16.01.2017

Kopftuchstreit erreicht Europa

Vorabentscheidungsverfahren aus Belgien und Frankreich beim EuGH

Kopftuchstreit erreicht Europa

Vorabentscheidungsverfahren aus Belgien und Frankreich beim EuGH

Kopftuchstreit erreicht Europa
Der EuGH hat über die Kriterien für die Zulässigkeit von Kopftuchverboten im privaten Sektor zu entscheiden. | © nmann77 - Fotolia

Nicht nur das BVerfG und der EGMR haben sich in jüngster Zeit wiederholt mit dem Widerstreit zwischen Meinungs-, Bekenntnis- und Religionsfreiheit und den unternehmerischen Direktionsrechten, der Sonderstellung von Tendenzbetrieben und der Ausstrahlungswirkung von Grundgesetz, EMRK und Antidiskriminierungsnormen beschäftigen müssen.

Auch der EuGH ist aktuell mit zwei vergleichbaren Vorabentscheidungsverfahren beschäftigt, die das Direktionsrecht von Unternehmen in Abschichtung zum Recht auf das Tragen eines islamischen Kopftuches am Arbeitsplatz betreffen. Es ist müßig zu erläutern, warum die beiden Verfahren auch für das deutsche Arbeitsrecht wegweisende Bedeutung haben. Von den Entscheidungen betroffen sind die Bereiche der unmittelbaren und mittelbaren Diskriminierung, der religiösen und weltanschaulichen Neutralität und der Grenzen unternehmensinterner Verbote als wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung.

Das Pikante an beiden Verfahren ist, dass die Generalanwältinnen der beiden Verfahren bei vorgeblich vergleichbaren Sachverhalten zu höchst unterschiedlichen Rechtsauffassungen kommen. In der Rechtssache C-188/15 kommt die Generalanwältin Eleanor Sharpston in ihrem Schlussantrag vom 13.07.2016 zu dem Ergebnis, dass eine in den Arbeitsplatzvorschriften eines Unternehmens enthaltene Regelung, die Arbeitnehmern des Unternehmens während des Kontakts mit Kunden das Tragen religiöser Zeichen oder Bekleidung verbietet, eine unmittelbare Diskriminierung wegen der Religion oder Weltanschauung beinhaltet, die nicht gerechtfertigt ist. Demgegenüber vertritt die Generalanwältin Juliane Kokott in der Rechtssache C-157/15 in ihrem Schlussantrag vom 31.05.2016 die Auffassung, dass das Verbot, am Arbeitsplatz ein islamisches Kopftuch zu tragen, keine unmittelbare Diskriminierung wegen der Religion darstellt, wenn sich dieses Verbot auf eine allgemeine Betriebsregelung zur Untersagung sichtbarer politischer, philosophischer und religiöser Zeichen am Arbeitsplatz stützt und nicht auf Stereotypen oder Vorurteile gegenüber bestimmten religiösen Überzeugungen im Allgemeinen. Solch mittelbare Diskriminierungen seien zulässig, um die Unternehmenspolitik der religiösen und weltanschaulichen Neutralität durchzusetzen, sofern dabei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet werde.


Scheinbare Spiegelbildlichkeit nur bei oberflächlicher Betrachtung

Gemeinhin folgt der EuGH den Schlussanträgen der Generalanwälte mit wenigen Ausnahmen. Da deutsche Arbeitsgerichte nach dem Vorliegen der Urteile gemäß Art. 257 Abs. 3 AEUV in vergleichbaren nationalen Verfahren auf eigene Vorabentscheidungsersuchen verzichten können, dafür jedoch an die EuGH Rechtsprechung gebunden sind, könnten widerstreitenden EuGH-Entscheidungen für ein hohes Maß an Rechtsverunsicherung sorgen. So würde auf europäischer Ebene die bislang uneinheitliche Rechtsprechung deutscher Arbeitsgerichte über die Zulässigkeit von Kopftuchverboten am Arbeitsplatz widergespiegelt.

