15.10.2014

Am Tatort des Thüringer Landtags

„Personalisierte” Verhältniswahl und Stimmensplitting

Am Tatort des Thüringer Landtags

„Personalisierte” Verhältniswahl und Stimmensplitting

Tatort Thüringer Landtag: Wer bekam einen zusätzlichen Listenplatz? | © Kumbabali - Fotolia
Tatort Thüringer Landtag: Wer bekam einen zusätzlichen Listenplatz? | © Kumbabali - Fotolia

Völlig unerwartet meldete die Fernsehanstalt ARD am 14. 09. 2014, gegen 21 Uhr 50, aus ihrem Wahlstudio in Thüringen, dass in den Landtag von Erfurt nicht 88 Abgeordnete einziehen, weil es genau so viele Sitze gibt, sondern dass dort 91 Mandatsträger Sitz und Stimme haben. Ungefähr eine Stunde später wurde dies vom Wahlleiter mit dem vorläufigen amtlichen Endergebnis bestätigt. Der Landtag ist also überfüllt. Es müssen Klappstühle hereingetragen und als Notsitze aufgestellt werden, weil man, bildhaft formuliert, in der „komischen” Oper mehr Karten verkauft hat, als es Opernplätze gibt. (Vgl. dazu auch: Hettlage, ZRP 2011, 87 ff: „Mehr Stücke als Kuchen / Also ist das Parlament kleiner als die Summe seiner Mitglieder.”)

Der nicht gewählte Abgeordnete

Die CDU hat in Thüringen 34 der insgesamt 44 Direktmandate erzielt, aber nur 33 Listenplätze erringen können. Der bei der CDU fehlende Listenplatz löst sich aber nicht in Rauch auf. Er wanderte vielmehr zu einer anderen Partei ab. Welche Partei genau diesen abgespaltenen Sitz im Landtag von Erfurt errungen hat, lässt sich natürlich nicht ausmachen. Durch Wahl entstanden also 89 Mandate, weil für ein Direktmandat der Listenplatz fehlt bzw. umgekehrt für einen Listenplatz kein Direktmandat vorhanden ist.

Die Zahl der 44 in Thüringen vorgegebenen Wahlkreise bleibt von der Auszählung natürlich unberührt. Die Direktmandate können also nicht ansteigen. Ergo sind es die Listenplätze, die um einen Sitz zugenommen haben. Wer von den sonstigen Parteien diesen Sitz erlangt hat, weiß man nicht. Die CDU hat ihn jedenfalls nicht. Sie hat, bei gleichbleibender Zahl der Wahlkreise, das fälschlich so genannte „Überhangmandat” zu verschmerzen, das einem der 34 Wahlsieger aus ihren Reihen angeblich gar nicht zusteht, weil es nicht durch einen Listenplatz gedeckt ist. Man kann aber nicht sagen, welcher CDU-Abgeordnete der Übeltäter ist. Und das obwohl im Fernsehen unmittelbar nach der Wahlsendung ein „Tatort” ausgestrahlt wurde, durch den der Scharfsinn weiter geschärft wurde.


Unübersehbar hat dazu der Wahlleiter sogar amtlich festgestellt, dass 34 Direktkandidaten der CDU bei der Landtagswahl in Thüringen in ihrem Wahlkreis zu Recht gewonnen haben. Keinem von ihnen ist daher sein Mandat streitig zu machen. Dessen ungeachtet schreibt das Landeswahlrecht vor, dass der ohnehin nur vermeintliche „Überhang” auch noch durch zwei Ausgleichsmandate zu egalisieren ist. Der Ausgleich ist doppelt so hoch wie der „Überhang”. Aber das nur nebenbei. Den Mandatsausgleich, mit dem das Wahlergebnis „nachgebessert” wird – was für eine Ungeheuerlichkeit! –, teilen sich mit je einem zusätzlichen Listenplatz die Linke und die AfD. Dadurch steigt die Zahl der Mandate im Parlament auf 91 an.

