15.03.2017

Der Kopftuchstreit vor dem EuGH

Zwei Generalanwältinnen kommen in ihren Schlussanträgen zu unterschiedlichen Ergebnissen.

Der Kopftuchstreit vor dem EuGH

Zwei Generalanwältinnen kommen in ihren Schlussanträgen zu unterschiedlichen Ergebnissen.

Kopftuch tragen in privatwirtschaftlichen Unternehmen | © Angela Wulf - Fotolia
Kopftuch tragen in privatwirtschaftlichen Unternehmen | © Angela Wulf - Fotolia

Vorbemerkung der Redaktion: Der Euro­päische Gerichtshof hat am 14. März 2017,  kurz vor der Veröffentlichung des nachfolgenden Beitrags, seine Entscheidung in den beiden Vorlagefällen aus Belgien und Frankreich bekannt gegeben. Das Update finden Sie am Ende des Beitrags.


Berichtet wurde in der Januar-Ausgabe über zwei Vorabentscheidungsverfahren des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) aus Belgien und Frankreich zum »islamischen Kopftuch« in privatwirtschaftlichen Unternehmen. Sie liegen dem EuGH vor und sind in nächster Zeit zu entscheiden. Dass die Urteile überall in der EU mit Spannung erwartet werden, versteht sich fast von selbst. Die Brisanz der bevorstehenden Entscheidungen wird jedoch noch dadurch gesteigert, dass die beiden Generalanwältinnen, Juliane Kokott als deutsche Generalanwältin im belgischen Vorlagefall und Eleanor Sharpston als britische Generalanwältin im französischen Vorlagefall zu entgegengesetzten Entscheidungsvorschlägen gekommen sind: Das Vorgehen des Arbeitgebers im belgischen Fall soll mit Unionsrecht, genauer mit der Antidiskriminierungsrichtlinie 2000/78/EG, vereinbar sein, im französischen Fall dagegen nicht.

Schlussanträge: ergänzend oder doch gegensätzlich?

Achim Albrecht, der Autor des Publicus-Artikels »Kopftuchstreit erreicht Europa«, widerspricht allerdings diesem Eindruck der Gegensätzlichkeit der beiden Schlussplädoyers. Er behauptet geradezu das Gegenteil, dass sie nämlich gut miteinander vereinbar seien und sich sogar aufs Schönste ergänzen würden. Albrecht erklärt die Diskrepanz im Ergebnis mit der Unterschiedlichkeit des Sachverhalts. Dabei widerfuhr den beiden Musliminnen am Ende dasselbe, nämlich die Entlassung, weil sie sich weigerten, das Kopftuch abzunehmen.
Unterschiedlich war die jeweilige Vorgeschichte: Im belgischen Vorlagefall (Samira Achbita versus G4S Secure Solutions NV, Rechtssache C-157/15) existierte eine generelle betriebliche Regelung, die zunächst ungeschrieben von der Geschäftsleitung angeordnet, später schriftlich niedergelegt und mit dem Betriebsrat abgestimmt worden war. Demnach sollten sich alle Beschäftigten religiös, weltanschaulich und politisch »neutral« verhalten und keine entsprechenden Überzeugungen »sichtbar« zum Ausdruck bringen oder Riten befolgen. Im französischen Vorlagefall (Asma Bougnaoui versus Micropole SA, Rechtssache C-188/15) gab es eine solche generelle Regelung nicht. Hier kam es zur Kündigung gegenüber der Kopftuch tragenden Software-Ingenieurin, nachdem sich ein Kundenunternehmen darüber beschwert hatte, dass die Mitarbeiterin der Firma Micropole SA mit Kopftuch zur Beratung erschienen war. Weil der Kunde für die Zukunft darum gebeten habe, dass es »nächstes Mal keinen Schleier« geben möge, verlangte der Arbeitgeber von Asma Bougnaoui, dass sie das Kopftuch zukünftig bei solchen Kundenterminen abnehmen sollte, was sie aber verweigerte.


