15.11.2014

EuGH kippt Mindestlohn in NRW

Sind alle Landesvergabegesetze europarechtswidrig?

EuGH kippt Mindestlohn in NRW

Sind alle Landesvergabegesetze europarechtswidrig?

EuGH: Mindestlöhne für öffentliche Aufträge, die im EU-Ausland ausgeführt werden, sind europarechtswidrig. | © bluedesign - Fotolia
EuGH: Mindestlöhne für öffentliche Aufträge, die im EU-Ausland ausgeführt werden, sind europarechtswidrig. | © bluedesign - Fotolia

Ein Paukenschlag des Europäischen Gerichtshofs (EuGH)! Seit dem 18. 09. 2014 steht fest: Die nordrhein-westfälische Regelung zu Mindestlöhnen verstößt gegen Europarecht.

Der deutsche Gesetzgeber darf Unternehmen nicht vorschreiben, bei öffentlichen Aufträgen ihren Mitarbeitern den NRW-Mindestlohn zu zahlen, wenn sie im Ausland viel günstiger produzieren könnten. Das Urteil des EuGH (Aktenzeichen: Rs. C-549/13) zum nordrhein-westfälischen Tarif- treue- und Vergabegesetz (TVgG NRW) wurde nicht nur von Juristen, sondern vor allem von öffentlichen Auftraggebern und Unternehmen mit Spannung erwartet. Nach der Entscheidung stehen nun neue Fragen im Raum: Was bedeutet die Entscheidung für künftige Vergabeverfahren? Müssen öffentliche Auftraggeber ihre Anforderungen ändern? Sind nun auch die Regelungen anderer Bundesländer hinfällig?

Entscheidung des EuGH

Nach dem nordrhein-westfälischen Tariftreue- und Vergabegesetz dürfen nur Unternehmen öffentliche Aufträge erhalten, die sich verpflichten, ihren Mitarbeitern bei der Ausführung des Auftrags einen Mindestlohn von € 8,62 zu zahlen. Diese Vorgabe verstößt gegen Europarecht – namentlich gegen die Dienstleistungsfreiheit, so der EuGH. Die Vorschrift, einen Mindestlohn zu zahlen, der sich an deutschen Lebenshaltungskosten orientiert, gilt daher nur für Aufträge, die auch in Deutschland ausgeführt werden. Aufträge, die im EU-Ausland ausgeführt werden, fallen nicht unter diese Vorgaben. Der EuGH führt dazu wörtlich Folgendes aus:


„Der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist insoweit zu entnehmen, dass die Verpflichtung zur Zahlung eines Mindestentgelts, die durch nationale Rechtsvorschriften den Nachunternehmern eines Bieters auferlegt wird, die in einem Mitgliedstaat ansässig sind, der nicht mit dem Mitgliedstaat identisch ist, dem der öffentliche Auftraggeber angehört und in dem Mindestlohnsätze niedriger sind, eine zusätzliche wirtschaftliche Belastung darstellt, die geeignet ist, die Erbringung Ihrer Dienstleistung im Aufnahmemitgliedstaat zu unterbinden, zu behindern oder weniger attraktiv zu machen. Eine Maßnahme wie die, um die es im Ausgangsverfahren geht, kann daher eine Beschränkung im Sinne von Art. 56 AEUV darstellen.”

Der EuGH sieht den Verstoß gegen die Dienstleistungsfreiheit darin, dass EU-ausländischen Unternehmen eine zusätzliche wirtschaftliche Belastung auferlegt wird, die geeignet ist, die Erbringung der Leistungen im Ausland weniger attraktiv zu machen. Denn die Bieter werden über die landesgesetzlichen Regelungen gezwungen, im EU-Ausland ihren Mitarbeitern einen Lohn zu zahlen, der (weit) über dem dort üblichen Lohnniveau liegt. Das nordrhein-westfälische Lohnniveau ist für die ausländischen Unternehmen daher praktisch gar nicht umsetzbar. Die Unternehmen werden durch die Vorgaben so davon abgehalten, sich um öffentliche Aufträge in Deutschland zu bewerben.

