17.08.2020

Annegret Falter: „Es erfordert sehr viel Zivilcourage, auf Missstände hinzuweisen.“

Interview zur gesellschaftlichen Bedeutung von Whistleblowern

Annegret Falter: „Es erfordert sehr viel Zivilcourage, auf Missstände hinzuweisen.“

Interview zur gesellschaftlichen Bedeutung von Whistleblowern

Der Whistleblower riskiert Ausgrenzung, Mobbing und Schikanen. | © G3D Studio - stock.adobe.com
Der Whistleblower riskiert Ausgrenzung, Mobbing und Schikanen. | © G3D Studio - stock.adobe.com

Whistleblower tragen zur Rechtsdurchsetzung in einer Gesellschaft bei. Die Vorsitzende des Vereins „Whistleblower-Netzwerk e.V.“ Annegret Falter hat mit uns über die Bedeutung von Whistleblowern in unserer Gesellschaft gesprochen.

Teil I des Interviews finden Sie hier.

Warum ist Whistleblowing wichtig? Welche Funktion haben Whistleblower für unsere Gesellschaft?


Annegret Falter: Edward Snowden hat einmal sinngemäß gesagt, nicht er könne darüber urteilen, wie viele Freiheitsrechte die Amerikaner*innen für ein angebliches Mehr an Sicherheit aufgeben müssten. Auch nicht die Regierung und schon gar nicht die NSA. Wenn es derart um die Einschränkung demokratischer Rechte ginge, müsse die Zivilgesellschaft in die Lage versetzt werden, sich am Willensbildungs- und Entscheidungsprozess zu beteiligen. Darum sei er an die Öffentlichkeit gegangen. Whistleblowing hilft dem investigativen Journalismus bei der Recherche und häufig bei der Aufdeckung von Skandalen. Der Staat braucht Whistleblower zur Rechtsdurchsetzung. Insider geben Anstöße für Anfragen auf der Grundlage des Informationsfreiheitsgesetzes, denn Bürger*innen können natürlich nicht nach etwas fragen, von dessen Existenz sie nicht zuvor erfahren haben. Nur die Insider-Information ermöglicht bisweilen den Abgeordneten im Parlamentarischen Kontrollgremium (PKGr) gezielte Nachfragen in Sachen Geheimdienste, weil ihnen geflüstert wurde, wonach sie die Regierung laut fragen sollten. Ohne die Informationen von Whistleblowern würden noch weniger Verantwortliche zur Rechenschaft für unlautere Machenschaften und Machtmissbrauch gezogen. Whistleblowing fördert die Meinungs-, die Informations- und die Pressefreiheit. Kurz: Whistleblower ermöglichen in vielen Fällen den gesellschaftlichen Diskurs, wo sonst Geheimhaltung Demokratie behindert hätte. Sie helfen, das Versprechen der Aufklärung ein Stück weit einzulösen.

Ist aus Ihrer Sicht ein allgemeingültiger Katalog wünschenswert, der typische Situationen beschreibt, in denen Whistleblowing notwendig wäre?

Annegret Falter: Solche Listen von Fallkonstellationen helfen den Juristen in der Regel bei ihren Abwägungsentscheidungen. Sie bedürfen aber gerade auf diesem Gebiet der kontinuierlichen Weiterentwicklung. Allein die rasante technologische Entwicklung, der das einhergehende Recht ja immer hinterherhinkt, macht eine Offenbarung von Missständen und Gefahren nötig, von denen man sich zuvor nicht hätte träumen lassen. Denken Sie mit an die Künstliche Intelligenz.

Aus welchen Gründen unterbleibt Whistleblowing oftmals?