Unmittelbare oder »nur« mittelbare Diskriminierung?

Macht die Existenz einer »generellen betrieblichen Regelung« tatsächlich so einen großen Unterschied für die Vereinbarkeit mit europäischem Recht? Aus Sicht der deutschen Generalanwältin im belgischen Vorlagefall ergab sich aus der unternehmerischen Neutralitätsanordnung gegenüber allen Beschäftigten der Schluss, dass es sich bei dem Kopftuchverbot lediglich um eine »mittelbare« Diskriminierung der Klägerin handele. Samira Achbita sei nicht wegen ihrer Zugehörigkeit zum Islam benachteiligt worden, sondern wegen ihres »sichtbaren« Bekenntnisses. Sichtbarkeit sei ein »neutrales« Kriterium im Sinne von Art. 2 Abs. 2 b der Richtlinie, und die Kündigung stelle eine verhältnismäßige Folge dar, weil mildere Mittel nicht zur Verfügung gestanden hätten.

Die mittelbare Diskriminierung in Form eines generellen Verbots sichtbarer religiöser, weltanschaulicher und politischer Zeichen lässt sich aus der Sicht der Generalanwältin Kokott auch nach Maßgabe der Verhältnismäßigkeit rechtfertigen, denn das unternehmerische Recht zur Durchsetzung der Neutralitätspolitik erwachse aus dem »Direktionsrecht« des Unternehmers und wiege schwerer als das Recht der Klägerin, zumal ihr Kopftuch – gemessen am Prinzip der Verhältnismäßigkeit – besonders auffällig und sichtbar sei, anders als etwa ein kleines goldenes Kreuz oder ein Davidstern am Kettchen. (Angesichts des eindeutigen Kriteriums der »Sichtbarkeit« erstaunt diese erneute Differenzierung, die am Ende des Textes die gutachterliche Stringenz der Argumentationslogik in Frage stellt.)
Im französischen Vorlagefall diagnostizierte Generalanwältin Sharpston dagegen eine »unmittelbare« Benachteiligung aufgrund der Religion und schloss gleichzeitig eine Rechtfertigung der Diskriminierung aus, denn unmittelbare Benachteiligungen lassen sich nach der Richtlinie gar nicht – außer bei Beschäftigten von Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaften (vgl. Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie) – oder nur sehr schwer rechtfertigen. Der Zweck und das Ziel der Richtlinie 2000/78/EG besteht gerade darin, Benachteiligungen wegen der aufgeführten und ins nationale Recht umgesetzten Diskriminierungskategorien zu verhindern. Auch Kundenwünsche können nach der EuGH-Rechtsprechung im belgischen Fall Feryn (Urteil vom 10.07.2008, Rs. C-54/07) nicht zur Rechtfertigung herangezogen werden, da sie nach Ansicht des Gerichtshofs in der Regel auf Vorurteilen beruhen und derartige Ausgrenzungen – im Fall Feryn ging es um die ethnische bzw. nationale Herkunft von potenziellen Arbeitskräften – durch das europäische Richtlinienrecht gerade bekämpft werden sollen.

Folgt man der Logik der Generalanwältin im belgischen Vorlagefall, so entscheidet argumentationsstrategisch die Einstufung als mittelbare Diskriminierung bereits weitgehend über das Endergebnis (Vereinbarkeit mit Unionsrecht). Aber ist dies alles wirklich plausibel? Ist vor allem die Einstufung als mittelbare Diskriminierung im belgischen Vorlagefall überzeugend? Und macht es sich der Autor Achim Albrecht nicht zu leicht, wenn er behauptet, dass die Schlussplädoyers der beiden Generalanwältinnen problemlos zusammenpassen, sofern man nur die Unterschiedlichkeit im Sachverhalt und in der Art der Diskriminierung berücksichtigt?

Sichtbarkeit als „neutrales“ Kriterium?

