15.04.2015

Willkommen im Sozialstaat

Menschenwürdige Leistungen für Asylbewerber und andere Flüchtlinge

Willkommen im Sozialstaat

Menschenwürdige Leistungen für Asylbewerber und andere Flüchtlinge

Menschenwürdige Leistungen für Asylbewerber und andere Flüchtlinge | © FooTToo - Shutterstock.com
Menschenwürdige Leistungen für Asylbewerber und andere Flüchtlinge | © FooTToo - Shutterstock.com

Wer existenzielle Not leidet, verfolgt wird oder gar seine Vernichtung fürchten muss, hat keine große Wahl. Er wird alles tun, um seiner Situation zu entfliehen – sei es um den Preis der Gefährdung seines Lebens, wie die skandalöse Zahl von 3.419 im Mittelmehr ertrunkenen Bootsflüchtlingen allein 2014 beschämend belegt. Weder dürftige Lebensmittelpakete noch behelfsmäßige Unterkünfte im ersehnten europäischen Zufluchtsort werden ihn abschrecken. Die Sicherheit vor Krieg, Folter und Tod und nicht zuletzt die Hoffnung, auf längere Sicht der Ausweglosigkeit zu entkommen, sind opferungswerte Ziele genug. Wie wir diese Menschen willkommen heißen und behandeln, berührt den Sozialstaat in seinem Kern.

Steigende Fluchtbewegungen

Verfolgungs- und Fluchtgründe zielen auch auf das im Grundgesetz in Art. 16 a GG verankerte Grundrecht auf Gewährung politischen Asyls. 2014 haben insgesamt 173.072 Menschen in Deutschland erstmals Asyl beantragt. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat in 2014 rund 128.000 Entscheidungen über vorliegende Asylanträge getroffen, 60 % mehr als in 2013. Der Lebensunterhalt und andere existenzielle Bedarfe während des Prüfverfahrens werden durch Leistungen nach dem sog. Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) sichergestellt, das indes nicht nur Asylbewerber, sondern auch andere Gruppen, insbesondere geduldete Ausländer und Kriegsflüchtlinge, erfasst. In Deutschland nahmen 2013 rund 225 000 Personen Regelleistungen nach dem AsylbLG in Anspruch. Die Anzahl der Leistungsempfänger dürfte in 2014 ebenfalls deutlich zugenommen haben.

Neues AsylbLG ante portas

Das seit 1993 gültige AsylbLG ist Ende 2014 mit Wirkung zum 01. 03. 2015 an zentralen Stellen durch den Bundesgesetzgeber geändert worden. Dieses hatte bis weit unter dem Niveau der Hilfen für Sozialhilfeberechtigte nach dem Sozialgesetzbuch XII (SGB XII) und Bezieher von Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Sozialgesetzbuch II (SGB II) sog. pauschale Regelleistungen zur Gewährleistung des Lebensunterhaltes (z. B. in 2010 zuletzt 225 € im Vergleich zu 359 €) und weitere Hilfen vorgesehen. Die Anpassung des AsylbLG war mehr als überfällig. Die Preise waren seit 1993 um mehr als 30 % gestiegen. Spätestens mit dem Urteil des BVerfG vom 09. 02. 2010 (Az. 1 BvL 1/09 u. a.) zur Verfassungswidrigkeit der Hartz IV-Regelsätze tickte die Uhr für die Politik laut vernehmbar. Es gehörte weder besondere Sensibilität noch juristische Expertise dazu, dass das in dieser Entscheidung auf den hellen Sockel des Sozialstaates gesetzte Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. § 20 Abs. 1 GG) auch für die Personengruppen des AsylbLG gelten muss. Doch der Gesetzgeber wollte aus dem legislatorischen Tiefschlaf gerissen werden.


Weckruf durch das BVerfG

Mit Urteil vom 18. 07. 2012 (1 BvL 10/10 und 1 BvL 2/11) erklärte das BVerfG die bisherigen Geldleistungen nach § 3 AsylbLG für verfassungswidrig. Diese seien für den Lebensunterhalt „evident unzureichend” und nicht nachvollziehbar. Sowohl die Mittel zur physischen Existenzsicherung (Ernährung, Unterkunft, Kleidung usw.) als auch zur sozialen Teilhabe (Kontaktpflege, Bildung, Freizeit etc.) müssten in jedem Fall und zu jeder Zeit als menschenwürdiges Existenzminimum zur Verfügung gestellt werden. Auch die Leistungen des AsylbLG müssten sich am Grundrecht dieses Existenzminimums orientieren und in einem transparenten Verfahren realitätsgerecht festgesetzt werden. Eine Differenzierung aufgrund des Aufenthaltsstatus käme nicht in Frage. Allein bei signifikanten Bedarfsabweichungen sei die Leistung anzupassen. Das BVerfG gab der Politik fingerzeigend auf den Weg, das AsylbLG „unverzüglich” entsprechend zu ändern. Bis dahin sollten übergangsweise die Pauschalen an den sozialhilferechtlichen Regelsätzen orientiert werden, was dann auch geschah.