Annegret Falter: Wie ich schon sagte, sind gerade in Deutschland Whistleblower nach wie vor höchst unzureichend, v.a. durch Richterrecht geschützt. Die Rechtsunsicherheit ist groß. Darum erfordert es sehr viel Zivilcourage, auch nur intern auf Missstände hinzuweisen. Man macht sich damit nie beliebt, nicht beim Chef und nicht bei den Kollegen. Die Anzeige bei den Strafverfolgungsbehörden ist noch gefährlicher. Als Arbeitnehmer hat der Whistleblower eine Loyalitätspflicht gegenüber seinem Arbeitgeber. Die wird gerade arbeitsrechtlich sehr hoch bewertet. Zu den „arbeitsvertraglichen Nebenpflichten“ zählen besonders Rücksichtnahme und Verschwiegenheit. Einmal abgesehen davon, dass wohl die meisten Menschen den Gang zur Staatsanwaltschaft scheuen, müssen Arbeitnehmer daher sehr konkret mit dem Verlust ihres Arbeitsplatzes rechnen, wenn sie das tun. Ein noch größeres Risiko geht er oder sie mit der „Flucht an die Öffentlichkeit“ ein. Potentielle Whistleblower sind in solchen Fällen hin- und hergerissen zwischen ihrer Loyalität dem Arbeitgeber und der Loyalität höheren, gesellschaftlichen Werten gegenüber. Wenn ein Ingenieur nicht mit verantwortlich sein will etwa für Gesundheitsschäden durch Dieselabgase, dann muss er um seinen Arbeitsplatz fürchten. Wahrlich keine beneidenswerte Lage.

Welche Rolle spielen Journalisten, die kraft Profession an brisanten Informationen interessiert sind? Können sie dem Whistleblower eher nutzen oder schaden?

Annegret Falter: Beides ist möglich und beides kommt vor. Wenn Journalisten z.B. die Identität eines anonymen Whistleblowers nicht zureichend schützen, liefern sie ihn oder sie womöglich fahrlässig internen oder externen Ermittlungen aus. Allein ihre Darstellung von Sachverhalten, von denen außer dem Whistleblower nur wenige Personen Kenntnis haben, kann diesen in Teufels Küche bringen. Aber nicht nur durch einen Artikel oder eine Sendung kann ein Whistleblower bloßgestellt werden, sondern z.B. auch bei einer Befragung des Autors durch die Staatsanwaltschaft. Da müssen Journalisten auf ihrem Recht auf Informanten- oder Quellenschutz bestehen. Das ist nicht immer leicht. Andererseits bringt Öffentlichkeit häufig ein Stück weit Schutz mit sich. Wenn der Arbeitgeber nicht mehr den exklusiven Erstzugriff auf eine Information hat, kann er auch nicht mehr allein über den Umgang mit ihr entscheiden. Auch nicht über den Umgang mit dem Whistleblower. Es kommt ja immer wieder vor, dass ein Arbeitnehmer nicht wegen seines Whistleblowing, sondern mit einem anderen vorgeschobenen Kündigungsgrund entlassen wird. Das ist natürlich nicht so leicht, wenn über den Fall schon in den Medien berichtet wurde.

Was ist das primäre Ziel der im Oktober 2019 verabschiedeten Whistleblowing-Richtlinie und für welche Bereiche gilt sie?

Annegret Falter: Schon der Name der „Richtlinie zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden“ verrät das Dilemma: Es geht v.a. Dingen um eine Harmonisierung des Whistleblower-Schutzes im Kontext des Europarechts. Die strukturellen Rahmenbedingungen für Whistleblowing in privaten und öffentlichen Organisationen sollen EU-weit verbessert werden. Das gilt aber eben nur bei Verstößen gegen bestimmtes Unionsrecht. Bei der Umsetzung in nationales Recht, die bis Oktober 2021 erfolgen muss – in Deutschland wegen der BT-Wahlen 2021 de facto noch eher –, darf das in der Richtlinie festgelegte Schutzniveau (bezogen auf Unionsrecht) nicht unterschritten, wohl aber verbessert werden. Darauf zielt die politische Arbeit von Whistleblower-Netzwerk in den nächsten zwei Jahren. Wir haben unsere Forderungen an ein deutsches Gesetz in einem Experten-Papier bereits im August 2019 veröffentlicht, die u.a. besagen: Der Anwendungsbereich der Richtlinie ist auf nationale Rechtsverstöße und Missstände auszudehnen, ein umfassendes Schutzgesetz muss die bestehenden, vereinzelten deutschen Schutzregelungen systematisch zusammenführen, externe Whistleblowing-Behörden müssen gestärkt und anonymes Whistleblowing intern und extern ermöglicht werden.

Die EU-Mitgliedsländer können also die Anwendbarkeit auf andere Bereiche ausweiten. Welche Bereiche wären hier aus Ihrer Sicht wünschenswert?