Tatsächlich ist die Einstufung der Diskriminierung im belgischen Vorlagefall als lediglich »mittelbare« ein leicht zu durchschauendes Strategiemanöver. Die deutsche Generalanwältin gesteht von vornherein zu, dass die Frage, ob ein pauschales Kopftuchverbot als »unmittelbare« oder »mittelbare« Diskriminierung anzusehen ist, bei Staaten, Gerichten und Kommentatoren umstritten ist (Rn. 41-43), weil hier direkt an eine »religiöse« Praktik angeknüpft wird. Bekanntlich tragen nicht alle Musliminnen das Kopftuch – auch Hijab, Veil oder Schleier genannt – und bedecken damit Haare, Ohren und Hals, jedoch wird es von einigen islamischen Geistlichen und nicht wenigen Gläubigen unter Berufung auf bestimmte Koranverse als religiöse Pflicht interpretiert. Zwar kann man die generelle betriebliche Anordnung in dem belgischen Sicherheitsunternehmen, dass keine sichtbaren Zeichen u. a. einer Religion getragen werden dürfen, nicht als Verbot des muslimischen Glaubens interpretieren, sondern nur eines sichtbaren Bekenntnisses. Jedoch lässt sich nicht übersehen, dass schon im Wortlaut des Verbots ein direkter Bezug zum Merkmal »Religion« hergestellt wird. D. h. die beschäftigte Person mit Kopftuch erfährt aufgrund ihrer Religion eine »weniger günstige Behandlung« als andere Beschäftigte im Sinne von Art. 2 Abs. 2 a der Richtlinie, was für eine unmittelbare Diskriminierung spricht. Musliminnen, die sich zu einem solchen sichtbaren Bekenntnis verpflichtet fühlen, werden nicht gleich behandelt wie Angehörige anderer Religionen, die keine derartige Verpflichtung empfinden oder wie nicht-religiöse Menschen. Da es Religionen mit und ohne Pflichten zum sichtbaren Bekenntnis gibt, darf diese Unterscheidung nicht zum Benachteiligungskriterium gemacht werden, denn sonst würde zwischen Religionen bewertend (störende versus nicht störende religiöse Praktiken) unterschieden. Würde dies rechtlich zugelassen, widerspräche es der Neutralitätspflicht des jeweiligen Staates und der EU. Der Rahmenrichtlinie gegen Diskriminierung in Beruf und Beschäftigung (2000/78/EG) lässt sich eine solche Tendenz sicherlich nicht unterstellen.

Kopftuch als verzichtbarer Brauch, »an der Garderobe abzugeben«?

Aber die Argumentation der Generalanwältin im belgischen Vorlagefall verfehlt noch in einer weiteren Hinsicht den Zweck und die Logik der Richtlinie. Sie versucht den unmittelbaren Bezug der generellen Regelung zu dem verpönten Merkmal »Religion« zu relativieren, indem sie zwar zugesteht, dass Art. 10 Abs. 1 der EU-Grundrechte-Charta auch die Art der Religionsausübung, etwa »durch Gottesdienst, Unterricht, Bräuche und Riten« als geschützt anerkennt, dass jedoch die Richtlinie bei den Diskriminierungskategorien implizite Unterschiede zulasse, nämlich danach, ob es sich um unveränderliche Merkmale wie Hautfarbe, ethnische Herkunft, Geschlecht, sexuelle Ausrichtung oder Behinderung handelt oder ob es um einen »Aspekt der privaten Lebensführung« geht; Kopftuchtragen ordnet sie letzterem zu. Während Arbeitnehmer/innen ihre unveränderlichen Merkmale nicht »an der Garderobe abgeben« könnten, sei es ihnen bei der Lebensführung durchaus zumutbar sich zurückzuhalten und bestimmte, noch dazu auffällige Kleidung zu vermeiden (Rn. 116). Mit anderen Worten: Kopftuchtragen ist nach Ansicht der Generalanwältin ein verzichtbarer Brauch, der auf die Freizeit beschränkt werden kann!

