24.04.2017

Das Referendum in der Türkei

Auswirkungen in Deutschland

Das Referendum in der Türkei

Auswirkungen in Deutschland

Das türkische Gesetz Nr. 6771 sieht Änderungen in 18 verfassungsrechtlichen Punkten vor. | © elzloy - Fotolia
Das türkische Gesetz Nr. 6771 sieht Änderungen in 18 verfassungsrechtlichen Punkten vor. | © elzloy - Fotolia

 

Das Ergebnis hat in seiner Konsequenz wohl die Wenigsten überrascht: Am Ostersonntag stimmte eine knappe Wahlmehrheit von 51% für die von Präsident Recep Tayyip Erdoğan eingebrachte Verfassungsänderung hin zu einem Präsidialsystem in der Türkei. Während seine Anhänger in Deutschland den Wahlsieg feierten, wurden nicht nur Vorwürfe gezielter Manipulationen laut, sondern auch die Frage, warum Menschen, die in einer Demokratie leben, ihre Stimme für ein undemokratisches System geben.

Gegenstand des Referendums und die damit verbundenen Verfassungsänderungen

Das türkische Gesetz Nr. 6771 sieht Änderungen in 18 verfassungsrechtlichen Punkten vor, mit welchen bis voraussichtlich November 2019 insgesamt 69 Artikel der Verfassung geändert werden sollen. Damit wird das bisherige parlamentarische Regierungssystem einem Präsidial- als Regierungssystem weichen.

Vorgesehen ist u.a., dass der Ministerrat als Staatsorgan abgeschafft wird, womit gleichzeitig das Amt des Ministerpräsidenten entfällt. Alle Befugnisse des Ministerrats werden auf den Präsidenten übertragen (außer das Gesetzesinitiativrecht, es sei denn, es betrifft das Haushaltsgesetz). Misstrauensvotum und Vertrauensfrage werden abgeschafft. Der Präsident ernennt und entlässt die Minister, sowie seine Stellvertreter, deren Anzahl in der Verfassung nicht begrenzt ist, ohne Mitwirkung des Parlaments. Der Präsident hat das Recht, Präsidialverordnungen zu erlassen, mit denen aber nicht in Grundrechte eingegriffen werden darf. Das suspensive Veto des Präsidenten kann künftig nur mit der Mehrheit der Gesamtzahl der Mitglieder überstimmt werden. Der Staatspräsident kann zukünftig Vorsitzender einer Partei werden oder bleiben.


Der Richter- und Staatsanwälterat soll von 22 auf 13 Mitglieder verkleinert werden, die Mitglieder des Rates sollen derweil von Präsident und Parlament bestimmt werden, ein Mitwirkungsrecht der Richterschaft, der Justizakademie, des Kassationshofs und des Staatsrats entfällt. Der Justizminister soll als Vorsitzender das Gremium leiten und sein Staatssekretär soll ordentliches Mitglied sein.

Daneben hat Präsident Erdoğan im Vorfeld mit der Wiedereinführung der Todesstrafe für das Referendum geworben.

Provokationen und Unruhen vor der Wahl

Und längst vor dem Referendum zeigte Erdoğan deutlich, welche Mittel er bereit ist einzusetzen, um die Entscheidung zu gewinnen. Vor allem Provokationen gehörten zum strategischen Repertoire im Wahlkampf. Während nach geltendem türkischem Recht für die Abstimmung des Verfassungsreferendums Wahlpropaganda u.a. auf offener Straße in der Türkei („seçim propagandası“, gemäß dem allgemeinen Wahlgesetz Nr. 298, Art. 50 Abs. 1) und auch im Ausland (gemäß Art. 94/A-E Abs. 5 des Gesetzes Nr. 298) untersagt ist, wurden Wahlkampfauftritte sowohl in der Türkei, als auch in mehreren europäischen Ländern betrieben. In Deutschland fanden im Vorfeld u.a. in Köln und Oberhausen Großveranstaltungen statt, während in anderen Kommunen aufgrund von Sicherheitsbedenken Veranstaltungen abgesagt und Forderungen nach einem generellen Redeverbot in Deutschland laut wurden. Türkische Regierungsvertreter reagierten erbost und mit Nazi-Vergleichen.