Annegret Falter: Rechtsverstöße und Machtmissbrauch finden auf allen gesellschaftlichen, ökonomischen, politischen und wissenschaftlichen Ebenen statt. Darum sollten alle diese Bereiche möglichst weitgehend einbezogen werden. Die nationale Sicherheit und Verteidigung werden aber von der Richtlinie vollständig ausgespart. Der Fall Snowden zeigt, wie weit man diesen Begriff dehnen kann. Unter dem amerikanischen Präsidenten Trump zählt ja sogar die Stahlindustrie dazu, wenn es um die Legitimation von Strafzöllen geht. Von Rechtssicherheit bei der Weitergabe von Informationen kann da keine Rede sein. Mitarbeiter müssen sich immer fragen: Verrate ich gerade ein Staatsgeheimnis oder „nur“ ein Dienstgeheimnis oder begehe ich Landesverrat? Ein Schelm, der dabei denkt, das sei beabsichtigt. Im deutschen Recht gibt es bereits den Wehrbeauftragten, der Eingaben vertraulich behandeln soll. Die Vertraulichkeit wird allerdings gesetzlich nicht garantiert. Anonymen Meldungen darf überhaupt nicht nachgegangen werden. Bedenkenswert wäre daher die Möglichkeit, dort einen Kanal eigens für Whistleblowing-Fälle einzurichten, die den Bestimmungen der EU-Richtlinie für solche Behörden folgt. Für Whistleblower im Geheimdienstbereich besteht bei aktueller Rechtslage die Möglichkeit zur Meldung beim Parlamentarischen Kontrollgremium (PKGr). Die ursprünglich einhergehende Verpflichtung, zeitgleich den Dienstvorgesetzten in Kenntnis zu setzen, wurde im Zuge der parlamentarischen Untersuchung der Snowden-Enthüllungen immerhin abgeschafft. Ein unverzichtbarer, sicherer Vertraulichkeitsschutz ist aber auch hier nicht gegeben. Außerdem ist das Gremium nach außen hermetisch abgeschottet, weder weitere Bundestags-Abgeordnete noch die demokratische Öffentlichkeit dürfen den Inhalt von Meldungen erfahren. Hier wäre unseres Erachtens dringend eine Absicherung der Vertraulichkeit geboten, wenn Whistleblower aus den Geheimdiensten nicht nachträglich möglichen Sanktionen ausgesetzt und darum von vornherein abgeschreckt werden sollen.

Welche neuen Konflikte können durch die neuen Vorschriften auftreten und wie können diese vermieden werden?

Annegret Falter: Zu den wesentlichen Veränderungen der neuen Rechtslage, die durch das Inkrafttreten der Richtline entstanden ist, gehört die Gleichstellung von „internem“ und „externem“ Whistleblowing. Das bedeutet, dass ein Whistleblower aufgrund seiner eigenen Einschätzung der Situation in seinem Arbeitsumfeld frei entscheiden kann, ob er sich mit einer Enthüllung der dafür vorgesehenen Kanäle am Arbeitsplatz bedient oder ob er sich lieber extern an eine „zuständige Behörde“ wendet. In beiden Fällen ist er jedenfalls offiziell vor Repressalien geschützt. Das war er bei einer externen Meldung bis dato in der Regel nicht. Es ist zu erwarten, dass der überkommene Interessenkonflikt zwischen Arbeitgebern und manchen Juristen einerseits, die am Erstzugriff auf die Information und auf deren Geheimhaltung entgegen der Richtlinienbestimmung bestehen wollen und Befürwortern eines möglichst rechtssicheren Whistleblower-Schutzes andererseits auch die Umsetzungsdebatte ein Stück weit bestimmen wird. Wenn diese und andere Konflikte nicht fortdauern sollen, ist der Gesetzgeber gut beraten, deren Austragung und die Konkretisierung interpretationsoffener Bestimmungen nicht der Rechtsprechung bis hin zum EuGH zu überlassen, sondern in zwei Jahren ein möglichst klares und umfassendes Whistleblower-Schutzgesetz vorzulegen.

Zukünftig müssen in Unternehmen ab einer bestimmten Größe interne Meldesysteme eingerichtet werden. Viele Unternehmen verfügen bereits heute darüber – doch sie funktionieren nicht immer. Warum ist das so?