Hier verkennt die Generalanwältin den subjektiv als verpflichtend empfundenen Charakter von religiösen Kleidungspraktiken. Diese werden – zwar nicht von allen Glaubensangehörigen, aber doch von vielen Individuen – als integraler Bestandteil der eigenen religiösen Identität verstanden. Es gibt keinen plausiblen Grund, sie und damit das Merkmal »Religion« in solchen Fällen anders zu behandeln als unveränderliche Körpermerkmale. Immer vorauszusetzen ist, dass das Kleidungsstück die Person nicht hindert, ihre beruflichen Anforderungen in gleicher Weise zu erfüllen wie ohne das entsprechende Kleidungstück. Insofern macht es meist einen großen Unterschied, ob nur das islamische Kopftuch getragen wird oder zusätzlich ein Gesichtsschleier (»Burka« oder »Niqab«). Dieser schränkt nämlich regelmäßig die Fähigkeit zur offenen Kommunikation von Angesicht zu Angesicht ein. Diese Fähigkeit aber ist – funktional gesehen – meist eine entscheidende berufliche Anforderung.

Da das islamische Kopftuch in den meisten europäischen Staaten mit einem relevanten muslimischen Bevölkerungsanteil, ein Streitthema darstellt, was insbesondere für Staaten mit laizistischer Staatsideologie, wonach Religion aus der öffentlichen Sphäre ins Private verbannt sein soll, wie etwa Frankreich und abgeschwächt auch Belgien gilt, wäre es naiv zu übersehen, dass sich eine solche generelle Regelung in einem Unternehmen gerade gegen das islamische Kopftuch richtet. Insofern hätte die Generalanwältin dem möglichen Einwand, dass das Verbot auf einem Vorurteil beruht, durchaus mehr Aufmerksamkeit schenken können. Somit spricht mehr für die Annahme einer unmittelbaren Diskriminierung als für eine mittelbare Diskriminierung.

Welchen rechtlichen Stellenwert hat unternehmerische »Neutralitätspolitik«?

Wie steht es nun um die Bedeutung der unternehmerischen Neutralitätspolitik? Zunächst einmal ist festzustellen, dass ein Arbeitgeber in den europäischen Mitgliedsländern im Rahmen seines sog. Direktionsrechts die Befugnis besitzt, die betrieblichen Abläufe und Arbeitsvorgänge einzurichten und dabei auch zu bestimmen, wie die Beschäftigten mit Kunden umgehen und wie sie sich selbst äußerlich präsentieren sollen. Unter »neutralem Verhalten« ist aber in erster Linie Reden und Handeln zu verstehen. Im öffentlichen Dienst besteht weitergehend die Pflicht zur Ausübung staatlicher Neutralität gegenüber den Bürgern und Bürgerinnen – eine Konsequenz aus der Pflicht des Staates zur Gleichbehandlung. So oder so darf der Arbeitgeber u. U. Kleidungsvorgaben für die Beschäftigten machen. Ein privates Unternehmen kann z.B. eine Arbeitsuniform einführen und darf vorgeben, wie die Beschäftigten das Firmenprofil (»corporate identity«) in Verhalten und Auftreten nach außen darstellen. Es ist jedoch überwiegend anerkannt, dass bei einer Uniform eine passende Variante angeboten werden muss, mit der eine als verpflichtend empfundene religiöse Bekleidungsregel eingehalten werden kann. Das bedeutet, dass etwa ein Angehöriger der Sikhs einen Turban mit Firmenlogo tragen darf und eine Muslima ein entsprechend gestaltetes Kopftuch wählen darf. Denn so wie ein Unternehmer bei der Einstellung von Mitarbeiter/inne/n nicht etwa nach Hautfarbe, ethnischer Herkunft oder sexueller Ausrichtung selektieren darf, darf er dies auch nicht nach Religionszugehörigkeit, Weltanschauung oder politischen Meinungen bei bereits eingestellten Beschäftigten.