Gesetzgeber in slow-motion

Dem Auftrag des BVerfG kam der Gesetzgeber mit Weile nach: Erst mit zweijährigem Verzug beschloss der Bundestag mit Zustimmung des Bundesrates das Gesetz zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes und des Sozialgerichtsgesetzes vom 10. 12. 2014 (BGBl. I S. 2187) und das Gesetz zur Verbesserung der Rechtsstellung von asylsuchenden und geduldeten Ausländern vom 23. 12. 2014 (BGBl. I S. 2439), wobei Letzteres sich auf Lockerungen bei Anordnungen der räumlichen Beschränkung und der Wohnsitzauflagen konzentrierte. Die Legislative sah sich vor Verabschiedung der Gesetze gut begründeten Mahnungen von Flüchtlingsverbänden, der Rechtsprechung und der juristischen Literatur ausgesetzt. Sie ist nunmehr zwar dem verfassungsrechtlich vorgezeichneten Pfad gefolgt und hat insbesondere die Leistungen zum Lebensunterhalt fast auf das Level des SGB II/SGB XII gehoben, gleichwohl an dem leistungsrechtlichen Sondergesetz mit vielfach bemängelten Regelungen festgehalten.

AsylbLG plus im Detail

Das AsylbLG hat zunächst den Kreis der Leistungsberechtigten enger gezogen (§ 1 AsylbLG): Dies kommt Flüchtlingen zugute, die nach dem Aufenthaltsgesetz eine Aufenthaltsgenehmigung besitzen, weil sie Opfer einer Straftat (z. B. Menschenhandel, Arbeitsausbeutung) geworden sind oder ihre Abschiebung bereits aufgrund von unverschuldeter Ausreiseverhinderung länger als 18 Monate ausgesetzt wurde. Sie können nun die Leistungen des SGB II und teilweise des SGB XII wie jeder andere Ausländer (EU-Bürger sind darüber hinaus sozialrechtlich privilegiert) beziehen. Andere Aufenthaltsgenehmigungen oder bloße Duldungen (Aussetzungen der Abschiebung) begründen hingegen weiterhin ausschließlich Leistungen des AsylbLG. Die Beibehaltung dieses Personenkreises über Asylverfahren hinaus erscheint angesichts des zielgerichteten Charakters des AsylbLG als Sonderleistungsgesetz für sich temporär hier aufhaltende Flüchtlinge willkürlich. Obgleich in der Regel über viele Jahre mit faktischen Bleiberechten ausgestattet, wird der vorübergehende Aufenthalt dieser Personen fingiert.

Ab dem 01. 03. 2015 besteht nach § 3 AsylbLG ein Anspruch auf Grundleistung zur Sicherung des physischen Existenzminimums in Höhe von 216 € für Alleinstehende (abgestuft vermindert für Paare, Kinder usw.). In Form von Sach- oder Geldleistungen sind damit Kosten für Nahrungsmittel, Getränke, Kleidung, Schuhe, Gesundheitspflege und Energiekosten abgegolten. Zudem wird ein monatlicher insbesondere das soziokulturelle Existenzminimum der sozialen Teilhabe sichernder Bargeldbetrag in Höhe von 143 € (wiederum abgestuft für die anderen Gruppen) für persönliche Bedürfnisse des täglichen Lebens ausgezahlt. Die Kosten für Wohnung und Heizung werden zusätzlich übernommen. Grundlage für die Bemessung der neuen Leistungssätze ist, wie für die nach wie vor ein wenig höheren Regelsätze nach dem SGB II und SGB XII, die fortgeschriebene Einkommens- und Verbrauchsstichprobe aus 2008 abzüglich der Abteilung 5 (Hausrat).

Ferner hat sich die Diskussion um die Gewährung von Sachleistungen entspannt. Nach dem AsylbLG ist es in der Anfangszeit, in denen die Flüchtlinge bis zu drei Monaten in sog. Erstaufnahmeeinrichtungen untergebracht sind, zwar weiterhin die Regel, dass neben dem Bargeldbetrag Sachleistungen zur Bedarfsdeckung ausgegeben werden. Dies ist sinnvoll, um die Grundbedürfnisse der meist besitzlosen Flüchtlinge schnell zu befriedigen. Eine gleichmäßige Güterverteilung verringert das Konfliktpotenzial in diesen Einrichtungen. Außerhalb der Aufnahmeeinrichtungen sind nach neuem Recht aber vorrangig Geldleistungen zu bewilligen. Dieser Grundsatz darf in der Praxis nicht aufgeweicht werden, da die Selbstbestimmung der sozialrechtlich zu fördernden freien Entfaltung der Persönlichkeit dienlich ist.

Die Wartefrist des § 2 AsylbLG wurde von 48 Monaten auf 15 Monate reduziert und von der Dauer des Leistungsbezugs auf die Aufenthaltsdauer umgestellt. Bereits nach 15 Monaten Aufenthalt stehen Betroffenen Sozialleistungen wie jedem ausländischen Nicht-EU-Bürger zu. Diese Änderung stärkt zu Recht die Rechtsstellung der Flüchtlinge, auch wenn sie höhere kommunale Belastungen nach sich ziehen könnte.

