Die verfassungsprägende Kraft der Verwaltungsgerichte
Eine tragende Säule des Rechtsstaats
Die verfassungsprägende Kraft der Verwaltungsgerichte
Eine tragende Säule des Rechtsstaats

Die Verwaltungsgerichte haben die ihnen kraft ihrer Verfassungs- und insbesondere Grundrechtsbindung zugewiesene Aufgabe, das Grundgesetz in konkreten Verwaltungsstreitfällen zur Anwendung zu bringen und auf diese Weise tatsächlich wirksam werden zu lassen, von Beginn an ebenso aktiv wie affirmativ erfüllt. Sie haben die verfassungsrechtliche Durchdringung des Verwaltungsrechts vorangetrieben und Verfassungsrecht sowie Verfassungsrechtsprechung mitgeprägt.
1. Einleitung
Wir begehen heute feierlich das 75-jährige Jubiläum der nordrhein-westfälischen Verwaltungsgerichtsbarkeit. Solche Feiern dienen der Selbstvergewisserung. Sie können Anlass geben zur Rückschau, zu einer Standortbestimmung oder einem Ausblick auf Kommendes. Ich möchte heute mit Ihnen gedanklich zurückreisen in die ersten Dekaden der Verwaltungsgerichtsbarkeit unter dem Grundgesetz. Lassen Sie uns gemeinsam darauf schauen, wie – das ist meine These – gerade die Verwaltungsgerichte nach 1949 die neue Verfassung mit Leben erfüllt und auf diese Weise den freiheitlichen Rechtsstaat des Grundgesetzes in seiner uns heute vertrauten Gestalt maßgeblich mitgeprägt haben!
2. Historische Ausgangslage
Die Entstehung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Nordrhein-Westfalen reicht bis vor die Gründung des Landes im August 1946 zurück. Im Auftrag der britischen Besatzungsmacht waren zunächst regionale Regelungen über die Wiederaufnahme der Verwaltungsgerichtsbarkeit erlassen worden.2 Im September 1948 trat sodann die Verordnung 165 der britischen Militärregierung über die „Verwaltungsgerichtsbarkeit in der britischen Zone”3 in Kraft. Sie ordnete an, dass die Verwaltungsgerichtsbarkeit „von unabhängigen, nur dem Gesetz unterworfenen und von den Verwaltungsbehörden getrennten Gerichten ausgeübt” wird (§ 1 Abs. 1). Eine Generalklausel begründete die Zuständigkeit der von den ordentlichen Gerichten gesonderten Verwaltungsgerichte für sämtliche „Streitigkeiten des öffentlichen Rechts mit Ausnahme von Verfassungsstreitigkeiten” (§ 22 Abs. 1). Vorgesehen war ein zweistufiger Gerichtsaufbau in jedem Land (§ 2). Dementsprechend wurden im Sommer 1949 in Nordrhein-Westfalen ein Oberverwaltungsgericht und sieben Landesverwaltungsgerichte errichtet.4 Am 31. August nahm das Oberverwaltungsgericht in Münster seine Tätigkeit auf,5 also fast auf den Tag genau heute vor 75 Jahren.