Wie verträgt sich diese nüchterne Erkenntnis nun mit dem unternehmerischen Recht der Profilierung seines Unternehmens auf dem Markt? Ein religiös, weltanschaulich und politisch »neutrales« Unternehmensprofil im Sinne einer (zurückhaltenden) Offenheit für Kunden und Bewerber/innen aller Richtungen ist demnach genauso zulässig wie eine spezifische Ausrichtung auf bestimmte Kundenkreise. Die Generalanwältin im belgischen Fall betont, dass eine unternehmerische Neutralitätspolitik, wie sie die beklagte Sicherheitsfirma offenbar betreibt, als legitimes Pendant zu einer forcierten »Politik der Vielfalt« verstanden werden könne. Aber darf ein Unternehmen die vorhandene Vielfalt religiöser Bindungen durch ein generelles Verbot sichtbarer Zeichen unsichtbar machen, wenn die Befolgung einer Bedeckungsregel von einzelnen Beschäftigten als persönlich verpflichtend empfunden wird? Warum sollte dies zulässig sein, wo doch das Grundrecht der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit (Art. 4 GG, Art. 10 EU-GR-Ch) grundsätzlich auch im privaten Arbeitsverhältnis berücksichtigt werden muss? Die Abwägung ist sowohl im europäischen Recht als auch im deutschen Verfassungsrecht relevant, zumal beide Grundrechte nicht unter ausdrücklichem Gesetzesvorbehalt stehen und somit immer konkret im Einzelfall gegen Grundrechte anderer Menschen oder überragende Gemeinschaftsgüter abgewogen werden müssen. Deshalb hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) 2002, d. h. bereits vor Inkrafttreten des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) (2006), die Kündigung einer Parfümerieverkäuferin in einem Kaufhaus, die nach einer Elternzeit ihre Tätigkeit nur noch mit Kopftuch fortsetzen wollte, für unwirksam erklärt. Denn die Arbeitnehmerin könne ihre vertragliche Tätigkeit mit Kopftuch genauso gut ausführen wie ohne Kopfbedeckung. Dass sich Kund/inn/en durch das Kopftuch vom Besuch der Parfümerieabteilung abschrecken lassen könnten und dadurch ein wirtschaftlicher Schaden entstünde, wies das Gericht als unsubstantiiert und unbewiesen zurück. Kundenwünsche oder Aversionen, die auf Vorurteilen gegen bestimmte Gruppen von Menschen aufgrund »verpönter« Merkmale beruhen, zählen also nicht (vgl. EuGH-Urteil zum Fall Feryn). Die BAG- und die EuGH-Rechtsprechung untermauert somit auch das Plädoyer der britischen Generalanwältin im französischen Vorlagefall (keine Vereinbarkeit mit EU-Recht).

Fragwürdig an der Rechtfertigungsstrategie der deutschen Generalanwältin im belgischen Vorlagefall ist also vor allem die umstandslose Qualifizierung der generellen betrieblichen Regelung, die sich auf die Untersagung »sichtbarer« religiöser, weltanschaulicher oder politischer Äußerungen bezieht, als legitime Neutralitätspolitik des Unternehmens. Hier wurde übersehen, dass entgegenstehende Rechte aus der Grundrechtssphäre der Arbeitnehmer/innen gegen das unternehmerische Direktionsrecht in Bezug auf das Outfit abgewogen werden müssen. Tatsächlich dürfte in der Mehrheit der Fälle gerade das Gegenteil von dem zutreffen, was die Generalanwältin im belgischen Vorlagefall annimmt: Nicht die Neutralitätspolitik des Unternehmens ist vorrangig, sondern das verbürgte Recht der einzelnen Muslima, die die Pflicht zum Kopftuchtragen als verbindlich ansieht und diesen Teil der Persönlichkeit »nicht an der Garderobe abgeben« will.

Der EuGH muss sich entscheiden!

