15.05.2015

Das Kreuz mit dem Kopftuch

Das BVerfG und die Bekenntnisfreiheit an öffentlichen Schulen

Das Kreuz mit dem Kopftuch

Das BVerfG und die Bekenntnisfreiheit an öffentlichen Schulen

Die Reaktion der Gesellschaft auf religiöse Symbolik ist einem ständigen Wandel unterworfen. | © Angela Wulf - Fotolia
Die Reaktion der Gesellschaft auf religiöse Symbolik ist einem ständigen Wandel unterworfen. | © Angela Wulf - Fotolia

Der 1. Senat des Bundesverfassungsgerichts hat am 13. 03. 2015 in einer erneuten Entscheidung zum Kopftuch- trageverbot an staatlichen Schulen entschieden, dass ein pauschales Verbot religiöser Bekundungen in öffentlichen Schulen durch das äußere Erscheinungsbild von Pädagogen mit deren Glaubens- und Bekenntnisfreiheit nicht vereinbar ist.

Konkret handelt es sich bei dem Fall um eine verfassungskonforme Einschränkung von § 57 Abs. 4 Satz 1 und 2 des nordrhein-westfälischen Schulgesetzes dahingehend, dass von einer äußeren religiösen Bekundung nicht nur eine abstrakte, sondern eine hinreichend konkrete Gefahr der Beeinträchtigung des Schulfriedens oder der staatlichen Neutralität ausgehen müsse, um ein Verbot zu rechtfertigen. Das Schulgesetz in seiner jetzigen Form, das als Privilegierung zugunsten christlich-abendländischer Bildungs- und Kulturwerte konzipiert ist, verstoße gegen das Verbot der Benachteiligung aus religiösen Gründen, Art. 3 Abs. 3 Satz 1 und Art. 33 Abs. 3 GG.

Viele Kommentare in der Presse sprachen angesichts des Beschlusses von einer ‚Kehrtwende des BVerfG’ und einer ‚Abkehr von dessen bisheriger Rechtsprechung’. Diese plakativen Einschätzungen sind kaum zu halten. Vielmehr konkretisiert der 1. Senat des BVerfG die Rechtsprechung des 2. Senats aus dem Jahr 2003 und entwickelt Kriterien, wie weit die Regelungsbefugnisse des Gesetzgebers gehen, wenn Schulgesetze bestimmen, was zu unterlassen ist, um – gemessen am objektiven Empfängerhorizont – nicht den Eindruck zu erwecken, gegen die Menschenwürde, die Gleichberechtigung, die Freiheitsgrundrechte oder die freiheitlich-demokratische Grundordnung aufzutreten.


Die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers zur Abwehr potenzieller Gefahren hat sich allerdings am Maßstab der Verhältnismäßigkeit zu orientieren, der gerade auch die grundrechtlich geschützten Positionen der Betroffenen einzubeziehen hat, um die gegenseitigen Zumutbarkeitsgrenzen festzulegen. Ein imperatives religiöses Bedeckungsverbot in der Schulöffentlichkeit ist ein schwerwiegender Eingriff in die Glaubens- und Persönlichkeitsfreiheit, die sich im Extremfall zu einem Berufsverbot konkretisiert. Dagegen steht die Kollision mit der negativen Bekenntnisfreiheit von Schülern, die jedoch umso weniger schwer wiegt, als eine Lehrkraft nicht verbal, kämpferisch oder indoktrinierend auf die Schüler einwirkt, sondern nur über ihre Kleidung potenziell beeinflusst.

Die bloße Sichtbarkeit religiöser Zugehörigkeit ohne konkrete weitere Gefahr für Schulfrieden und staatliche Neutralität kann demnach nicht ausreichen, um imperative Verbotsmaßnahmen per Gesetz zu dekretieren. Vom bloßen Tragen einer jüdischen Kippa, eines Ordenshabits oder eines Kopftuchs geht für sich kein missionierender oder eifernder Effekt aus. Die rein visuelle Wahrnehmbarkeit in der Schule muss als Auswuchs individueller Grundrechtswahrnehmung hingenommen werden.