75 Jahre – die Zeitspanne eines Menschenlebens und fast dreier Generationen. In der historischen Rückschau ist bemerkenswert, dass man im August 1949 auf nahezu den gleichen Zeitraum seit der Errichtung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts im Jahr 18756 zurückblicken konnte. Man tat dies auch sehr bewusst und sah sich dabei nicht nur nach der räumlichen Zuständigkeit in der Nachfolge des Preußischen Oberverwaltungsgerichts. Das von dem ersten Münsteraner Präsidenten, vormaligen Preußischen Oberverwaltungsgerichtsrat und Mitglied im Kreisauer Kreis, Paulus van Husen,7 mitverfasste Vorwort zum ersten Band der Entscheidungssammlung der Oberverwaltungsgerichte Münster und Lüneburg illustriert dieses Selbstverständnis in der Gründergeneration des Jahres 1949 deutlich. Die beiden jungen Oberverwaltungsgerichte seien, so heißt es darin, „dazu berufen, die Tradition des preußischen Oberverwaltungsgerichts fortzuführen und sie den gewandelten Verhältnissen anzupassen.”8
Indes reicht die rechtsstaatliche Traditionslinie einer unabhängigen Verwaltungsgerichtsbarkeit ideengeschichtlich noch weiter zurück. Schon die im März 1849 in der Frankfurter Paulskirche beschlossene Reichsverfassung, deren Verabschiedung sich in diesem Jahr zum 175. Mal jährt, erteilte der damals vorherrschenden Administrativjustiz, also einer ausschließlich verwaltungsinternen Rechtskontrolle eine Absage zugunsten einer Überprüfung des Verwaltungshandelns durch unabhängige Gerichte. Ihr § 182 bestimmte dazu nüchtern und knapp: „Die Verwaltungsrechtspflege hört auf; über alle Rechtsverletzungen entscheiden die Gerichte.”
Wenngleich damit nach dem damaligen Verständnis die ordentlichen Gerichte gemeint waren9 und trotz des Scheiterns der Paulskirchenverfassung, war dies der historische Ausgangspunkt einer Entwicklung, in deren Verlauf nach und nach in nahezu allen deutschen Ländern unabhängige Verwaltungsgerichte entstanden.10 Hingegen blieb der spätere Auftrag der Weimarer Reichsverfassung zur Errichtung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit auch im Reich11 in weiten Teilen unerfüllt.12 Das erst 1941 gegründete Reichsverwaltungsgericht,13 in dem das Preußische Oberverwaltungsgericht aufging, war nur die traurige Karikatur eines Verwaltungsgerichts in einem rechtsstaatlichen Sinn.14 Seine Mitglieder genossen keine persönliche Unabhängigkeit und waren ausdrücklich auf eine von nationalsozialistischer Weltanschauung getragene Rechtsauslegung verpflichtet.15 Bereits zuvor war der verwaltungsgerichtliche Rechtsschutz massiv eingeschränkt worden.16
Der nach dem staatlichen Zusammenbruch des Jahres 1945 einsetzende Neuaufbau der Verwaltungsgerichte17 knüpfte wieder an die rechtsstaatliche Entwicklung seit der Paulskirche an und setzte diese fort. In der sowjetischen Besatzungszone blieb dies freilich eine kurze Episode. Schon 1952 wurden die Verwaltungsgerichte in der DDR wieder abgeschafft. Eine Rechtskontrolle staatlichen Handelns durch unabhängige Richter, die Existenz und gerichtliche Durchsetzung subjektiver Rechte des Einzelnen gegenüber dem Staat vertrugen sich – ebenso wie unter dem Nationalsozialismus – nicht mit der totalitären Weltanschauung der kommunistischen Machthaber. Erst im Gefolge der friedlichen Revolution von 1989 wurden auch im Osten unseres Landes wieder unabhängige Verwaltungsgerichte aus der Taufe gehoben.
