehörigen;
  • Überempfindlichkeit aufgrund von Diskriminierungserfahrungen, Rückzugstendenz, Angespanntheit bei den Betroffenen;
  • Fehldeutungen von kulturell bedingtem Verhalten durch Ärzte oder Gericht.

Missverständnis um Wert der Selbstbestimmung

Das wohl häufigste Missverständnis zwischen Zuwanderern und Vertretern von Gericht und Behörde im Betreuungsverfahren ist der Wert, der der Selbstbestimmung im deutschen Betreuungsrecht beigemessen wird. Von vielen Zuwanderern wird diesem juristischen Konzept ein völliges Unverständnis entgegengebracht. Die Ursache liegt zumeist darin, dass in der Wertestruktur des Herkunftslandes die Selbstbestimmung nur eine untergeordnete Rolle spielt und das Familienoberhaupt, ein anderer Familienangehöriger oder ein als kompetent empfundener Dritter die Entscheidung für den Betroffenen trifft. Dies kann mit der Erwartung einhergehen, dass der Behördenvertreter oder der Richter mit einer klaren Ansage kommt, was jetzt zu tun ist. Es kann aber auch heißen, dass ein Betroffener sich der Entscheidung der Familie kritiklos unterwirft. In der Praxis bedeutet dies oft eine Gratwanderung zwischen der Anwendung des deutschen selbstbestimmungsorientierten Betreuungsrechts und dem, was der Betroffene an Selbstbestimmung zu leisten kulturell in der Lage ist. Selbstbestimmung kann dann eben auch die Unterwerfung unter die Entscheidung eines Dritten sein.

Zuwanderergruppen in der betreuungsgerichtlichen Praxis

Es gibt zwei Gruppen von Zuwanderern, die in der betreuungsgerichtlichen Praxis dominieren: von Demenz betroffene Menschen und Zuwanderer mit psychischen Erkrankungen. Geistig behinderte Menschen sind unter Zuwanderern unterrepräsentiert.

Betroffene mit Demenz:

Bereits jeder elfte Einwohner Deutschlands über 65 Jahre hat einen Migrationshintergrund, Tendenz steigend. Dementsprechend sind auch immer mehr demenzerkrankte Zuwanderer von Betreuungsverfahren betroffen. Die Kommunikation mit demenzkranken Zuwanderern bereitet ganz eigene Schwierigkeiten, die für das Gericht, Arzt und Behörde nur teilweise lösbar sind. Denn bei dieser Gruppe tritt häufig ein Zweitsprachenverlust auf. Erfahrungen und spät gelerntes Wissen und Fertigkeiten, die die Orientierung in der Aufnahmegesellschaft erleichtern, werden vergessen. Dies alles erschwert die persönliche Anhörung durch Behörde und Gericht, aber auch schon die ärztliche Begutachtung. Oft gelingt es gar nicht, demenzkranken Migranten die Situation der Begutachtung oder der Anhörung zu erklären.

Psychisch kranke Betroffene:

Die Häufigkeit psychischer Erkrankungen ist bei Zuwanderern im Vergleich zu Menschen ohne Migrationshintergrund erhöht.

Die Entwurzelung, die Aufgabe alter Sozialkontakte und einer gesellschaftlichen Stellung belastet immer, sie kann sogar traumatischen Charakter haben. Mit der Integration in die Aufnahmegesellschaft ist zudem ein Akkulturationsstress verbunden. Der Zuwanderer, der die Strukturen der Aufnahmegesellschaft, Sprache und Codes der Kommunikation nicht kennt, bewegt sich fast zwangsläufig in einer lang andauernden Überforderungssituation.

Diskriminierungserfahrungen und Stigmatisierungen erhöhen noch einmal das Risiko von Erkrankungen. Isolationsprozesse, die als Reaktion auf den Akkulturationsstress häufig vorkommen, vergrößern ebenfalls die Anfälligkeit für psychische Erkrankungen. Sollten ein unsicherer Aufenthaltsstatus, ein Asylverfahren oder ähnliches hinzukommen, ist das Risiko weiter erhöht. Besonders anfällig sind Flüchtlinge. Diese leiden häufig unter Traumafolgeerkrankungen, seien es PTBS, Depressionen oder andere Erkrankungen.

