15.06.2015

Arbeitskampfrecht im Dilemma

Die Lösung des Problems liegt in der Reform der Urabstimmung

Arbeitskampfrecht im Dilemma

Die Lösung des Problems liegt in der Reform der Urabstimmung

Streikrecht unter der Lupe: Die Mehrheit muss entscheiden. | © JiSign - Fotolia
Streikrecht unter der Lupe: Die Mehrheit muss entscheiden. | © JiSign - Fotolia

Streiks bei der Lufthansa, … bei der Deutschen Bahn … und kein Ende. Der Gesetzgeber hat eingegriffen, will den kleinen Gewerkschaften „das Lebenslicht ausblasen” und die Einheitsgewerkschaft durchsetzen. Das neue Gesetz zur Regelung der Tarifeinheit, das die Bundesarbeitsministerin gegen alle Widerstände über die Hürden der parlamentarischen Gesetzgebungsarbeit „peitscht”, ist ebenso umstritten wie die andauernden Streiks (vgl. Brettschneider, in PUPLICUS, 2014.12, S. 4 ff.) Gleichwohl wurde es im Bundestag am 22. 05. 2015 in 3. Lesung verabschiedet. Spartengewerkschaften, unter ihnen nicht nur die Piloten (Cockpit) und die Lokführer (GdL), sondern auch die Krankenhaus-Ärzte (Marburger Bund) drohen mit Verfassungsklage. Die meisten Jura-Professoren stehen auf ihrer Seite und halten das neue Gesetz für verfassungswidrig.

Die Lösung des Dilemmas

Was tun? Die Lösung für das Dilemma liegt keineswegs außer Reichweite. Sie kann nur in einer Reform der Urabstimmung liegen. Zu ihr haben bisher nur die eher streikwilligen Gewerkschaftsmitglieder Zutritt. Die eher streikunwilligen Belegschaftsmitglieder, die keiner oder einer anderen Gewerkschaft angehören, werden von der Abstimmung einfach ausgeschlossen und in den Arbeitskampf hineingezogen, ohne dass sie vorher gefragt worden sind. – Und genau das muss geändert werden!

Man muss sich nämlich vergegenwärtigen: Während eines Streiks werden – ohne Ausnahme – alle Arbeitsverträge in den umkämpften Betrieben geschlossen außer Kraft gesetzt, nicht nur die der kämpfenden Gewerkschaftsmitglieder, sondern auch die der sonstigen Belegschaftsmitglieder, die am Arbeitskampf nicht interessiert sind. Das hat der Große Senat des Bundesarbeitsgerichts mit Urteil vom 28.01.1955 (vgl. BAGE 1, 291) so entschieden. Im Kampfgebiet verlieren nach der sogenannten „Suspensionstheorie” alle Rechte und Pflichten aus den Arbeitsverträgen für die gesamte Belegschaft ihre Geltung und sind für die Dauer des Streiks vorübergehend suspendiert, also rechtsunwirksam. Das sensationelle Urteil kam unter maßgebender Mitwirkung von Prof. Hans Karl Nipperdey zustande und gilt als „magna charta” des Streikrechts. Der Große Senat des Bundesarbeitsgerichts (BAG) hat den Streik vom Makel der unerlaubten Handlung befreit, was anders zur fristlosen Kündigung berechtigt hätte, es sei denn die Streikenden hätten vor dem Streik ihre Arbeitsverträge fristgerecht gekündigt. Heute muss also nicht mehr zuerst kollektiv gekündigt und die dafür vorgesehenen Fristen eingehalten werden, bevor gemeinschaftlich gestreikt werden darf, wie das in ständiger Rechtsprechung vor 1955 noch verlangt wurde. Das ist Vergangenheit. Das ist Rechtsgeschichte.


Sämtliche Arbeitsverträge ganzer Betriebe, ja sogar Branchen außer Kraft zu setzen, das geht so einfach aber nicht. Ein so tiefgreifender Eingriff in das private Vertragsrecht bedarf zumindest der basisdemokratischen Legitimation, also der Urabstimmung unter den unmittelbar streikbetroffenen Mitgliedern der Belegschaft. Gegen ihren Willen können die Arbeitsverträge nicht geschlossen außer Kraft treten. Eine verbandsinterne Abstimmung nur unter den Gewerkschaftsmitgliedern reicht nicht aus. Es streikt ja nicht die Gewerkschaft, es streikt die Belegschaft. Es gilt also das Motto: Wir sind die Belegschaft, wir bestimmen, ob bei uns gestreikt wird oder nicht. – Mehrheit entscheidet. Minderheiten ist der Streik untersagt!

Mehrheit entscheidet

Einer gesonderten Regelung der Tarifeinheit durch Gesetz bedarf es also nicht. Ein rechtsvergleichender Blick zurück in die Geschichte anderer Staaten: Die Urabstimmung in der gesamten Belegschaft wurde unter Präsident Theodor Roosevelt in der Zeit des New Deal erstmalig in den USA eingeführt (vgl. Biedenkopf, Unternehmer und Gewerkschaften im Recht der Vereinigten Staaten von Amerika, 1961, S. 124 ff.). In Großbritannien hat Norman Tebbit, Arbeitsminister unter Margaret Thatcher, das gleiche Prinzip in seine berühmt gewordene Gewerkschaftsreform von 1984/85 übernommen. Dieses Verfahren hat sich in beiden Ländern bewährt. Denn es sichert die Tarifeinheit in den Betrieben und zwingt insbesondere die Spartengewerkschaften de facto zur Tarifunion. Wenn sie die Urabstimmung in der gesamten Belegschaft gewinnen wollen, müssen sie sich zusammenraufen und gemeinsam auftreten. Denn die Mehrheit in der Belegschaft können sie nur gemeinsam erreichen oder gar nicht.