Im Vorfeld der niederländischen Parlamentswahl vom 15. März 2017 erklärte Ministerpräsident Mark Rutte entsprechende Auftritte zur Werbung für die Zustimmung zum Referendum als unerwünscht. Der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu ignorierte dies und reiste am 11. März dennoch zu einer Kundgebung nach Rotterdam, woraufhin ihm die Landeerlaubnis entzogen wurde. Als am selben Tag die türkische Familienministerin Fatma Betül Sayan Kaya mit dem Auto von Düsseldorf nach Rotterdam fuhr, stoppte die Polizei den Wagen und eskortierte sie bis zur deutsch-niederländischen Grenze zurück. Aufgrund dieser Behandlung bezeichnete Präsident Erdoğan die niederländische Regierung als Nationalsozialisten und Faschisten und erklärte die diplomatische Vertretung der Niederlande in der Türkei für unerwünscht. Im Zuge dieser Eskalation wurde die niederländische Botschaft abgeriegelt, Demonstranten versammelten sich in Istanbul vor dem Konsulat und protestierten gegen das Sprechverbot in den Niederlanden und skandierten in Sprechchören „Barbarisches Europa“ oder „Allahu  Akbar“.

Im Zuge dieser Auseinandersetzungen bezeichnete Erdoğan Europa unter anderem als „verrotteten Kontinent“ und stellte seinerseits den EU-Beitritt der Türkei in Frage, wobei er großen Zuspruch auch von seinen Anhängern in Deutschland erhielt, auch in den sozialen Netzwerken.

Neben solchen provokanten Auftritten wurden aber auch diverse Restriktionen im Vorfeld zur Wahl bekannt. Oppositionelle und kritische Journalisten wurden eingeschüchtert oder verhaftet, massiv in die Berichterstattung der Medien eingegriffen, Wahlkampfveranstaltungen der Gegenseite wurden verboten, Wahlbeteiligte aus kurdischen Gebieten wurden daran gehindert, sich für die Wahlen registrieren zu lassen. Die Liste der Mittel zur Schwächung ablehnender Positionen im türkischen In- und Ausland ist lang, etwaige Maßnahmen konnten direkt im Nachgang des mutmaßlichen Putschversuches vom 15. und 16. Juli 2016 beobachtet werden.

Unstimmigkeiten am Wahltag

Doch auch die Wahl selbst wurde von Unstimmigkeiten begleitet: Laut Aussagen der Opposition wurden bei den Auszählungen in den Wahlurnen über 2,5 Millionen Stimmzettel ohne Siegel gefunden. Kurz vor dem Beginn der Auszählung erklärte der Vorsitzende der obersten Wahlleitung der Türkei via Internet, dass alle Stimmzettel ohne Siegel auf deren Rückseite und alle Stimmzettel in ungestempelten Briefumschlägen gültig seien. Dabei ist das türkische Wahlgesetz in diesen Punkten eindeutig: Gemäß § 77 müssen die Wahlumschläge von der Wahlkommission des Regierungsbezirks und von der Wahlkommission an der Urne zweimal gestempelt sein. Nach § 101 seien abgegebene Stimmzettel ohne das Siegel der Wahlkommission ungültig. Die Vertreter oppositioneller Parteien kündigten Beschwerde an. Allerdings würde diese in letzter Instanz bei Richtern landen, die nach der Entlassungswelle tausender Juristen im Staatsdienst durch die türkische Regierung noch im Amt sind, bzw. die durch sie in selbiges als Ersatz zu den entlassenen berufen wurden.

Zudem wurden in sozialen Netzwerken Handyvideos gezeigt, die Austauschen von Wahldokumenten zeigen. Die Echtheit ist bislang allerdings nicht bestätigt. Die OSZE beklagt unterdessen die Zusammenarbeit mit der Türkei, da diese kein Interesse habe, die Vorwürfe des Wahlbetrugs aufzuklären.

Die eingesetzten Wahlbeobachter konnten die geäußerten Fälschungsvorwürfe weder bestätigen noch entkräften. Doch auch sie stellten an verschiedenen Orten Unstimmigkeiten fest. So wurde einigen Wahlbeobachtern der Zutritt zu den Wahllokalen zeitweise verwehrt, bzw. einige mussten während der Wahl unter Eskortierung durch Polizeikräfte Wahllokale für einige Zeit verlassen.

Auswirkungen und Reaktionen in Deutschland

Die Wahl betraf nicht nur die in der Türkei lebenden Menschen. Neben den dort etwa 55 Millionen Stimmberechtigten waren rund 3 Millionen in über 50 Ländern lebende Staatsbürger zur Teilnahme an der Volksabstimmung aufgerufen. In Deutschland waren rund 1,4 Millionen von ca. drei Mio. hier lebenden Türken wahlberechtigt und konnten zwischen dem 27. März und dem 9. April 2017 in den 13 konsularischen Vertretungen der Türkei wählen, da eine Briefwahl im türkischen Wahlrecht nicht vorgesehen ist. Von den Wahlberechtigten stimmten 412.149 Menschen für das Präsidialsystem, das entspricht einem prozentualen Verhältnis von gut 63 % Ja-Stimmen zu knapp 37 % Nein-Stimmen. Ein besonders hohes Aufkommen an Ja-Stimmen wurde in Nordrhein-Westfahlen registriert; in Essen erreichte deren Anteil sogar über 75 %.