Zwar dürfen die einzelnen EU-Mitgliedstaaten eigene Maßnahmen treffen und auch für öffentliche Aufträge Vorgaben aufstellen. Zulässig ist dies aber nur dann, wenn diese Maßnahmen in irgendeiner Form gerechtfertigt erscheinen. Dies ist aber bei der Mindestlohnregelung nicht der Fall, so der EuGH. Insbesondere rechtfertige der Arbeitnehmerschutz diese Vorgaben nicht. Denn über die Mindestlohnregelung, die nur für öffentliche Aufträge gilt, werden nicht alle Arbeitnehmer geschützt, sondern nur die, die im Rahmen öffentlicher Aufträge eingesetzt werden. Da keine Anhaltspunkte vorliegen, warum Arbeitnehmer bei einem öffentlichen Auftrag schutzwürdiger sein sollen als bei der Ausführung eines privaten Auftrages, liegt in dieser Ungleichbehandlung ein Verstoß gegen Europarecht.

Zum Hintergrund:

Die Vorlage an den EuGH war in mehrfacher Hinsicht brisant. Zum einen ging der Bund selbst gegen das nordrhein-westfälische Landesgesetz vor. Zum anderen rief die Vergabekammer Arnsberg als „nur nationale Prüfinstanz” direkt die europäischen Richter an, ohne den Weg über das OLG Düsseldorf zu gehen.

Im konkreten Fall nahm das Bundesunternehmen Bundesdruckerei GmbH als Bieter am Vergabeverfahren der Stadt Dortmund für die Ausführung von Archivierungsleistungen teil. Das Angebot der Bundesdruckerei GmbH sah vor, für die Ausführung der Leistungen einen polnischen Nachunternehmer einzusetzen, der die Leistungen in Polen erbringen sollte. In den Vergabeunterlagen verlangte die Stadt Dortmund gemäß den Vorgaben aus dem nordrhein-westfälischen Gesetz, dass sich die Bieter bei Angebotsabgabe schriftlich verpflichten, bei Ausführung des Auftrags ihren Mitarbeitern einen Mindestlohn von € 8,62 zu zahlen und diese Pflicht auch ihren Nachunternehmern aufzuerlegen. Die Bundesdruckerei GmbH weigerte sich, dies für sich und ihren Nachunternehmer zuzusichern und wurde von der Stadt Dortmund – formal zutreffend – vom weiteren Verfahren ausgeschlossen. Die Bundesdruckerei GmbH zog vor die Vergabekammer Arnsberg. Diese legte die Frage, ob die Vorgabe zur Zahlung von Mindestlöhnen im EU-Ausland gegen Europarecht verstößt, direkt dem EuGH vor.

Folgen aus dem Urteil:

Die Entscheidung des EuGH betrifft konkret nur die Vorschriften in §§ 4 und 9 TVgG NRW und die Verpflichtung von Bietern mit Nachunternehmern aus dem EU-Ausland. Die Entscheidung berechtigt öffentliche Auftraggeber daher nicht, in künftigen Vergabeverfahren gänzlich auf eine entsprechende Erklärung von (Nach-)Unternehmern zu verzichten. Denn der öffentliche Auftraggeber kennt die Bewerber und Bieter im Vorfeld des Vergabeverfahrens nicht und weiß nicht, ob diese ihren Sitz im EU-Ausland haben. Vielmehr müssen öffentliche Auftraggeber die Erklärungen weiterhin standardmäßig fordern und die Bieter auf das EuGH-Urteil hinweisen. Die Bieter selbst müssen prüfen, ob sie aufgrund des Urteils eine Erklärung abgeben müssen oder durch das EuGH-Urteil von der Pflicht zur Vorlage von Erklärungen und zur Zahlung von Mindestlöhnen befreit sind, da sie ihre Leistungen im Ausland erbringen.

