23.05.2022

Ein Virus schreibt keine Regeln – das machen Gesetze

Ein Meinungsbeitrag von Dr. Robert Seegmüller

Ein Virus schreibt keine Regeln – das machen Gesetze

Ein Meinungsbeitrag von Dr. Robert Seegmüller

Ein Beitrag aus »BDVR-Rundschreiben« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV
Ein Beitrag aus »BDVR-Rundschreiben« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV

„Hört auf die Wissenschaft!“ ist eine Forderung, die in der politischen Diskussion mit stetig wachsender Unversöhnlichkeit vorgetragen wird. Der Satz ist richtig! Er bedarf in dem vom Grundgesetz konstituierten demokratischen Rechtsstaat allerdings einer Einschränkung. Naturwissenschaft kann Gefolgschaft beanspruchen, soweit das Grundgesetz dies fordert oder jedenfalls zulässt.

Zunächst ein Blick auf die Gesetzgebung, also die Formulierung von Regeln für das Zusammenleben der Menschen in einer Gesellschaft. Das Grundgesetz zeichnet insoweit das Bild des rationalen Diskurses in den Parlamenten. Die Erschaffung von Gesetzen soll auf der Grundlage eines zutreffenden Sachverhalts und einer nachvollziehbaren Prognose über die Konsequenzen einer Regelung erfolgen.

Naturwissenschaft hat hier die Aufgabe, den Sachverhalt zu beschreiben, Wirkungszusammenhänge zu erklären und Folgen von Regelungen zu prognostizieren. Auf dieser Grundlage diskutieren die Mitglieder der Parlamente den Inhalt der zu treffenden Regelung und entscheiden sodann darüber. Äußerungen wie beispielsweise „Jetzt schreibt Omikron die Regeln“, wie sie in einigen Medien zu lesen waren, sind daher nur eines: nämlich falsch. Ein Virus schreibt nicht. Seine Existenz und seine Wirkungsweise sind Teil des Sachverhalts, auf dessen Grundlage die Legislative Regeln für das Zusammenleben der Menschen in Deutschland festlegt. Mit Formulierungen wie der genannten überschreitet Wissenschaft den ihr vom Grundgesetz zugewiesenen Aufgabenbereich. Die sie äußernden Personen versuchen damit den Eindruck einer Alternativlosigkeit hinsichtlich der von ihnen genannten Regelungsvorschläge zu vermitteln, wie zuletzt etwa Frank Ulrich Montgomery, der im Zuge eines Oberverwaltungsgerichturteils in Niedersachsen, das 2G im Einzelhandel gekippt hatte, von „Richterlein“ sprach. Dabei besteht diese Alternativlosigkeit – wie schon ein flüchtiger Blick über die Landesgrenze hinaus zeigt – nicht; womit ausdrücklich nicht vertreten werden soll, dass die dortigen Regelungsmodelle denjenigen, die derzeit in Deutschland bestehen, vorzugswürdig sind.


Die Rolle der Naturwissenschaft beim Handeln der Exekutive entspricht im Wesentlichen ihrer Rolle beim Handeln der Legislative. Das Handeln der Exekutive muss auf der Grundlage eines zutreffenden Sachverhalts erfolgen und mit den Vorgaben des Rechts übereinstimmen. Die Naturwissenschaft vermittelt der Exekutive die für das Erkennen des entscheidungserheblichen Sachverhalts erforderliche Sachkunde.

Das betrifft zum einen Tatsachen, die in der Vergangenheit liegen, soweit die Exekutive diese nicht selbst feststellen kann. Zum anderen geht es um die Prognose zukünftiger Ereignisse, soweit solche für die Entscheidungen der Exekutive von Bedeutung sind. Naturwissenschaft vermittelt insoweit geeignete Prognosemethoden.