AsylbLG verfassungsrechtlich weiter renovierungsbedürftig

Mit den aktuellen Änderungen des AsylbLG hat der Gesetzgeber die vom BVerfG im genannten Urteil vom 18. 07. 2012 nicht allzu hoch gelegte verfassungsrechtliche Hürde knapp übersprungen. Gleichwohl harren andere verfassungsrechtlich bedenkliche Regelungen und Verwaltungspraktiken einer strengeren am Grundgesetz ausgerichteten Prüfung. Besonderes Augenmerk muss dabei auf § 1 a AsylbLG gerichtet werden: Diese vielfach kritisierte Sanktionsvorschrift erlaubt, Leistungen von wirtschaftlich motivierten Flüchtlingen (Nummer 1) und sog. illegalen Flüchtlingen (Nummer 2) auf das „unabweisbar Gebotene” zu vermindern. Das relative Existenzminimum kann etwa um 20 oder 30 % (so die SG-Rechtsprechung) auf ein absolutes gekappt werden. Der Geldbetrag zur Gewährleistung des soziokulturellen Existenzminimums muss dabei neben dem physischen Existenzminimum zurücktreten.

Aus dem Rechtsgestirn des BVerfG-Urteils vom 18. 07. 2012 zum AsylbLG leuchtet indes ein Satz wie eine Supernova heraus: Die in Art 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde ist migrantionspolitisch nicht zu relativieren (Rn. 95). § 1 a AsylbLG ist jedoch für danach unzulässige migrationspolitische Erwägungen offen wie ein Scheunentor. Die Vorschrift unterstellt schwer widerlegbar, dass für die Einreise eine wirtschaftliche Motivation prägend war und das Asylverfahren missbräuchlich in Anspruch genommen wird. Es wird damit kein persönliches angebliches Fehlverhalten sanktioniert, sondern der erfolglose Versuch, Asyl zu beantragen. Der Versuch allein darf aber nicht zur Relativierung eines Menschenrechts führen.

Schließlich begründet Art. 2 Abs. 2 GG sowie internationales Recht ein durch den Staat geschütztes Recht auf Gesundheit, das insbesondere im Hinblick auf den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 GG ausgestaltet werden muss. Die Ausformung des Diskriminierungsverbotes nach Art. 3 Abs. 3 Abs. 2 GG lässt hierbei verfassungsrechtlich fragwürdig erscheinen, dass seelisch kranken und behinderten Kriegsflüchtlingen in den ersten 15 Monaten die dringend erforderliche therapeutische und rehabilitative Behandlung insbesondere posttraumatischer Störungen verweigert werden kann. Obwohl gerade Flüchtlinge, die bereits mit gesundheitlichen Schäden etwa aufgrund traumatischer Fluchterlebnisse ins Land kommen, darauf angewiesen sind. Der Menschenwürdegehalt des Existenzminimums umfasst zentral auch die soziale Teilhabe. Wer jedoch insbesondere psychisch nicht gesund ist, kann nicht oder nur schwer am gesellschaftlichen Leben teilnehmen oder mit anderen in Kontakt treten – er braucht dafür ärztliche und andere Unterstützung (Therapien, soziale Betreuung usw.). Daher sollten die Behörden über den nur eine minimale gesundheitliche Akutversorgung gewährleistenden § 4 AsylbLG (Leistungen bei Krankheit, Schwangerschaft und Geburt) hinaus die Ermessensregelung des § 6 AsylbLG nutzen oder gleich den offenen Weg über einen Krankenversicherungsschutz nach § 264 Abs. 1 Sozialgesetzbuch V (SGB V) beschreiten.

Von geographischen und rechtlichen Grenzen

Es bestehen demnach noch einige Baustellen im AsylbLG, die dringend legislativ oder auch judikativ fertiggestellt werden müssen. Von einer sozialstaatlich adäquaten Willkommenskultur sind wir noch weit entfernt. Neben dem vom BVerfG hervorgehobenen Aspekt der Menschenwürde wäre auch der Gleichbehandlungsgrundsatz aus Art. 3 GG verstärkt zu beachten. Das AsylbLG müsste schließlich noch mehr im Lichte völkerrechtlicher Konventionen, neben der UN-Kinderrechtskonvention insbesondere der UN-Behindertenrechtskonvention betrachtet werden. Bis dahin stoßen die verzweifelten Flüchtlinge nicht nur auf kaum überwindbare geographische Grenzen, sondern auch weiter auf rechtliche Fronten und Leistungsschranken in der menschenfreundlichen Zivilgesellschaft. Das AsylbLG als willkommenes Instrument der Abschreckung für die weltweiten Flüchtlingsströme hat in jedem Fall ausgedient.

Hinweis der Redaktion: Näheres zu den Regelbedarfssätzen für Asylbewerber siehe S. 16 in dieser Ausgabe und ZfF, Heft 3/2015 S. 49 ff.

 

Franz Dillmann

Leiter des Bürgeramtes Köln-Rodenkirchen
 
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