Noch am Abend und in der Nacht des 16. April 2017 feierten Anhänger Erdoğans u.a. mit Autokorsos in München, spontane Demonstrationen in Gelsenkirchen, vor der Friedenskirche am Breitscheidplatz in Berlin und vor dem türkischen Konsulat in Frankfurt.  In Remscheid kam es zu Drohgebärden und vereinzelten Angriffen durch 300 AKP-Anhänger gegen Angehörige der Alevititischen Gemeinde. Immer wieder sind Aufnahmen der Anhänger Erdoğans mit türkischer Flagge und dem „Wolfsgruß“, dem Handzeichen der als rechtsextremistisch geltenden Grauen Wölfe zu sehen.

Während sich führende Politiker in Deutschland und Europa größtenteils sehr vorsichtig äußern, wird das Ergebnis in der Bevölkerung deutlich kontroverser diskutiert und interpretiert. Deutlich spürbar ist vor allem die Sorge ob des Ergebnisses, aber auch Unsicherheit hinsichtlich der deutschen Integrationspolitik. Allerdings kann das Abstimmungsergebnis angesichts der seit Monaten zu beobachtenden Entwicklungen kaum überraschen.

Die stellvertretende Vorsitzende des Integrationsrates der Stadt Köln, Jaklin Chatschadorin, überrascht der Ausgang der Wahlen keineswegs. Sie registriert die nationalistischen Tendenzen im Land schon lange: „Die Türkei hat seit dem Osmanischen Reich ein Rassismusproblem, im nationalislamistischen Lager ebenso wie im kemalistischen. Statt sich der Problematik bewusst zu werden und sich mit dieser nach westlichen Wertmaßstäben auseinanderzusetzen, rühmt man sich der Selbstüberhöhung und freut sich über jede Leben kostende Eroberung. So hat die alte, neue Diktatur Erdogans mit der Ankündigung, als erstes die Todesstrafe für auf Verdacht identifizierte politische Gegner einführen zu wollen, gewonnen. Ich fürchte, die Wahlmanipulationen waren nicht wirklich notwendig.“

Bekir Arslan, Gründer und Vorsitzender des Bildungs- und Erziehungsvereins „Hand in Hand e.V.“ sieht große Defizite im Demokratieverständnis der hier in Deutschland lebenden türkischstämmigen Ja-Wähler. Denn mit ihren 412.149 Ja-Stimmen sprächen sich diese Menschen für ein völlig demokratisch ausgehöhltes Präsidialsystem ohne Sicherheitsnetz aus. Bedenklich sei hierbei zudem, dass in Deutschland sozialisierte Mitbürger für die Todesstrafe stimmten, stellt Arslan fest. „Hier darf die Frage gestellt werden“, so Arslan weiter, „wer oder was auf diese Menschen solch einen großen Einfluss ausüben kann, dass alle Werte des Humanismus und der Aufklärung des 21. Jahrhunderts auf der Strecke bleiben, so dass sie gleichsam kein Problem damit haben, dass Andersdenkende, Journalisten, Intellektuelle verfolgt und inhaftiert werden und gleichsam völlig unverhältnismäßige staatliche Willkür gegen das eigene Volk kritiklos, ja eher zustimmend hingenommen wird.“ „An unseren Schulen kann es nicht liegen, denn sie lehren Pluralismus, Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit zu schätzen!“, fügt Arslan hinzu. „Wir müssen uns um diese Menschen bemühen, jedoch zuvor auch genau analysieren wo sich die Ja-Anhänger in ihrer Freizeit aufhalten, wo die Sozialisierung ihrer Kinder und Jugendlichen außerhalb von Schule und Elternhaus erfolgt, wo die Freizeitgestaltung vornehmlich stattfindet und wer als vermeintlicher Partner der Kinder- und Jugendarbeit sowie Integrationsarbeit aktiv ist und wie ihre Inhalte wirklich ausgerichtet sind.“, führt Arslan weiter aus, der mit seinem ehrenamtlichen Engagement seit Jahren mit vielen türkischstämmigen Familien Kontakte hat. Wegschauen oder laufen lassen geht nicht mehr, meint Arslan. Da es nicht nur diese Wähler wären, die es zu beachten gilt. „Damit meine ich die über 400.000 Ja-Stimmen.“, erklärt Arslan,“ sondern auch, dass sich dahinter Großeltern, Väter, Mütter, Onkel, Tanten, Brüder und Schwestern als Synonym für einen familiären Multiplikator verbergen sowie mit ihnen in der Community der soziale Druck weiter aufgebaut wird, denn sie sind ja die vermeintlichen Gewinner beim Referendum!“ Gemäß Arslan wäre hierbei bedenklich, dass so aus 400.000 schnell mal das Drei- oder Vierfache derer werden würden, die an Verschwörungen glauben, uns verachten sowie die Diktatur als Regierungsform ideal finden und die Todesstrafe als legitim ansehen.

