10.04.2017

Auf dem Weg zu neuen Horizonten

Das Bundesteilhabegesetz für eine menschenwürdige Inklusion

Auf dem Weg zu neuen Horizonten

Das Bundesteilhabegesetz für eine menschenwürdige Inklusion

Auf dem Weg zu neuen Horizonten
Das Bundesteilhabegesetz schafft weiten Raum für eine wirksame Inklusion behinderter Menschen | © BillionPhotos.com - Fotolia

Wohl keine große sozialpolitische Reform in den letzten Jahren hatte einen längeren Vorlauf und war derart umstritten. Es schien kaum mehr vorstellbar, dass die seit über zehn Jahren mal mehr, mal weniger intensiv geführte Debatte um eine Neugestaltung des Rehabilitationsrechts, insbesondere des Rechts der Eingliederungshilfe, noch zu einem glücklichen Ende kommt. Ende 2016 hat es der Bundesgesetzgeber dann doch noch geschafft, das Artikelgesetz mit dem Titel »Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung« (Bundesteilhabegesetz – BTHG) zu verabschieden (veröffentlicht in BGBl.  I 2016 S. 3234).

Schwieriger Gesetzgebungsprozess

Ein erster Arbeitsentwurf des federführenden Ministeriums für Arbeit und Soziales nach einer breiten Beteiligung der Betroffenen (»nicht über uns ohne uns«) hatte bereits Anfang 2016 eher unkoordiniert die Schreibtische dort verlassen und für heftige Diskussionen gesorgt. Die Selbsthilfeverbände behinderter Menschen, wie etwa die Lebenshilfe, übten lauthals Kritik an dem unausgereift erscheinenden Entwurf. Der offizielle Referentenentwurf berücksichtigte die Kritik jedoch offenbar weiter nur unzureichend, denn die Vorwürfe rissen kaum ab. Diese machten sich vor allem am neu formulierten Behinderungsbegriff, dem nach wie vor nicht gänzlich abgeschafften Vorrang des Einsatzes von Einkommen und Vermögen oder der Möglichkeit des sog. Poolen fest (der Erbringung der Leistung für mehrere Leistungsberechtigte durch eine/n AssistentIn/en). Proteste begleiteten das Gesetzgebungsverfahren. Obgleich viele Einwendungen – insbesondere zum Behinderungsbegriff, gegen das »Zwangspoolen« beim selbstständigen Wohnen und die angeblich zu strenge Anrechnung eigener Mittel auf die Rehabilitationsleistung – vom Gesetzgeber berücksichtigt wurden, stimmten die Oppositionsparteien am Schluss gegen den Entwurf. Er entspräche immer noch nicht den Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention für eine selbstbestimmte, gleichberechtigte und wirksame Teilhabe am Leben in der Gesellschaft von Menschen mit Behinderungen.

SGB IX wird neu formatiert

Schwerpunkt des Artikelgesetzes ist die Neugestaltung des seit 2001 gültigen Rehabilitations- und Teilhabegesetzes (Sozialgesetzbuch IX – SGB  IX). Das für alle Rehabilitationsträger (also die Bundesagentur für Arbeit, die gesetzliche Kranken-, Renten- und Unfallversicherungen, den Träger des sozialen Entschädigungsrechts und die Jugend- und Sozialhilfeträger) geltende allgemeine Rehabilitationsrecht im Teil 1 des SGB  IX wird erweitert, klarer gefasst und teils verbindlicher ausgestaltet. Die seit 1962 bislang im Recht der Sozialhilfe verortete Eingliederungshilfe, für die bisher die örtlichen und überörtlichen Sozialhilfeträger (in der Regel kommunale Behörden) zuständig sind, wird aus dem Sozialgesetzbuch XII (SGB  XII) herausgeschnitten und in einen neuen Teil 2 des SGB IX eingefügt (§§ 90-150). Im Teil  3 des SGB IX wird künftig das Schwerbehindertenrecht (Beschäftigungspflicht der Arbeitgeber, Kündigungsschutz, Mitbestimmung usw.) beheimatet sein, das bisher in Teil  2 geregelt war.