Kommunikation mit psychisch Kranken kann ohnehin sehr kompliziert sein. Bei schizophrenen Betroffenen treten schon mit Deutschen häufig Missverständnisse auf, bei Menschen mit einer anderen Muttersprache noch deutlich häufiger. Traumapatienten erfordern eine besondere Sensibilität, damit keine Retraumatisierungen durch Zwangsmaßnahmen oder einen Triggerkontakt entstehen.

Die Folge: Notwendigkeit interkultureller Kompetenz bei den Akteuren

Gericht und Behörde müssen sich auf die Besonderheiten interkultureller Kommunikation in den Verfahren einstellen. Interkulturelle Kompetenz, verstanden als die Fähigkeit, in interkulturellen Situationen effektiv und angemessen zu agieren, wird als Mittel der Sicherung größtmöglicher Freiheit und Lebensqualität der Betroffenen immer wichtiger.

Interkulturelle Kompetenz wird durch emotionale Aspekte, Einstellungen, Wissen, Fähigkeiten sowie eine allgemeine Reflexionskompetenz befördert.

Die Akteure sollten wissen und darauf eingestellt sein, ein kulturell bedingt anderes Verständnis von Krankheit, von Freiheit und von Selbstbestimmung anzutreffen. Wenn sie Betroffene zu Hause aufsuchen müssen, müssen sie sich bewusst sein, dass sie in einen Raum gehen, in dem andere Deutungshoheiten herrschen. Sie müssen sich der dort üblichen Art der Kommunikation anpassen und im Blick haben, dass jede Verletzung der dort geltenden Regeln für das Verfahren notwendiges Vertrauen zerstören kann. Findet die Anhörung dagegen in der Behörde oder dem Gericht statt, wirkt jedes Zugehen auf den Betroffenen oder die Angehörigen, jede Anpassung des Richters oder Behördenvertreters an die anderen Regeln der Kommunikation besonders vertrauensbildend.

Wichtig ist es auch, den Betroffenen und die Angehörigen auf überraschende Situationen vorzubereiten. Es hilft, vor dem Besuch oder auch vor einem Termin in Gericht oder Behörde schon viele Details mitzuteilen, etwa die geplante Dauer des Termins oder auch das Geschlecht des Behördenvertreters oder Richters.

Der Akteur des Betreuungsverfahrens sollte besondere Vorsicht walten lassen bei der Interpretation des Verhaltens eines Betroffenen oder auch eines Angehörigen. Es ist menschlich, Reaktionen klischeehaft zu interpretieren. Dabei kann vieles, was nach deutschen Konventionen als wunderlich und unangemessen empfunden wird, den Kulturmustern der Herkunftsgesellschaft des Zuwanderers entsprechen. Typische Missverständnisse treten bei Behördenvertretern, Richtern oder auch medizinischen Gutachtern auf, wenn z. B. andere Abstandskonventionen als Distanzlosigkeit oder übermäßige Distanz gedeutet werden oder wenn ein als sehr extrovertiert empfundenes Ausdrücken von Schmerz oder Unwohlsein pathologisch interpretiert wird. Aber auch bei der Interpretation von Rollen, die die Beteiligten in der Familie wahrnehmen, können sehr leicht aufgrund von Vorurteilen oder klischeehafter Wahrnehmung von Zuwanderern Fehler auftreten.

Und schließlich sollte sich der Akteur des Betreuungsverfahrens bewusst sein, dass sich die Zuwanderer auch bei gleicher Herkunft und Religion in ihrem Wertesystem erheblich unterscheiden können.

Um die notwendigen Fähigkeiten interkultureller Kommunikation entwickeln zu können, sind Fortbildungsangebote durch die Justiz- und Kommunalbehörden und deren Wahrnehmung durch die Akteure des Betreuungsverfahrens erforderlich.

 

Dr. Christian Dornis

Richter am Amtsgericht, Itzehoe
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