Die Aufgabe von Justiz ist demgegenüber anders gelagert. Sie agiert nicht, wie die Legislative oder die Exekutive. Sie kontrolliert. Gesetz und Recht sind der Maßstab, den das Grundgesetz der Justiz bei der Überprüfung von Rechtsakten der Legislative und der Exekutive vorgibt. Aufgabe der Gerichte ist es, das jeweils einschlägige Recht zu erkennen und sich daraus eventuell ergebende Normkonflikte aufzulösen. Das geschieht durch Auslegung der relevanten Rechtsvorschriften nach den in der juristischen Wissenschaft anerkannten Auslegungskriterien. Ergibt die Auslegung der einschlägigen Rechtsnormen, dass diese sich widersprechen, kommen die in der juristischen Wissenschaft anerkannten Methoden zur Auflösung solcher Konflikte zur Anwendung. Die kompetenzgemäß erlassene höherrangige Norm verdrängt danach die widersprechende niederrangige Norm. Die später erlassene Rechtsvorschrift verdrängt die frühere, und die speziellere verdrängt die allgemeinere – um einige Methoden zur Auflösung von Normkonflikten zu nennen. Der Hilfe der Naturwissenschaft bedürfen die Gerichte bei alldem nicht. Sie müssen insoweit selbst entscheiden.

Das Grundgesetz verpflichtet die Gerichte zudem zu kontrollieren, ob Legislative und Exekutive bei der Normgebung bzw. der Normanwendung von einem rechtlich nicht zu beanstandenden Sachverhalt ausgegangen sind. Diese Aufgabe ist häufig ohne Zuarbeit der medizinischen und der übrigen Naturwissenschaft nicht zu bewältigen. Um beispielsweise zu erkennen, ob zum Zeitpunkt einer gerichtlichen Entscheidung eine bestimmte Erkrankung vorliegt, ist medizinische Expertise unerlässlich. Gleiches gilt für Ereignisse in der Zukunft, an deren Eintritt der Gesetzgeber Rechtsfolgen knüpft – wie etwa eine drohende Überlastung von Intensivstationen.

Auch insoweit geht es nicht ohne naturwissenschaftliche Hilfe. Die Aussagen der Naturwissenschaft dürfen Gerichte aber nicht kritiklos hinnehmen. Sie können nur dann Grundlage gerichtlicher Entscheidungen sein, wenn die angewendete Methode wissenschaftlich vertretbar ist, die Ausgangstatsachen zutreffend sind und die wissenschaftliche Methode korrekt auf die Ausgangstatsachen angewendet wurde. Es ist Aufgabe der Gerichte, dies einzuschätzen.

Kommt ein Gericht nach sorgfältiger Prüfung zu dem Ergebnis, dass eine wissenschaftlich belastbare Erkenntnis zur Gefährlichkeit des Einkaufens im Einzelhandel ohne vollständige Impfung (2G-Regelung) fehlt, kann dies zur Beanstandung eines Einkaufsverbots für Ungeimpfte führen, wie zuletzt durch das OVG Lüneburg.

Um sicherzustellen, dass Richter ihre Entscheidung nur nach Gesetz und Recht treffen, schützt das Grundgesetz ihre Entscheidungsfindung in besonderer Weise. Richter sind „unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen“, bestimmt Art. 97 Abs. 1 GG. Sie treffen ihre Entscheidung sachlich unabhängig im Sinne von weisungsfrei. Zudem sind sie persönlich unabhängig. Sie dürfen wegen ihrer Entscheidungen keine persönlichen Nachteile erfahren.  Schon die Androhung solcher ist unzulässig. Die Garantie der richterlichen Unabhängigkeit spricht den Richter aber weder von der Verantwortung für seine Entscheidung noch davon frei, wegen seiner Entscheidung inhaltlich kritisiert zu werden. Der Richter verantwortet, dass seine Entscheidung in jeder Hinsicht an Gesetz und Recht orientiert ist.

Mit dem Ergebnis seiner Entscheidung und der sie tragenden Begründung muss er sich sachlicher, heißt an seinen Argumenten orientierter Kritik stellen. Solche muss er nicht nur aushalten, sie ist sogar ausdrücklich erwünscht. Sie gibt ihm Gelegenheit, seine Argumente zu reflektieren und mit Blick auf zukünftige vergleichbare Entscheidungen zu hinterfragen.

Ein sich daraus ergebender, an der Sache orientierter Dialog der Wissenschaften, in dem jede Seite die jeweilige Rolle respektiert, schafft die Grundlage für gute, qualitativ hochwertige allgemein akzeptierte juristische Entscheidungen.

 

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag erschien in der Welt am Sonntag vom 2. Januar 2022. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Welt am Sonntag.

Entnommen aus dem BDVR – Rundschreiben, Heft 1/2022.

 

 

Dr. Robert Seegmüller

Richter am Bundesverwaltungsgericht und Vorsitzender des Bundes Deutscher Verwaltungsrichter und Verwaltungsrichterinnen
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