Analysiert man die dem EuGH vorgelegten Fälle genau, muss man jedoch feststellen, dass ihre scheinbare Spiegelbildlichkeit nur einer oberflächlichen Betrachtung standhält, und die unterschiedlichen Akzentuierungen der Schlussanträge sich in Wirklichkeit bestens ergänzen und nicht widersprechen. Zusammengenommen bieten die beiden Schlussanträge ein valides und vollständiges Bild zum rechtmäßigen Umgang mit Kopftuchverboten in Unternehmen. Beide Argumentationen zusammengenommen verweisen auf ein klares Argumentationsraster mit verschiedenen Akzentuierungen, die es für die Zukunft nationalen Gerichten in EU-Mitgliedstaaten ermöglichen, Kriterien zu prüfen, die je nach Vorliegen und Abwägung in die eine oder andere Richtung ausschlagen. Die vorgeblich so unterschiedlichen Rechtsauffassungen der Generalanwältinnen erweisen sich bei genauer Betrachtung als zwei Seiten der gleichen Medaille.

Das Vorabentscheidungsersuchen des Kassationshofes, Belgien (C-157/15)

Erstmalig waren unionsrechtlich die auf den verschiedenen nationalen Ebenen leidenschaftlich diskutierten Fragen zu entscheiden: Darf ein privater Arbeitgeber einer Arbeitnehmerin muslimischen Glaubens verbieten, am Arbeitsplatz ein Kopftuch zu tragen? Und: Darf er sie entlassen, wenn sie sich weigert, am Arbeitsplatz das Kopftuch abzunehmen?

Rechtlicher Anknüpfungspunkt ist die Antidiskriminierungsrichtlinie 2000/78/EG und ihre Wirkung im privaten Sektor – für den öffentlichen Sektor gelten zahlreiche weitere Besonderheiten. Die Richtlinie unterscheidet zwischen unmittelbarer Diskriminierung und mittelbarer Diskriminierung, bestätigt ihre Anwendbarkeit in Beschäftigungs- und Arbeitsverhältnissen und legt fest, dass eine Diskriminierung nicht vorliegt, wenn das entsprechende Diskriminierungsmerkmal aufgrund der Art einer bestimmten beruflichen Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern es sich um einen rechtmäßigen Zweck und eine angemessene Anforderung handelt (Art. 1 – 4 der Richtlinie).

Im Ausgangsverfahren bestimmte der belgische Arbeitgeber der Klägerin in einer allgemeinen Arbeitsordnung, dass kein Arbeitnehmer am Arbeitsplatz sichtbare Zeichen politischer, philosophischer oder religiöser Überzeugungen tragen oder sonst zum Ausdruck bringen darf. Die Klägerin kündigte im April 2006 an, künftig aus religiösen Gründen auch während der Arbeitszeit ein Kopftuch zu tragen. Dieses Verhalten führte letztlich zu ihrer Entlassung.

Im belgischen Instanzenzug legte der Kassationshof dem EuGH die folgende Rechtsfrage zur Vorabentscheidung vor:

›‚Ist Art. 2 Abs. 2 a der Richtlinie 2000/78/EG so auszulegen, dass das Verbot, als Muslima am Arbeitsplatz ein Kopftuch zu tragen, keine unmittelbare Diskriminierung darstellt, wenn die beim Arbeitgeber bestehende Regel es allen Arbeitnehmern verbietet, am Arbeitsplatz äußere Zeichen politischer, philosophischer und religiöser Überzeugungen zu tragen?‹

Im Mittelpunkt der Rechtsüberlegungen steht also die Frage, ob es sich bei dem streitgegenständlichen Verbot um eine religiöse Diskriminierung unmittelbarer oder mittelbarer Art handelt. Für eine unmittelbare Diskriminierung würde sprechen, wenn die Klägerin wegen ihrer Religion eine weniger günstige Behandlung erfahren hat als andere Arbeitnehmer des Unternehmens. Da es sich bei der Arbeitsordnung jedoch um ein allgemeines Neutralitätsgebot handelt, das nicht zwischen bestimmten Anschauungen unterscheidet, liegt nach Auffassung der Generalanwältin keine unmittelbare, d.h. zielgerichtete und direkte Diskriminierung der Klägerin wegen ihrer Religion vor (Art. 2 Abs. 2 a der RiLi 2000/78). Allerdings ist das unbedingte Neutralitätsgebot faktisch und damit mittelbar geeignet, Personen bestimmter Religionen oder Weltanschauungen in besonderer Weise gegenüber anderen Arbeitnehmern zu benachteiligen, weil z.B. das sichtbare Tragen eines Kreuzes, einer Kippa oder eines islamischen Kopftuches untersagt sind (Art. 2 Abs. 2 b der RiLi 2000/78). Eine mittelbare religiöse Ungleichbehandlung kann jedoch durch jedes legitime Ziel sachlich gerechtfertigt sein, so z.B. zur Einhaltung besonderer beruflicher Anforderungen und dem Schutz der Rechte und Freiheiten anderer (Art. 1 und Art. 2 Abs. 5 der RiLi 2000/78).