Annegret Falter: Der Erfolg von Hinweisgebersystemen hängt einerseits von deren konkreter Ausgestaltung ab. Zum Beispiel muss Vertraulichkeit oder je nachdem Anonymität sicher gewährleistet sein, um dem Whistleblower die begründete Furcht vor Repressalien bis hin zur Kündigung zu nehmen. Auch muss über die Existenz, den Sinn und ggf. die technischen Benutzer-Voraussetzungen des jeweiligen Systems umfassend informiert werden. Außerdem sollte das gewählte System zum Unternehmen oder zur Behörde „passen“, z.B. zur Größe und Leistungsfähigkeit der Organisation. Welche personellen und finanziellen Ressourcen können zur Verfügung gestellt werden? Kann den Anforderungen an den Datenschutz gemäß DSGVO genügt werden? Aber keine Frage ist so wichtig wie die nach der Unternehmenskultur. Stimmt der „tone from the top“? Wenn kein wechselseitiges Vertrauen in die Gutgläubigkeit und den guten Willen der jeweils anderen Seite besteht, sondern per se Schädigungsabsicht unterstellt wird, dann kann auch mit dem besten Hinweisgebersystem kein Schaden von der Organisation abgewendet werden.

Warum gelangen Informationen über Missstände in Unternehmen vielfach nicht in die Führungsetagen?

Annegret Falter: Dafür gibt es jede Menge organisationssoziologischer Erklärungsmuster. Ich tendiere dazu, dem Konzept der „plausible deniability“ zu folgen. Wikipedia definiert das so: Glaubhafte Abstreitbarkeit „liegt vor, wenn eine Person oder eine Organisationseinheit ein Mitwissen bzw. eine Mitwirkung an moralisch verwerflichen oder strafbaren Vorgängen innerhalb ihres Einflussbereichs überzeugend dementieren kann und ihr somit keine Verantwortlichkeit nachgewiesen werden kann, unabhängig vom tatsächlichen Wahrheitsgehalt dieses Dementis.“ Nach der Devise: Mein Name ist Hase, ich weiß von nichts.

Wir danken für das Gespräch.

 

Whistleblower-Netzwerk

Das Whistleblower-Netzwerk ist ein 2006 gegründeter überparteilicher und gemeinnütziger Verein. Wir wollen den rechtlichen Schutz und das gesellschaftlicheAnsehen von Whistleblowern in Deutschland verbessern.

Unsere Arbeitsfelder sind:

  • Veränderung rechtlicher und politischer Strukturen,
  • Beratung von Whistleblowern,
  • Beratung von Unternehmen, Behörden und zivilgesellschaftlichen Organisationen,
  • Öffentlichkeitsarbeit.

Was wir tun:

  • erstellen Expertisen,
  • halten Vorträge zu rechtlichen und politischen Fragen,
  • machen Vorschläge für den internen Umgang mit Whistleblowing und die Einführung von Hinweisgebersystemen,
  • unterstützen Whistleblower in konkreten Fällen und
  • stellen auf unserer Website Informationen rund um das Thema Whistleblowing
  • zur Verfügung.

 

Zur Person:

Die Politologin Annegret Falter ist Vorsitzende des gemeinnützigen Vereins „Whistleblower-Netzwerk e.V.“. Die Vereinigung mit Sitz in Berlin engagiert sich für den Schutz von Whistleblowern (und solchen, die es werden könnten) und bietet ihnen Beratung und Hilfe. Daneben werden z.B. Initiativen gefördert, um das Klima für den offenen Dialog und die Rahmenbedingungen für Whistleblower in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft zu verbessern und gesetzliche Regelungen für einen effektiven Whistleblowerschutz zu erreichen.

Annegret Falter ist Autorin und Herausgeberin zahlreicher Veröffentlichungen zu Whistleblower-Fällen sowie zu Fragen der gesellschaftlichen Bedeutung des Whistleblowing. Für sie steht Whistleblowing im Dienst des öffentlichen Interesses, der Meinungsfreiheit, des demokratischen Diskurses und der politischen Partizipation.

 

Hinweis der Redaktion: Der Beitrag entstammt aus dem »Der Wirtschaftsführer für junge Juristen«.
Um den Wirtschaftsführer auch unterwegs bequem lesen zu können, finden Sie hier unsere »Wirtschaftsführer-App«.

 

Stefanie Assmann

Rechtsanwältin, Lektorin im Richard Boorberg Verlag, Stuttgart
n/a