Gestaffelter Neubeginn gibt Raum für Veränderungen

Die beschlossenen Rechtsänderungen sind so gravierend, dass von Anfang an klar war, dass die neuen Bestimmungen nicht sämtlich ab 01. 01. 2017 in Kraft treten können. Die Verwaltungen brauchen Zeit, um sich auf die neuen normativen Grundlagen einzustellen. Es wäre verfrüht gewesen, Personal einzustellen, Software neu zu programmieren oder Verwaltungsabläufe neu zu gestalten. Denn es war bis zum Schluss unklar, welchen der vielen Anregungen von Verbänden und Politik sich der Gesetzgeber letztlich anschließt. Die eigentliche Herkulesarbeit hat für die Rehabilitationsträger damit ab Januar 2017 erst begonnen. Dabei gehen die bisher für die Eingliederungshilfe zuständigen Träger der Sozialhilfe hoffnungsvoll davon aus, dass sie von den Ländern zum 01. 01. 2018 jeweils als neue »Träger der Eingliederungshilfe« bestimmt werden. Das Vertragssystem muss dem neuen personenzentrierten System angepasst werden: Dieses unterscheidet nicht mehr zwischen ambulanten und stationären Leistungen und trennt die Fachleistungen grundsätzlich von den Leistungen zum Lebensunterhalt (Essen, Unterkunft, usw.). Leistungen, wie die nun mit einem eigenen Leistungstatbestand geadelte Teilhabe an Bildung, müssen komplett neu beschrieben, Vergütungen neu verhandelt und Rahmenbedingungen gesetzt werden.

Das BTHG tritt, diesem Prozess Raum gebend, sukzessive in Jahresschüben in Kraft. Im ersten Reformschritt finden sich zum 01. 01. 2017 erste Verbesserungen bei der Abrechnung von Einkommen und Vermögen im SGB XII; so wird bei der Eingliederungshilfe sowie der Hilfe zur Pflege ein Freibetrag von 25.000  € für die Lebensführung und zur Alterssicherung gewährt. Ab 01. 04. 2017 erhöht sich gemäß der Änderungsverordnung vom 22. 03. 2017 (BGBl. I S. 519) das Schonvermögen von SGB XII-Leistungsbeziehern von 2.600  € auf 5.000  € (ab 01. 01. 2017 kann aber bereits eine Härte nach § 90 Abs.  3 SGB XII angenommen werden). In der zweiten Reformstufe wird ab 01. 01. 2018 der allgemeine Teil 1 des SGB IX gestärkt. Im Zentrum steht das Teilhabeplanverfahren mit einem für alle Leistungen verantwortlichen Rehabilitationsträger (§ 19), das durch eine unabhängige Teilhabeberatung flankiert wird (Leistungen aus »einer Hand« setzen indes auch voraus, dass die beteiligten zuständigen Rehabilitationsträger künftig mehr Hand in Hand arbeiten). Zudem werden im Teil 2 des SGB IX gemeinsame Anforderungen für das Vertragsrecht der Eingliederungshilfe aufgestellt, z.B. modifizierter externer Vergleich bei Bewertung der Wirtschaftlichkeit.

Zum 01. 01. 2020 erfolgt die Operation am Herzen der Eingliederungshilfe. Sie wird aus dem SGB XII herausgelöst und in das SGB  XI implantiert. Die Freibeträge beim Vermögen erhöhen sich dann auf rund 50.000  € (§  139 SGB  IX, Art.  26 Abs.  4 Nr.  1 BTHG). Einkommen und Vermögen von Partnern werden nicht mehr herangezogen. Der für den Zugang zu den Leistungen zentrale Behinderungsbegriff, wonach einschränkend eine »wesentliche geistige, körperliche oder seelische Behinderung« vorliegen oder drohen muss, wird nach einer bundesweiten Evaluation sogar erst zum 01. 01. 2023 geändert – geschuldet sicher der zahlreichen und berechtigten Kritik am ursprünglich neu formulierten Begriff.