Bei der Entscheidung der Frage, welches ›wesentliche und entscheidende, angemessene berufliche Anforderungen‹ im Arbeitsumfeld sind und ob sie einem rechtmäßigen Zweck dienen, steht dem Arbeitgeber ein weitgehender unternehmerischer Beurteilungsspielraum zu (Art. 16 der Charta der Grundrechte). Kleiderordnungen zur Aufrechterhaltung von Hygienestandards sind dabei als ebenso legitim einzustufen, wie Kleidungsvorschriften zur Beförderung eines Unternehmensbildes in der Öffentlichkeit (corporate identity). Entscheidend ist, ob die formulierte Anforderung ›angemessen‹ ist. Dabei sind die Merkmale ›geeignet, erforderlich und verhältnismäßig‹ zu prüfen.

Die Generalanwältin kam in ihren Erörterungen zu dem Ergebnis, dass das im Unternehmen geltende Neutralitätsgebot durch die Arbeitsordnung auf geeignete Weise geregelt wurde und auch kein milderes Mittel erkennbar war, um die Neutralitätsvorgabe durchzusetzen (etwa die Versetzung der Klägerin). Grundsätzlich habe der Wunsch der Arbeitnehmerin auf jederzeitige Sichtbarmachung ihrer Religionszugehörigkeit am Arbeitsplatz keinen Vorrang vor berechtigten Unternehmensinteressen. Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne erfordere eine Abwägung aller Umstände des Einzelfalls, um das Maß an Regulierung festzulegen, das einem Arbeitnehmer zuzumuten ist, ohne ihn übermäßig zu beeinträchtigen. In die Abwägung einzubringen sind die Größe und Auffälligkeit der verwendeten Zeichen, die Art der Tätigkeit der Arbeitnehmerin, die Frage, ob gleiche Einschränkungen auch für alle anderen gelten (Kontext, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird), und die nationale Identität des vorlegenden Mitgliedstaates, wie sie in seinen grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen zum Ausdruck kommt (Art. 4 Abs. 2 EUV).

In der Gesamtinteressenabwägung kam die Generalanwältin zu dem Ergebnis, dass vorliegend eine nur mittelbare und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechende Diskriminierung vorliegt, die es dem Arbeitgeber ermöglichen soll, seine legitime Politik der religiösen und weltanschaulichen Neutralität durchzusetzen.

Das Vorabentscheidungsersuchen des Kassationsgerichtshofes, Frankreich (C-188/15)

In dem französischen Parallelfall wurde die als Projektingenieurin tätige Klägerin von ihrem Arbeitgeber entlassen, weil sie auch im Kundenkontakt ihre islamische Bedeckung trug, obwohl ihr der Arbeitgeber signalisiert hatte, dass sie insbesondere im Kontakt mit Kunden das äußere Zeichen ihrer Religionszugehörigkeit wegen des von ihrem Arbeitgeber postulierten Neutralitätsgebotes nicht tragen dürfe.

In der Vorlagefrage ersuchte das vorlegende Gericht um Hinweise zur Anwendung von Art. 4 Abs. 1 der RiLi 2000/78 auf den von einem Kunden gegenüber dem Arbeitgeber geäußerten Wunsch, die Dienstleistungen nicht mehr durch eine Arbeitnehmerin erbringen zu lassen, die ein islamisches Kopftuch trägt. Der Kassationsgerichtshof möchte wissen, ob dieser Wunsch aufgrund der Art der betreffenden bestimmten beruflichen Tätigkeiten oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine ›wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung‹ im Sinne dieser Bestimmung darstellen kann.

Neben ausführlichen Erörterungen der Rechtslage in Frankreich und einer Würdigung der Rechtsprechung des EGMR zu der in Art. 9 EMRK garantierten Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, setzt die Generalanwältin ähnlich wie im Vergleichsfall bei dem Grad der Diskriminierung an. Dabei stellt sie heraus, dass im Kontext einer unmittelbaren Diskriminierung der Schutz des Unionsrechts stärker ausgeprägt ist, als bei der mittelbaren Diskriminierung – also einer nicht gezielten diskriminierenden Wirkung. Letztere kann dadurch gerechtfertigt werden, dass ein rechtmäßiges, nicht unmittelbar diskriminierendes Ziel verfolgt wird und die Maßnahme verhältnismäßig ist.