Es gibt also mehr Listenplätze, ohne dass es auch mehr Landes- oder Listenstimmen gibt. Denn die Mandatsträger mit Ausgleichsmandat haben – durch Wahl! – weder ein Direktmandat noch einen Listenplatz erlangt. Sie verdanken ihr Mandat einer obrigkeitlichen Zuteilung, die erst erfolgt ist, nachdem die Wahllokale schon geschlossen waren und schon deshalb keine Stimmen mehr nachgeschoben werden können. Die Rechtsfigur des nicht gewählten Abgeordneten mit obrigkeitlich zugeteiltem Mandat – das allein dem Zweck dient, nachträglich das Wahlergebnis „auszugleichen” – kann vor dem Grundgesetz keinen Bestand haben. So wird in Bananenstaaten gewählt. In einer Demokratie werden ohne Ausnahme sämtliche Abgeordneten gewählt. Das ist ein Gesetzesbefehl, der so in Art. 38 Grundgesetz festgehalten wird. Vgl. auch BVerfG v. 1998, BVerfGE 97, 317.

Das Stimmensplitting im Thüringer Landtag

Nicht weniger problematisch als die Ausgleichsmandate sind die Splittingstimmen, besser bekannt als „Leihstimmen”. Sie sind mit der „personalisierten” Verhältniswahl unvereinbar. Denn die Doppelwahl mit zwei Stimmen hat den Zweck, mit einer vorgeschobenen Direktwahl den Wählern vorab ein Mitbestimmungsrecht über Reihenfolge der Kandidaten auf den Landeslisten der Parteien einzuräumen. Im Anschluss an diese Personalisierung der Liste soll mit der Zweitstimme endgültig über die Mannschaftsstärke der Partei entschieden werden.

Beide Stimmen können also nicht an zwei verschiedene Parteien vergeben werden. Das macht keinen Sinn. Man kann nicht die Reihenfolge auf der Liste einer Partei beeinflussen und dann diese Liste gar nicht wählen. Im dualen Wahlsystem gehören die Wahlkreisstimme für die Person des Bewerbers und die Landesstimme für die dazugehörende Partei natürlich untrennbar zusammen. Die Realität ist jedoch eine andere. Das Stimmensplitting war auch bei den jüngsten Landtagswahlen in Thüringen besonders auffällig und hat, anders als in Sachsen und Brandenburg, gegenüber der Landtagswahl von 2009 dort sogar stark zugenommen.

Es sind also genau 78.715 Wähler, die der AfD zwar die Landesstimme, nicht aber die Wahlkreisstimme gegeben haben (Erststimmen-Transfer). Die AfD ging ohne Direktmandat aus dem Rennen, hat also keinen einzigen ihrer 11 Listenplätze durch die vorgeschobene Direktwahl „personalisieren” können. Zu allem Überfluss wird genau diese Partei durch ein zusätzliches Ausgleichsmandat, also einen nicht „personalisierten” Listenplatz belohnt. Die CDU erreichte 34 von 44 Direktmandaten. Die restlichen 10 teilen sich die Linke (9) und die SPD (1), Grüne und AfD gehen leer aus. Die „personalisierte” Verhältniswahl ist unter den Parteien also vollkommen asymmetrisch und schief verteilt – noch schiefer als der Turm von Pisa. – Was für ein Schildbürgerstreich der Wahlgesetzgebung!

2014-10_Splittingbilanz (jpg)

Splittingbilanz für Thüringen: Landtagswahl 2014
Quelle: www.wahlrecht.de (gestützt auf das vorläufige amtliche Wahlergebnis) und eigene Berechnung.

Aus der Luft gegriffen

Wie gesagt, ist der Landtag in Erfurt überfüllt. Es wurde bei den Listenplätzen – mit Zustimmung des Gesetzgebers – ein Abgeordneter mehr gewählt, als es im Landtag Sitze gibt. Die Wahlkreise nehmen ja nicht zu, ergo entsteht zusätzlich ein systemwidriger Listenplatz. Der wird durch zwei Ausgleichsmandate – ebenfalls Listenplätze! – egalisiert, die aus der Luft gegriffen wurden, weil für den nachträglichen Mandatsausgleich nach Schließung der Wahllokale einfach keine weiteren Zweitstimmen mehr herbeizuschaffen sind.