Viele Chancen für eine verbesserte Inklusion

Die neuen schrittweisen gültigen Änderungen insbesondere im SGB IX und SGB XII sind dramatisch und schaffen weiten Raum für eine wirksame gesellschaftliche Inklusion von behinderten Menschen. Neue Instrumente, wie das Budget für Arbeit, oder das Poolen und Pauschalieren von Leistungen, können intelligent genutzt werden. Insofern sind die Neuregelungen weitaus mehr als alter Wein in neuen Schläuchen. Einen wirklichen Systemwechsel stellen sie aber nicht dar. Die Eingliederungshilfe ist nur formal aus dem »Fürsorgesystem« der Sozialhilfe herausgenommen. Es bleibt grundsätzlich beim Bedarfsdeckungsprinzip und dem Subsidiaritätsgrundsatz. Hilfebedürftigkeit ist Voraussetzung, es ist vorrangig ein eigener Beitrag zu leisten. Dies ist systemkonform, solange die Eingliederungshilfe weder reine Versicherungsleistung noch steuerfinanzierter Nachteilsausgleich ist. Noch bedeutsamer ist, dass die Eingliederungshilfe weiter nachrangig gegenüber Leistungen anderer Sozialleistungsträger ist (§§ 91, 93 SGB IX). Um den Trend der letzten Jahre, Leistungen auf die Sozialhilfeträger abzuschieben, entgegenzuarbeiten, sollten die Eingliederungsträger künftig in der Praxis noch strenger auf diesen Nachrang achten. Prekär bleibt allerdings das Verhältnis zur artverwandten Hilfe zur Pflege nach SGB XII. Die beibehaltene Gleichrangigkeit zwischen Eingliederungshilfe und Pflege wird normativ durch die neuen Regelungen für die Praxis nicht wirklich geschmeidig gemacht, da sich die Ziele der beiden Leistungen nach Einführung des teilhabeorientierten Pflegebegriffs zu sehr angenähert haben.

Das neue Teilhabeverfahren bzw. Gesamtplanverfahren ist eine echte Chance, in einem respektvollen gemeinsamen Prozess sowohl den Wünschen des Leistungsberechtigten als auch den normativen Beschränkungen entsprechende inklusive Lösungen zu finden. Keinem Menschen mit Behinderungen soll etwa zugemutet werden, gegen seinen Willen in einem Heim zu leben, wenn dadurch seine Teilhabe und Selbstbestimmung leiden. Die Befürchtungen der Kommunen vor einer nicht mehr kontrollierbaren Ausgabendynamik in der Eingliederungshilfe sind aber ernst zu nehmen. Die nun detaillierten und präzisen Regelungen zur sozialen Teilhabe und Assistenz sind sinnvoll, jedoch keine Bühne für ein Wunschkonzert. Es geht darum, auch ehrlich und offen gemeinsam herauszufinden, welche Leistungen für ein menschenwürdiges Leben, wozu ein möglichst selbstständiges Leben mit einem Mindestmaß an sozialer Teilhabe sowie Kommunikation mit anderen unabdingbar gehören, wirklich erforderlich sind. Auf den übergeordneten Ebenen liegen Einsparpotenziale offen zu Tage: Die neu auszuhandelnden Vergütungen müssen leistungsgerecht und wirtschaftlich sein, und es ist genauer und öfter von den Leistungsträgern zu prüfen, ob die Leistungen auch in der vereinbarten Qualität beim Betroffenen ankommen. Das BTHG gibt den Leistungsträgern hierzu erfreulicherweise schärfere Instrumente an die Hand (Führungszeugnis verlangen, Vergütung kürzen, usw.).

Fazit

Das BTHG hat das Feld umrissen und den Samen gesät. Das Feld zu bestellen und die Früchte zu ernten ist nun insbesondere Aufgabe der Rehabilitationsträger, der Leistungserbringer und vor allem der Wohlfahrtsverbände sowie aber auch der ebenfalls oft in Verbänden organisierten Menschen mit Behinderungen. Doch nicht nur die Beteiligten, sondern wir alle sollten uns auf den Weg zu neuen Horizonten einer menschenwürdigen Inklusion machen – denn wir alle wollen und brauchen ein gutes Leben.

 

Franz Dillmann

Leiter des Bürgeramtes Köln-Rodenkirchen
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