Die Entlassung der Klägerin erfolgte, weil sie trotz Neutralitätsgebot im Kundenkontakt ein religiöses Symbol deutlich sichtbar trug. Das Diskriminierungsverbot aus der RiLi 2000/78 gilt dabei nicht nur für Religion und Weltanschauung als solche, sondern auch für damit in Zusammenhang stehende Bekenntnisakte. Die Generalanwältin folgert, dass die Klägerin wegen ihrer Religion in dieser Situation eine weniger günstige Behandlung erfahren hat, als andere Personen in einer vergleichbaren Situation erfahren hätten, und diese damit unmittelbar im Sinne von Art.  2 Abs.  2  a RiLi2000/78 diskriminiert wurde.

In diesem Punkt liegt der wesentliche Unterschied zu den Erkenntnissen im Vergleichsfall. Dort ging die Generalanwältin gerade nicht von einer unmittelbaren, sondern nur von einer mittelbaren Diskriminierungswirkung aus. Unmittelbare, direkte Diskriminierungen jedoch sind nur unter besonders engen Voraussetzungen aus Art. 4 I RiLi2000/78 rechtfertigbar. Es ist zu prüfen, ob entscheidende berufliche Anforderungen gestellt wurden, deren Zweck rechtmäßig und die Anforderungen verhältnismäßig sind. Die Generalanwältin führt an dieser Stelle den 23.  Erwägungsgrund der Richtlinie an, wonach eine Abweichung vom Diskriminierungsverbot nur unter ›sehr begrenzten Bedingungen‹ möglich sein soll. Sie kommt in ihrer Abwägung zu dem Schluss, dass die Anforderung des Arbeitgebers, während des Kundenkontakts kein Kopftuch zu tragen, keine ›wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung‹ sein konnte – zumal die gute Arbeitsleistung der Klägerin außer Frage stand, etwaige finanzielle Nachteile für das beschäftigende Unternehmen kein derartiges Verbot rechtfertigten und auch der Schutz oder das Funktionieren einer demokratischen Gesellschaft ein solches Verbot nicht erforderten.

Zum Vergleich: Hätte der Arbeitgeber der Klägerin für alle Arbeitnehmer und für alle Arten von religiösen, weltanschaulichen und politischen Bekenntnisse ein umfassendes Neutralitätsgebot ausgesprochen, wäre man auch in diesem Fall zu einer mittelbaren Diskriminierung gekommen. Diese wäre schon dann gerechtfertigt gewesen, wenn die entsprechende Praxis durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt ist und die Mittel zur Erreichung des Ziels angemessen und erforderlich sind. Deutlich wird also, dass dann andere Prüfungs- und Erwägungskriterien maßgebend sind als bei einer unmittelbaren Diskriminierung. Eine solche lag im konkreten Fall aber vor, da sich die Aufforderung des Arbeitgebers ausschließlich auf das Tragen des islamischen Kopftuchs bezog.

Fazit

Bei genauer Analyse der beiden in Frage stehenden Vorabentscheidungen handelt es sich mithin nicht um nahezu identische Verfahren, die bei der Anwendung identischer Prüfungsgrundsätze zu weit voneinander abweichenden Ergebnissen führen. Vielmehr geht es um tatsächlich teilidentische Sachverhalte, die an denselben Prüfungsmaßstäben gemessen zu unterschiedlichen Prüfungskriterien führen – nämlich in einem Fall zu den weiter gefassten Erlaubnisvorbehalten bei Fällen mittelbarer Diskriminierung und im anderen Fall zu restriktiven Grundsätzen beim Vorliegen einer unmittelbaren Diskriminierung, die nur höchst eingeschränkt gerechtfertigt sein kann.

Unionsrechtlich gesehen führen beide Anträge somit zu einer Synopse möglicher Kriterien, an denen Kopftuchverbote in Unternehmen sowie jede andere Form von mittelbarer und unmittelbarer Diskriminierung künftig europarechtlich gemessen werden müssen. Unabhängig davon, wie der EuGH letztlich entscheidet, dürften diese Prüfungskriterien wichtige und valide Handlungsanweisungen für die nationalen Arbeitsgerichte bieten.

 

Professor Achim Albrecht

Westfälische Hochschule, Gelsenkirchen
n/a