Von der Vorgabe, dass der Landtag, über die Grundsätze der „personalisierten” Verhältniswahl hinaus, zur einen Hälfte in den Wahlkreisen und zur anderen über die Listen der Parteien zu wählen ist, hat man sich in Thüringen verabschiedet, und zwar ohne es zu bemerken. Es gibt insgesamt 44 Wahlkreise, aber 91 Mandate. Und das würde bedeuten, dass es 45,5 Wahlkreise geben müsste, wenn die unlösbare Milchmädchenrechnung aufgehen soll, dass die eine Hälfte der Abgeordneten über die Direktwahl, die andere Hälfte über die Listenwahl in den Landtag einziehen soll. Halbe Wahlkreissieger gibt es nicht. Das ist auch in Thüringen so. Es sei denn, dort wird einer halbiert.

Und noch etwas: Eine Dreierkoalition kann nicht ohne das verfassungswidrige Ausgleichsmandat zustande kommen, für die es nun einmal keine zusätzlichen Zweitstimmen gibt. Kommt es dagegen zu einer CDU/SPD-Koalition, dann ist der fälschlich so genannte „Überhang” dafür ursächlich. Dies obwohl die Zahl der Wahlkreise ja nicht ansteigen kann und sämtliche Wahlkreissieger den amtlichen Bestätigungsvermerk des Wahlleiters in der Tasche haben, dass ihnen der Wahlkreis, in dem sie gewählt wurden, zusteht.

Wann wird man endlich diesem groben Unfug der Doppelwahl mit Erst- und Zweitstimme den Garaus machen? Würde man statt mit zwei Stimmen nach dem klassischen Grundsatz: „one man one vote” nur mit der Zweitstimme wählen und nicht über geschlossene, sondern über offene Listen abstimmen, hätte man eine perfekte Personalisierung der Landeslisten ohne Fehl und Tadel. Denn hat man es nur mit einer Stimme zu tun, kann es ja keinen „Überhang” geben. Das so genannte „Überhangmandat” ist ja kein konkretes Mandat, sondern eine Differenz.Ohne Summanden keine Summe und ohne Diminuend keine Subtraktion, also auch keine Differenz. – So einfach ist das!

De lege ferenda gibt es aber auch einen anderen Weg. Der Gesetzgeber ist frei, sich für das von ihm bevorzugte Wahlsystem zu entscheiden, solange er sich innerhalb der vom Grundgesetz vor allem in Art. 20 und Art. 38 GG gezogene Grenzen bewegt. Das Verfassungsgericht in Karlsruhe hat das immer wieder betont, zuletzt in seinem Urteil vom 25.07.2012 (Az. 2 BvF 3/11). Neben der Möglichkeit, bei offenen Listen allein mit der Zweitstimme zu wählen, kann man genauso gut allein mit der Erststimme abstimmen lassen. Dieser Vorschlag zur Wahlgesetzgebung trifft allerdings regelmäßig auf einen heftigen Ablehnungsreflex.

Überraschung in Brandenburg

Die klassische Direktwahl in überschaubaren Wahlkreisen ist viel besser als ihr Ruf. Sie kommt vor allem ohne die Fünf-Prozent-Hürde aus. Dieser Vorteil dürfte inzwischen auch der FDP einleuchten, nachdem sie sowohl im Bund als auch in den drei Ländern Sachsen, Thüringen und Brandenburg an der Sperrklausel gescheitert ist. Gerade in Brandenburg hat der Arzt Christoph Schulze für Aufsehen und Kommentare in der Presse gesorgt, (z. B. SüddZ v. 16.09.2014.), denn er hat den Wahlkreis Nr. 25 (Teltow-Fläming III) gewonnen, obwohl seine Partei (BVB/Freie Wähler) an der Sperrklausel gescheitert ist. Das führt in Brandenburg dazu, dass für die betroffene Liste die Sperrklause aufgehoben wird, also die klassische Direktwahl gilt. Prüft man das Wahlergebnis nach, kommt es zu einer Überraschung: Christoph Schulze hat seinen Wahlkreis mit 27 Prozent der Direktstimmen gewonnen. Das hätte auch die FDP, die Grünen oder andere Kleinparteien schaffen können, wenn sie im Wahlkreis 25 einen Christoph Schulze aufgestellt hätten. Der Minderheitenschutz ist also in der klassischen Direktwahl sehr ausgeprägt.

Die absolute Mehrheit der Stimmen in den Wahlkreisen, die oft genug gefordert wird, ist viel schwerer zu erringen. Und in Großbritannien haben die Liberalen den Konservativen sogar eine Koalition aufgezwungen. – Was will man mehr!

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