Im Westen Deutschlands stand die Entwicklung der Verwaltungsgerichtsbarkeit nach dem Krieg unter günstigeren Vorzeichen. Die Verkündung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland am 23. Mai 1949 ist eine weitere historische Wegmarke, deren 75-jähriges Jubiläum wir in diesem Jahr begehen können und auf die unsere Nation mit Dankbarkeit und Stolz zurückblicken darf. Das Grundgesetz normierte nunmehr eine individualrechtliche Garantie umfassenden Rechtsschutzes durch unabhängige Gerichte gegen Rechtsverletzungen durch die öffentliche Gewalt (Art. 19 Abs. 4, Art. 92, 97 GG). Diese Garantie musste jedenfalls auf Bundesebene (auch) durch eine eigenständige Verwaltungsgerichtsbarkeit in Gestalt des Bundesverwaltungsgerichts eingelöst werden (Art. 95 Abs. 1 GG).18 In Nordrhein-Westfalen wurde eine eigenständige Verwaltungsgerichtsbarkeit durch eine institutionelle Garantie in der Landesverfassung abgesichert.19 Zu den bundesverfassungsrechtlichen Vorgaben, die für die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte unter dem Grundgesetz in besonderer Weise prägend werden sollten, gehörte in materieller Hinsicht der an den Anfang der Verfassung gestellte Grundrechtskatalog mit der Menschenwürdegarantie an seiner Spitze, der als unmittelbar geltendes Recht für alle Staatsgewalten und damit insbesondere auch für den Gesetzgeber bindend war (Art. 1 Abs. 3 GG). Damit rückte das Individuum ins Zentrum von Staat und Recht. Der Verfassungsentwurf von Herrenchiemsee hatte diese Geisteshaltung in ebenso einfachen wie klaren und beeindruckenden Worten zum Ausdruck gebracht: „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen.” Die Durchsetzung der Grundrechte wurde institutionell abgesichert durch die Einrichtung einer Verfassungsgerichtsbarkeit mit der zunächst (1951) einfachrechtlich fundierten und später (1969) auch im Grundgesetz selbst festgeschriebenen Zuständigkeit für Individualverfassungsbeschwerden. Auch damit wurden Versprechen, die ein Jahrhundert zuvor in der Paulskirchenverfassung formuliert worden waren,20 verfassungsrechtliche Wirklichkeit in Deutschland.
3. Konstitutionalisierung der Rechtsordnung
Unter diesen normativen Rahmenbedingungen setzte alsbald ein Prozess der Durchdringung der gesamten Rechtsordnung durch Verfassungsrecht und Verfassungsrechtsprechung ein. Diese als Konstitutionalisierung bezeichnete Entwicklung ist vielfach beschrieben worden.21 Sie erfasste gerade auch den Gegenstand der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung, das die Verhältnisse zwischen dem Staat und seinen Bürgern ordnende Verwaltungsrecht. Dieses erschien nach der zum geflügelten Wort gewordenen Sentenz Fritz Werners,22 des dritten Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts, zunehmend als „konkretisiertes Verfassungsrecht”.
Als Motor der Konstitutionalisierung der Rechtsordnung wirkte das Bundesverfassungsgericht, das schon im ersten Jahrzehnt seiner Rechtsprechung wegweisende Entscheidungen fällte. Diese sind Ihnen bekannt: Das Elfes-Urteil von 195723 mit dem weiten Verständnis von Art. 2 Abs. 1 GG als Garantie der „allgemeinen Handlungsfreiheit”. Es hatte einen lückenlosen Grundrechtsschutz und in Verbindung mit dem formellen Grundrecht des Art. 19 Abs. 4 GG einen lückenlosen gerichtlichen Rechtsschutz gegen belastendes Verwaltungshandeln zur Konsequenz. Im Jahr darauf folgten das Lüth-Urteil24 und das Apotheken-Urteil.25 „Lüth” insbesondere mit dem Verständnis der Grundrechte als Elemente einer objektiven Wertordnung mit Ausstrahlungswirkung in die gesamte Rechtsordnung, das Apotheken-Urteil mit der Formulierung verfassungsrechtlicher Rechtfertigungsanforderungen für gesetzgeberische Grundrechtseingriffe in Abhängigkeit von der Eingriffsintensität einerseits und dem Gewicht sowie der Dringlichkeit des Eingriffszwecks andererseits.