Auch die britische Generalanwältin betont für den französischen Vorlagefall, dass selbst wenn die Benachteiligung nur als mittelbare Diskriminierung angesehen würde, der Religions- und Bekenntnisfreiheit großes Gewicht in der Abwägung zukäme, sodass sich dieses Grundrecht gegenüber dem unternehmerischen Direktionsrecht in der Kopftuchfrage wohl meist durchsetzen würde. Für »gänzlich verfehlt« hält Sharpston die Ansicht ihrer Kollegin, dass «zwar das Geschlecht und die Hautfarbe jeden Menschen überall hin begleiten, seine Religion jedoch nicht« (Rn. 118).

Würde sich der Europäische Gerichtshof dagegen dem Plädoyer der deutschen Generalanwältin im belgischen Vorlagefall anschließen und einen generellen Bann sichtbarer religiöser (und anderer) Zeichen als mit der Richtlinie 2000/78/EG vereinbar ansehen, so wäre zu befürchten, dass nicht nur in laizitären Staaten der Union, sondern auch in Mitgliedsländern mit einem kooperativen Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften der antimuslimische populistische Druck auf Privatunternehmen zu zahlreichen generellen Verbotsregelungen führen würde. Das wiederum würde die ohnehin vorhandenen religionspolitischen Konflikte in den europäischen Gesellschaften noch anfachen. Derartiges sollte der EuGH sich und uns allen ersparen!


Das Update

Die Entgegnung auf den Beitrag von Prof. Achim Albrecht „Kopftuchstreit erreicht Europa. Vorabentscheidungsverfahren aus Belgien und Frankreich beim EuGH“ wurde bereits vor einigen Wo­chen fertig gestellt, als ein Termin für die Entscheidungsverkündung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in Luxemburg zu den Kopftuchfällen aus Belgien und Frankreich nicht absehbar war. Nun hat der Euro­päische Gerichtshof überraschend am 14. März, kurz vor Veröffentlichung der Entgegnung, seine Entscheidungen in beiden Vorlagefällen bekannt gegeben. Die Pressemitteilung Nr. 30/17 gibt Auskunft über die wesentlichen Entscheidungsinhalte.

Entgegen der Erwartung und Hoffnung der Autorin des voranstehenden Beitrags hat der Gerichtshof weit­gehend die – hier kritisierte – Interpretation der Rechtslage durch die deutsche Generalanwältin im belgischen Vorlagefall übernommen, allerdings gewisse Einschränkungen zugunsten eines großen Entscheidungsspielraums nationaler Gerichte gemacht und das generelle unternehmerische Verbot „sichtbarer“ religiöser, philosophischer (=weltanschaulicher) oder po­litischer Zeichen auf solche Arbeitnehmer/innen beschränkt, die am Arbeitsplatz Sichtkontakt zu Kunden haben. Bestätigt hat der Gerichtshof damit zwar die Annahme des Autors Albrecht, dass das Vorhandensein der ge­nerel­len betrieblichen Verbotsregelung als sachverhaltlicher Unterschied zwischen dem belgischen und dem französischen Kopftuchfall große Bedeutung für das juristische Ergebnis haben würde. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die vom Gerichtshof gefundene Lösung für den belgischen Fall auch richtig ist und dass die beiden Generalanwältinnen sich über die grund­legenden Lösungswege einig gewesen wä­ren. Stattdessen wird die These des voranstehenden Beitrags, dass die Generalanwältinnen entgegenge­setzte Interpretationen der Rechtslage für die Kopftuchproblematik empfohlen haben, aufrecht er­halten und dem Ansatz der britischen Generalanwältin zugestimmt. Das bedeutet, dass die Kritik am Lösungsansatz der deut­schen Generalanwältin im belgischen Vorlagefall auch als Kritik an dem zwischenzeitlich ergangenen Urteil des Gerichtshofs im belgischen Vor­lagefall C-157/15 zu lesen ist. Das erübrigt natürlich nicht eine ausführliche Analyse der beiden Kopftuchentscheidun­gen des EuGH, gibt aber eine Art Vorschau darauf.

 

Dr. Sabine Berghahn

Dr. Sabine Berghahn

Juristin, Journalistin, Politikwissenschaftlerin und Privatdozentin, Berlin
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