Aufgrund seiner Vollmachten hatte Roosevelt 1931 in den USA den Labor Board geschaffen. Diese Behörde sollte sich mit den Angelegenheiten der Gewerkschaften befassen, insbesondere aber den Ursachen anhaltender Streiks der Gewerkschaften nachgehen. Eines Tages ist der Board vor ein neues Problem gestellt worden: Ein Unternehmer behauptete, seine Arbeitnehmer wünschten sich gar keine gewerkschaftliche Vertretung. Ein Mitglied der Behörde hat deshalb vorgeschlagen, die Arbeitnehmer selbst entscheiden, also darüber abstimmen zu lassen: Das war die Stunde, zu der in den USA das Mehrheitsprinzip in der Tarifautonomie eingeführt wurde (Näheres dazu bei Biedenkopf, aaO, S.28 und S. 124.).

Der Streik ist „ultima ratio”

Der Streik ist nur als allerletzter Ausweg zulässig: Prinzip der „ultima ratio” (vgl. Kissel, Arbeitskampfrecht, 2002, § 30, S, 339 ff.) Hält die Mehrheit in der Belegschaftsversammlung ihre Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen für auskömmlich und erträglich, ist die „ultima ratio” nicht gegeben. Die Arbeitsverträge bleiben daher in Kraft. Minderheiten ist deshalb der Streik untersagt. Ob und wann die „ultima ratio” tatsächlich eingetreten ist, lässt sich – wenn überhaupt – nur sehr schwer feststellen. Das liegt in der Natur der Sache. Deshalb ist das Prinzip, das nur dann gestreikt werden kann, wenn es keinen anderen Ausweg mehr gibt, nur in ganz extremen Ausnahmefällen eindeutig judizierbar. Das wäre z. B. der Fall, wenn die Beschäftigten in ihrer Existenz bedroht sind, weil die unzulängliche Entlohnung nicht für das Überleben ausreicht. Umgekehrt kann man jedoch davon ausgehen, dass die Grenze der „ultima ratio” nicht überschritten ist, wenn die Belegschaft mit ihren Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen einverstanden ist und einen Streik ablehnt. Tut sie das, dann darf nicht gestreikt werden!

Oft genug wird in der Berichterstattung der Fernsehsender der Eindruck erweckt, die Gewerkschaften würden durch Streiks die Bevölkerung zu Geiseln nehmen. Nun ist Geiselnahme strafbar. Doch niemand kommt auch nur auf die Idee, gegen die Gewerkschaftsführer Anzeige zu erstatten, um die Verantwortlichen hinter Gitter zu bringen. Mit den Kategorien des Strafrechts ist den Streiks nur selten beizukommen. Das zieht im Normalfall auch niemand ernsthaft in Erwägung. Die unerfreulichen Drittwirkungen, die ein Arbeitskampf regelmäßig mit sich bringt, muss die Bevölkerung aber nur dann ertragen, wenn der Streik durch Urabstimmung in der gesamten Belegschaft basisdemokratisch legitimiert ist. Eine Gewerkschaft, die ohne vorherige Abstimmung zu „wilden” Streiks aufruft, ist in gesicherter Rechtsprechung zum Ersatz des Schadens verpflichtet (vgl. Kissel, aaO, § 47, S. 718 ff.) Und das kann teuer werden.

Doch zurück zum Gesetz über die Regelung der Tarifeinheit. Der Gesetzgeber kann eine bestehende Tarifkonkurrenz nicht dadurch lösen, dass er einen der konkurrierenden Tarifverträge für ungültig erklärt. Im Lokführerstreik hat das LAG Chemnitz schon 2007 gesagt: Wenn man zwischen zwei Tarifverträgen zu wählen hat, welcher von beiden gelten soll, müssten erst einmal zwei Verträge zur Auswahl stehen. Deshalb dürften beide Tarifverträge durch Streik erkämpft werden (vgl. LAG Chemnitz v. 02. 11. 2007, 7 SaGa 19/07; NZA 2008, 59.) Das BAG hat daraus die unvermeidbare Konsequenz gezogen und die bisherige Entscheidungspraxis aufgegeben, dass in einem Betrieb immer nur ein Tarifvertrag gelten könne (vgl. BAG v. 17. 01. 2010, 4 AZR 594/08.) Die Regierung ist daher schlecht beraten, wenn sie sich darüber hinwegsetzt und in Kauf nimmt, mit ihrem Gesetz zur Regelung der Tarifeinheit vor dem Verfassungsgericht in Karlsruhe zu scheitern.

Hinweis der Redaktion

Der Autor ist Mitherausgeber des Buches: „Mehrheit entscheidet / Ohne Urabstimmung kein Streik”, 2008, (ISBN 978-3-938706-04-6). Weitere Beiträge zum Streikrecht sind auf seiner Internetseite www.manfredhettlage.de zugänglich.

– ANZEIGE –
Bürgermeisterin werden
n/a