4. Einfluss der Verwaltungsgerichte auf Verfassungsinterpretation und Verfassungsrechtsprechung
Bei der Betrachtung des Prozesses der Zusammenführung von Verfassungsrecht und einfachgesetzlicher Rechtsordnung liegt der Fokus vielfach auf dem Bundesverfassungsgericht und seinen Judikaten. Die sogenannten Fachgerichte erscheinen dabei zwar durchaus als aktive Beteiligte, indem sie den durch das Bundesverfassungsgericht konkretisierten verfassungsrechtlichen Vorgaben in der alltäglichen Rechtsprechungspraxis gewissermaßen Breiten- und Tiefenwirkung verschafft haben. Gleichwohl geraten sie insoweit aber eher als bloße Vollzugsorgane in den Blick. Ich möchte heute eine andere Perspektive einnehmen und rückblickend danach fragen, inwieweit die Verwaltungsgerichtsbarkeit in den ersten Jahrzehnten des Grundgesetzes schon von sich aus – originär – die verfassungsrechtliche Durchdringung des Verwaltungsrechts vorangetrieben sowie Verfassungsrecht und Verfassungsrechtsprechung beeinflusst und mitgeprägt hat.
Bevor ich dazu die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung selbst beleuchte, was im vorliegenden Rahmen nur schlaglichtartig für einzelne Bereiche anhand einiger herausragender Judikate möglich sein wird, möchte ich zunächst kurz den Blick auf personelle Einflüsse der Verwaltungsgerichte auf das Bundesverfassungsgericht lenken.
a) Personell
Betrachtet man zunächst die Anzahl der Verfassungsrichter, die zuvor als hauptamtliche Richter an Verwaltungsgerichten tätig waren, so ergibt sich ein unauffälliger Befund: Von den bislang 119 (100 %) Richterinnen und Richtern des Bundesverfassungsgerichts entstammten 14 (12 %) der Verwaltungsgerichtsbarkeit, 11 (9 %) davon kamen vom Bundesverwaltungsgericht. Unberücksichtigt sind dabei Professoren-Richter, die zuvor als nebenamtliche Verwaltungsrichter tätig waren, so etwa am Oberverwaltungsgericht Münster Paul Kirchhof, Udo Steiner und Hans-Jürgen Papier.
Jenseits einer rein zahlenmäßigen Betrachtung verdient Erna Scheffler besondere Erwähnung.26 Sie war nicht nur seit 1951 die erste – und damals einzige – Richterin des Bundesverfassungsgerichts, sondern zuvor seit 1949 in Düsseldorf auch die erste – und damals einzige – Richterin in der nordrhein-westfälischen Verwaltungsgerichtsbarkeit. Gewiss ist schon diese Pionierstellung bemerkenswert. Doch auch unabhängig davon handelte es sich bei Scheffler zweifelsohne um eine herausragende Richterpersönlichkeit. Sie war zunächst mit einem vielbeachteten Referat auf dem Deutschen Juristentag 1950 und sodann vor allem als Verfassungsrichterin maßgeblich und gegen erhebliche Widerstände auch innerhalb des Gerichts an der Durchsetzung des Verfassungsgebots der Gleichberechtigung der Geschlechter beteiligt.27 So war etwa das von ihr als Berichterstatterin mitverantwortete Gleichberechtigungsurteil vom 18. Dezember 195328 ebenso grundlegend wie deutlich: Der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 2 GG sei eine „echte Rechtsnorm”, also nicht lediglich ein nicht justiziabler Programmsatz, keine unverbindliche Verfassungslyrik. Und mehr noch: Art. 117 Abs. 1 GG, wonach mit Art. 3 Abs. 2 GG unvereinbares Recht nach Ablauf einer Übergangsfrist außer Kraft trat, war beim Wort zu nehmen und nicht etwa als verfassungswidriges Verfassungsrecht unbeachtlich – auch wenn damit große Teilen des damaligen Ehe- und Familienrechts ersatzlos wegfielen. Wenige Jahre darauf (1959) erging dann das Urteil zur Verfassungswidrigkeit des väterlichen Stichentscheids bei Ausübung der elterlichen Sorge,29 das, wie am Folgetag in der FAZ zu lesen war, „der Richter am Bundesverfassungsgericht, Frau Dr. Erna Scheffler, […] anstelle des erkrankten Präsidenten […] mit einem Lächeln [verkündete]”.30
Den gesamten Beitrag entnehmen Sie den NWVBl. Heft 12/2024.