Diese Entscheidung ist vor dem Hintergrund bisheriger Rechtsprechung zu betrachten, die wir in Folgendem darstellen:

Der Kruzifix-Beschluss

Deutschland war in seiner Meinung gespalten, als am 16. 05. 1995 das BVerfG Teile der Bayerischen Volksschulordnung von 1983 für verfassungswidrig und nichtig erklärte, nach denen in jedem Klassenzimmer ein Kruzifix oder zumindest ein Kreuz ohne Jesusfigur anzubringen war. Die Kommentare reichten von dem ‚Beginn des Untergangs des Abendlandes und der christlichen Leitkultur’ bis zu der Forderung – im Nachgang des Beschlusses –, jede Einflussnahme von Religionen und Konfessionen im öffentlichen Leben radikal auszumerzen.

Konkret ging es um die Ausstrahlungswirkung der grundgesetzlich uneingeschränkt gewährleisteten Religions- und Glaubensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 GG, genauer um die negative Glaubens- und Bekenntnisfreiheit, die verletzt sein konnte, wenn eine zwangsweise Auseinandersetzung mit dem Kreuzsymbol für Andersdenkende im Schulalltag unvermeidbar war.

Das BVerfG stellte klar, dass der Staat nicht nur eine religiöse Neutralitätspflicht aus der Verfassung habe (Art. 4 Abs. 1 und 140 GG, Art. 137 Abs. 1 WRV), sondern sich auch nicht selbst auf die Religionsfreiheit oder eine bestimmte christliche Weltanschauung berufen könne, da ein Staat als solcher weder einer Religion angehören, noch Grundrechte für sich in Anspruch nehmen könne.

Als konkretisierende Prinzipien für die staatliche Neutralitätspraxis formulierte das BVerfG die grundsätzliche staatliche Neutralitätspflicht durch Selbstrestriktion und die nach außen erkennbare Neutralität durch Pluralität, wonach der Staat das gleichberechtigte Nebeneinander der Religionen im Lichte einer toleranten und gegenseitigen Akzeptanz zu dulden und zu fördern habe. Andererseits fordere Art. 4 Abs. 1 GG keine Neutralität durch strenge Sterilität, sodass religiöse Betätigung und Ausdruck in einem Abwägungsprozess auch an staatlichen Schulen Raum gegeben werden müsse.

Die Kernaussagen kommen zu dem Schluss, dass das Kreuz und insbesondere das wirkungsstärkere und eindeutigere Symbol des Kruzifixes keine lediglich kulturellen, traditionellen Symbole oder der allgemeine Ausdruck für Nächstenliebe und Humanität sind. Das Kreuz fungiere primär als Symbol einer Religion mit ihrem speziellen Wertekanon. Art. 4 Abs. 1 GG soll jedermann davor schützen, in einem staatlich eingeforderten Pflichtverhältnis dem Einfluss eines Glaubens ausgesetzt zu werden, ohne sich entziehen zu können, um seiner negativen Bekenntnisfreiheit Ausdruck zu verleihen. Dies gelte auch für Schüler und ihre Eltern, die nicht ungebührlich in ihrer Erziehungsfreiheit aus Art. 6 Abs. 2 GG eingeschränkt werden dürften. Bekenntnisfreie Schulen müssten diese grundgesetzlich garantierten Interessen zu einem ‚schonenden Ausgleich’ mit dem Weisungsrecht des Staates bringen und den Absolutheitsanspruch, mit dem das Anbringen des Kreuzes in Klassenzimmern im Gesetz verankert war, grundgesetzlich akzeptabel aufweichen. Der Staat Bayern reagierte im Bayerischen Erziehungs- und Unterrichtsgesetz so, dass grundsätzlich das Kreuz in Klassenzimmern aus geschichtlichen und kulturellen Prägungsgründen anzubringen sei, dass aber in begründeten Ausnahmefällen eine individuelle Konfliktlösung angestrebt werden solle, die zur Folge haben könne, dass in bestimmten Konstellationen das Kreuz abgenommen werden müsse. Diese abgemilderte Form der Kreuzpflicht in Form einer Erlaubnis mit Verbotsvorbehalt hatte Bestand und es wurde vorübergehend still um das Kreuzsymbol.