Der Bundesvorsitzende der „Kurdischen Gemeinde in Deutschland e.V.“ (KGD), Ali Ertan Toprak betrachtet die Programmatik der AKP als Nationalislamismus: „Man könnte Erdoğan und seine Partei auch als türkische Reichsbürger bezeichnen.“ Die Wähler und Unterstützer der Evet-Kampagne nun mit Integrationsfehlern der deutschen Politik rechtfertigen zu wollen, empfindet er daher als verfehlt.

Deutliche Worte findet auch der ehemalige Berliner Abgeordnete Erol Özkaraca. Er sieht in der zustimmenden Mehrheit der türkischen Wähler in Deutschland ebenfalls die Legitimierung einer Diktatur des Islamfaschismus, der nicht mit den demokratischen Werten Deutschlands vereinbar sein kann und fordert Konsequenzen: „Menschen, die sich nicht mit dieser Gesellschaft identifizieren wollen, muss diese Gesellschaft weder mit einer Staatsbürgerschaft belohnen, noch ihr Leben finanzieren. Es gibt in unserem Land keine Aufenthaltspflicht! Wer sich nicht zu dieser Gesellschaft bekennt und sich nicht selbst seinen Lebensunterhalt verdienen kann, für den muss nicht die deutsche Gesellschaft Verantwortung übernehmen, sondern hier muss der türkische Staat seine Verantwortung für seine „Bürger“, die er stets instrumentalisiert, auch endlich übernehmen.“

Vorläufige Bewertung

Recep Tayyip Erdoğan hat schon 1998 sehr deutlich gesagt, wofür er steht und welches Ziel er verfolgt. Er zitierte folgende Zeilen aus einem islamischen Gedicht: Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten“. Der türkische Präsident hat Pläne und er setzt sie um. Weder verwundert das Ergebnis, noch Meldungen über diverse Unstimmigkeiten während der Wahl. Auch das Datum, dieses Referendum auf den höchsten christlichen Feiertag, nämlich Ostersonntag, dem Feiertag der Auferstehung Jesu Christus zu legen, kann angesichts der immer wieder vorgetragenen Allmachtsphantasien kaum verwundern.

Jedoch ist es die Politik in Deutschland und Europa, die mit diesem Ergebnis umgehen und Farbe bekennen muss. Welche Konsequenzen werden gezogen? Wie weit darf der Dialog mit dem Verfechter der Todesstrafe gehen? Welche Debatten müssen angesichts der Entwicklungen zur deutschen Integrationspolitik geführt werden? Wie soll das Verhältnis EU und Türkei von nun an geregelt werden? Welche Auswirkungen hat das Referendum auf die Nato-Mitgliedschaft der Türkei? Und vor allem: Welches Bedrohungspotential ist mit dieser Türkei verbunden und mit deren Unterstützern im Ausland?

Berichte zu Wahlmanipulationen sind dabei mittlerweile zweitrangig. Denn ganz egal, ob es tatsächlich zu derlei Manipulationen kam oder nicht, wird vermutlich nicht zweifelsfrei geklärt werden können. Doch angesichts der diversen Eingriffe im Vorfeld der Wahlen, den unzähligen Einschränkungen der Pressefreiheit in der Türkei, der Denunziationen regierungskritischer Stimmen als Gülenisten in Deutschland usw. wäre eine tatsächliche und aktive Fälschung am Wahltag nur das Tüpfelchen auf dem „i“ eines Wahlverfahrens, dass maximal noch wenig mit demokratischen Werten zu tun hat und den Weg für ein System ebnet, in dem elementare Menschenrechte akut bedroht sind.

 

Prof. Dr. Dorothee Dienstbühl

Professorin an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung (HSPV) Nordrhein Westfalen
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