Nach der Entscheidung des EuGH wackeln nun auch andere Vergabegesetze. Neben Nordrhein-Westfalen haben fast alle Bundesländer ähnliche Regelungen in ihren Landesgesetzen:

  • Baden-Württemberg: Tariftreue- und Mindestlohngesetz für öffentliche Aufträge in Baden-Württemberg
  • Bayern:
  • Berlin: Berliner Ausschreibungs- und Vergabegesetz
  • Brandenburg: Brandenburgisches Gesetz über Mindestanforderungen für die Vergabe von öffentlichen Aufträgen
  • Bremen: Bremisches Gesetz zur Sicherung von Tariftreue, Sozialstandards und Wettbewerb bei öffentlicher Auftragsvergabe
  • Hamburg: Hamburgisches Vergabegesetz
  • Hessen: keine Mindestlohnvorgabe
  • Mecklenburg-Vorpommern: Gesetz über die Vergabe öffentlicher Aufträge in Mecklenburg-Vorpommern
  • Niedersachsen: Niedersächsisches Gesetz zur Sicherung von Tariftreue und Wettbewerb bei der Vergabe öffentlicher Aufträge
  • Rheinland-Pfalz: Landesgesetz zur Gewährleistung von Tariftreue und Mindestentgelt bei öffentlichen Auftragsvergaben
  • Saarland: Gesetz über die Sicherung von Sozialstandards, Tariftreue und Mindestlöhnen bei der Vergabe öffentlicher Aufträge im Saarland
  • Sachsen: keine Mindestlohnvorgabe
  • Sachsen-Anhalt: keine Mindestlohnvorgabe
  • Schleswig-Holstein: Gesetz über die Sicherung von Tariftreue und Sozialstandards sowie fairen Wettbewerb bei der Vergabe öffentlicher Aufträge
  • Thüringen: keine Mindestlohnvorgabe

Auch diese Gesetze sehen vor, dass die Unternehmen ihren Beschäftigten – soweit kein Tarifvertrag einschlägig ist – ein bestimmtes Mindestentgelt (zwischen € 8,50 in Brandenburg und € 9,18 in Schleswig-Holstein) pro Stunde zahlen müssen. Auch diese Mindestlöhne dürfen nach dem EuGH-Urteil nicht mehr für öffentliche Aufträge, die im EU-Ausland ausgeführt werden, gelten.

Neben dieser formalen Betrachtung darf nicht außer Acht bleiben, dass die EuGH-Entscheidung in künftigen Vergabeverfahren auch wirtschaftlich zu einem Ungleichgewicht zwischen den Angeboten führen wird. Denn die Mindestentlohnung ist kalkulationserheblich. Noch nicht geklärt ist die Frage, wie diese Inländerdiskriminierung gelöst bzw. mit dem vergaberechtlichen Grundsatz der Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung in Einklang gebracht werden soll.

Zu Ihrer Information:

Die Praxisgruppe „Öffentlicher Sektor und Vergabe” von Heuking Kühn Lüer Wojtek hält seit Jahren Rang 1 im Vergaberecht des JUVE Handbuchs Wirtschaftskanzleien. Sie ist laut „Kanzleien in Deutschland” für Infrastruktur die „erste Adresse am Markt”. Dr. Ute Jasper, Leiterin der Praxisgruppe, erhielt 2013 zahlreiche nationale und internationale Auszeichnungen. Die von Dr. Ute Jasper geführte Praxisgruppe konzipiert und gestaltet viele Infrastrukturprojekte des Bundes, der Länder und zahlreicher Städte und Gemeinden, beispielsweise den RRX, das größte Nahverkehrsprojekt in Deutschland.

 

Dr. Ute Jasper

Rechtsanwältin und Partnerin, Heuking Kühn Lüer Wojtek, Leiterin der Praxisgruppe „Öffentlicher Sektor und Vergabe“, Düsseldorf
 

Dr. Isabel Niedergöker

Mag. rer. publ., Rechtsanwältin, Heuking Kühn Lüer Wojtek, Düsseldorf
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