Die „Kopftuchentscheidung“ des BVerfG vom 24. 09. 2003

In seinem Urteil vom 24. 09. 2003 hatte sich der 2. Senat des BVerfG mit der Verfassungsbeschwerde einer in Afghanistan gebürtigen Beschwerdeführerin auseinanderzusetzen, die nach ihrer Lehrerausbildung die Einstellung in den baden-württembergischen Schuldienst begehrte, was ihr wegen mangelnder persönlicher Eignung verweigert wurde. Grund dieser Beurteilung durch das Oberschulamt Stuttgart war, dass die Beschwerdeführerin auch während des Unterrichts ein Kopftuch als Ausdruck ihrer islamischen Identität tragen wollte. Die Verwaltungsgerichte bestätigten die Rechtsauffassung des Oberschulamtes, während die Beschwerdeführerin ihr Grundrecht auf Religionsfreiheit aus Art 4 Abs. 1, 2 GG verletzt sah.

Ähnlich wie in der ‚Kruzifix-Entscheidung’ war das Spannungsverhältnis zwischen beamtenrechtlichen Grundsätzen aus Art. 33 Abs. 2, 3 GG, der Pflicht zur staatlichen Neutralität in religiösen und weltanschaulichen Fragen, der Religionsfreiheit der Beschwerdeführerin aus Art. 4 Abs. 1, 2 GG und dem Erziehungsrecht der Eltern aus Art. 6 Abs. 2 GG auszuloten und zu bewerten. Wie dort stieß man sich auf staatlicher Seite an der demonstrativen und sichtbaren Andersartigkeit der Erscheinung der angehenden Pädagogin, die mit dem Tragen des Kopftuchs eine öffentliches Bekenntnis zu einer bestimmten islamischen Lebensform zu propagieren schien.

Mit diesem demonstrativen Bekenntnis in einem bekenntnisfrei zu haltenden Umfeld neige sich die anzustellende Gefahrprognose dahin, dass eine nachhaltige Störung des Schulfriedens nicht auszuschließen sei, auch wenn die angehende Lehrkraft glaubhaft verneine, sich mit dem Tragen des Kopftuchs werbend für eine islamische Lebensweise einsetzen zu wollen. Das Symbol des Kopftuches habe in der Bevölkerung eine derart starke und eindeutige Aussagekraft hin zu einer eindeutigen Werbewirksamkeit für einen konservativen Islam gewonnen, dass selbst das staatliche Bekenntnis zu einer Förderung religiöser Vielfalt in der Gesellschaft nicht dazu führen könne, dieses als demonstratives Bekenntnis für einen konservativen Islam deutbare Verhalten nicht entsprechend zu sanktionieren. Die Beschwerdeführerin könne unterhalb dieser Schwelle jederzeit und ungehindert ihren Glauben auch im staatlichen Schuldienst leben und werde aus diesem Grund weder diskriminiert, noch in ihren Grundrechten der freien Berufswahl oder der Religionsfreiheit verletzt.

Das BVerfG konkretisierte in seiner Rechtsgüterabwägung die kollidierenden Rechtspositionen und stellte u. a. fest, dass ‚die dem Staat gebotene religiös-weltanschauliche Neu-tralität nicht eine distanzierende im Sinne einer strikten Trennung von Staat und Kirche ist, sondern als offene und übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung zu verstehen ist’. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gebiete somit auch im staatlichen, bekenntnisneutralen Raum im positiven Sinne, Öffnungen für die aktive Betätigung der Glaubensüberzeugung und die Verwirklichung der autonomen Persönlichkeit auf weltanschaulichem Gebiet zu sichern. Der Staat habe in diesem pluralistischen Freiraum auch weder Spielräume für Bevorzugungen und Benachteiligungen noch für Bewertungen.

Andererseits könne das Einbringen religiöser und weltanschaulicher Bezüge in Schule und Unterricht durch Lehrkräfte den in Neutralität zu erfüllenden staatliche Erziehungsauftrag, das elterliche Erziehungsrecht und die negative Glaubensfreiheit der Schüler beeinträchtigen. Beim Kopftuch – so das BVerfG – sei es anders als beim Kreuz nicht von vorneherein klar, ob es sich um ein religiöses Symbol handele oder um eine traditionelle, identitätswahrende Bekleidung. Erst eine individuelle Bewertung aller Umstände lasse Gewissheit erwachsen, ob das Tragen des Kopftuchs eine Demonstration für antidemokratische Werte sei und damit ein Eignungsmangel der Person für den Schuldienst vorliege. Die Einzelfallabwägung könne nur dann in ihrem ganzen Detailreichtum entfallen, wenn ein gesetzlich verankertes Verbot für Lehrkräfte zum Tragen religiös deutbarer Kleidungsstücke und Symbole zur Abwehr abstrakter Gefährdungen vorhanden sei. Das BVerfG folgert, dass die zuständigen Landesgesetzgeber bislang fehlende gesetzliche Grundlagen dieser Art schaffen könnten, um den Rahmen der verfassungsrechtlichen Vorgaben für das Maß religiöser Bezüge in der Schule für alle Lehrkräfte neu zu bestimmen. So würden die beamtenrechtlichen Pflichten zur Mäßigung und Zurückhaltung hinreichend konkretisiert. Dies müsse allerdings unter angemessener Abwägung der widerstreitenden Grundrechtspositionen geschehen.

Rechtsstaatsgebot und Demokratieprinzip verpflichteten den Gesetzgeber, die wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen und nicht den Schulbehörden zu überlassen.

Die Kruzifix-Entscheidungen des EGMR

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte im Falle der Klage einer finnischen Mutter gegen den italienischen Staat in der Berufungsentscheidung vom 18. 03. 2011 entschieden, dass staatlich verordnete Kruzifixe in Klassenzimmern nicht gegen die Religionsfreiheit verstießen. Jeder EU-Mitgliedstaat habe die Einschätzungsprärogative, wie er in Gesetzen und Verordnungen die Grenzziehung seiner Neutralitätspflicht ausgestalte. Falls sich Italien dazu entschieden habe, ein primär christliches Symbol in deutlicher Sichtbarkeit in Klassenzimmern bekenntnisfreier Schulen zur Pflicht zu machen, sei dies nicht zu beanstanden, solange gewährleistet sei, dass die Indoktrinationsgrenze nicht überschritten werde und gewährleistet sei, dass in den Schulen auch andere Religionen und Weltanschauungen willkommen seien und gelehrt und gelebt werden dürften. Vor einem solchen multikulturellen Hintergrund schrumpfe das Kruzifixgebot in seiner tatsächlichen Ausgestaltung zu einem im Kern passiven Symbol, das das Gebot staatlicher Neutralität nicht verletze. Eine Diskriminierung aus religiösen Gründen im Sinne des Art. 14 EGMR finde nicht statt.

Fazit

Die Entscheidungen des BVerfG und des EGMR zur negativen und positiven Bekenntnisfreiheit und ihrer Positionierung im Umfeld staatlicher Schulen ziehen sich über die letzten zwanzig Jahre, ohne dass absolute Klarheit geschaffen worden ist, wie der konkrete Einzelfall rechtssicher entschieden werden kann.

Dabei sind die verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen, die Argumentationsmuster und die möglichen daraus resultierenden Entscheidungen klar. Was unklar ist, ist das jeweilige Ergebnis der umfassenden Würdigung und Abwägung im individuellen Fall, erschwert durch den Umstand, dass die Reaktionen der Gesellschaft auf religiöse Symbolik einem beständigen, manchmal extremen Wandel unterworfen ist, der sich aus den höchst flüchtigen globalen Entwicklungen der Weltpolitik speist.

An dieser Stelle wird deutlich, dass sich unsere pluralistische Gesellschaft im Wandel niemals auf eine holzschnittartige, unveränderliche Bewertung dieser Fragen einstellen können wird. Die zahlreichen abweichenden Voten von Richtern des BVerfG und des EGMR zeugen davon, dass Abwägung, Auslegung und vor allem Wertung aus festen Mustern ausbrechen. Das werden sie auch künftig tun, da gesellschaftliche Phänomene in ihrer Wandelbarkeit immer wieder neue Gestalt annehmen, die in der Vergangenheit noch nicht bewertet werden konnte. Das Verdienst der Gerichte liegt darin, in zwanzig Jahren einen festen Kriterienkatalog entwickelt zu haben, der ein taugliches Instrumentarium zur Einzelfallentscheidung abgibt. Jede weitere eindimensionale Simplifizierung verbietet sich.

Hinweis der Redaktion: Siehe hierzu auch den ausführlichen Beitrag in der Zeitschrift Ausbildung/Prüfung/Fortbildung (apf) Heft 6/2015.

 

Professor Achim Albrecht

Westfälische Hochschule, Gelsenkirchen
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