17.10.2019

Wer das Wahlergebnis ausgleicht,
der verfälscht es auch

Wie die Volkssouveränität zur Parteiensouveränität degradiert wird

Wer das Wahlergebnis ausgleicht,
der verfälscht es auch

Wie die Volkssouveränität zur Parteiensouveränität degradiert wird

Alleiniger Souverän des Staates ist das Volk. | © Christian Schwier - Fotolia
Alleiniger Souverän des Staates ist das Volk. | © Christian Schwier - Fotolia

Den Staatsbürgern wird die unmittelbare Abstimmung über die Abgeordneten des Deutschen Bundesta­ges durch das Grundgesetz garantiert. Tatsächlich werden aber nur 299 Abgeordnete in 299 Wahl­kreisen unmittelbar gewählt. Es verbleibt ein von Wahl zu Wahl unterschiedlich großer Rest mit mehr als 299 Sitzen. Und über diesen Rest kann nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar, und zwar mit starren Landeslisten der Parteien aus 16 verschiedenen Bundesländern abgestimmt werden. Insoweit wird die Volkssouveränität zur Parteiensouveränität degradiert.

Das Wahlrecht ist ein Kampfplatz der Politik. Das erste und das zweite Bundeswahlgesetz von 1949 und von 1953 trugen sogar ein „Verfallsdatum“: Beide galten nur für die jeweils laufende Le­gislaturperiode. Das wurde mit dem dritten Wahlgesetz zwar „de jure“ anders. „De facto“ gab es aber in 19 Legislaturperioden 21 Wahlrechts-Änderungsgesetze. Im Durchschnitt genommen wurde das Gesetz also doch in jeder Legislaturperiode geändert. Das Wahlrecht gleicht daher einem Wackel­pudding mehr als einem Gesetz.

Schon zu Beginn der Republik im Jahre 1949 konnte man sich weder auf die klassische Personenwahl in überschaubaren Wahlkreisen noch auf die Parteienwahl mit Landeslisten verständigen. Deshalb ver­suchte man es mit einem „mixtum compositum“, einer Zwillings- oder Parallelwahl, ein Mischmasch aus Erst- und Zweitstimme, das „den Grundsätzen einer mit der Personenwahl verbundenen Verhält­niswahl“ folgen sollte. Das wird so im Gesetz angeordnet (vgl. § 1 Abs. 1 Satz 2 BWahlG) und schließt die unverbundene Abstimmung mit beiden Stimmen natürlich aus.


Obwohl beide Stimmen also im Verbund abzugeben sind, gehört die getrennte Abstimmung millio­nenfach zum gewohnten Erscheinungsbild aller bisherigen Wahlen, ausgenommen die Wahl von 1949, als der Stimmzettel nur einmal gekennzeichnet werden konnte, das sog Stimmensplitting also ausge­schlossen war. Gibt man beide Stimmen im Verbund ab entsteht aus der Doppelwahl nur ein Mandat. Werden jedoch beide Stimmen – „contra legem“ – voneinander getrennt, sind es dagegen zwei. Denn es ist ein großer Unterschied ob man im Endergebnis einen Abgeordneten zweimal wählt oder ob man mit getrennten Stimmen über zwei Abgeordnete jeweils einmal abstimmt.

Die Zweitstimme ist durch die Erststimme zu personifizieren (personalisierte Verhältniswahl), das tun viele Wähler aber nicht. Und diese Missachtung der „mit der Personenwahl verbundenen Verhält­niswahl“, wie sie das Gesetz anordnet, ist die Hauptursache für die leidigen „Überhangmandate“, die fast bei jeder Wahl entstehen und zuletzt drastisch zugenommen haben.

Der Geburtsfehler des deutschen Wahlrechts

Ein Unglück kommt selten allein. Es kommt nämlich ein weiterer Missstand hinzu: die sog. „Gra­benwahl“. Die Zahl der 299 Wahlkreise bleibt hinter der Gesamtzahl der 598 Abgeordneten weit zurück. Deshalb können von vorne herein nur 299 Abgeordnete zweimal (mit Erst- und Zweitstimme) gewählt werden. Über den verbleibenden Rest kann dagegen nur einmal (allein mit der Zweitstimme) abgestimmt worden sein. Und das verstößt gegen den Grundsatz der Wahl unter vergleichbaren Bedin­gungen. In Wahrheit ist die „personalisierte Verhältniswahl“, von der das Gesetz spricht, also ein Bruchstück, ein Fragment, ein Torso.

Diese nur teilpersonalisierte Verhältniswahl ist der Geburtsfehler, mit dem das typisch deutsche Wahlsystem – aus Erst- und Zweitstimme für 299 Abgeordnete plus Grabenwahl allein mit der Zweitstimme für den Rest – von Anfang in der Wiege lag. Mehr als 299 Abgeordnete werden nur mit­telbar allein über die Listen der Parteien, und zwar „en bloc“ gewählt. Die Wähler können aus den 16 Landeslisten keine konkrete Person auswählen. Das Verfassungsgericht steht der bloßen Parteienwahl ablehnend gegenüber. In der „Nachrücker-Entscheidung v. 26.2.1998 heißt es sogar: „Eine bloße Parteienwahl schließt die Verfassung aus.“ (BVerfGE 97, 217 (323).

Das Grundgesetz verlangt in Art. 38 für den Bund – in Art. 28 GG aber auch für die Länder – auf der Seite des aktiven wie des passiven Wahlrechts die unmittelbare, gleiche und freie Wahl der Abgeord­neten, und zwar nicht nur für einen Teil, sondern für alle Volksvertreter. Das ist unstreitig. Deshalb kann es nicht zwei verschiedene, sondern nur einen einzigen Weg in das Parlament geben, der für alle der gleiche ist. Die Doppelwahl mit Erst- und Zweitstimme erfasst aber nur 299 der insgesamt mehr als 598 Abgeordneten und gilt allgemein nicht als zwingend, sondern als fakultativ. Beide Stimmen sind also im Verbund abzugeben. Millionenfach geschieht das aber nicht. Und das ist der Hauptgrund für die leidigen „Überhangmandate“. Es gibt aber noch eine andere Verzerrung des Wahlgeschehens: Für eine lückenlose Doppelwahl mit beiden Stimmen gibt es gar nicht genug Wahlkreise.

An der höchstrichterlichen Rechtsprechung zum Wahlrecht fällt auf, dass der beklagte Bundestag, d.h. der Wahlgesetzgeber bis 1997 in zahlreichen Verfahren immer obsiegt hat. Das lag wohl auch daran, dass die wenigen Überhänge, die es vor der Wiedervereinigung gab, von den Verfassungsrichter als “quantité négligeable“, als eine zu vernachlässigende Größe eingestuft wurde. Nach der Wiederver­einigung im Jahre 1990 stieg sowohl die Zahl der Länder und Wahlkreise als auch die der Parlamen­tarier deutlich an. Damit stieg das Potenzial der Überhänge und nahm – jedenfalls im Trend – auch tat­sächlich drastisch zu.

Das typisch deutsche Wahlverfahren mit zwei Stimmen erfasst also nur einen Teil der Abgeordneten und gilt fälschlich als fakultativ. Die Zahl der 299 Wahlkreise ist außerdem viel kleiner als die Zahl der 598 regulären Mitglieder des Bundestages. Nur dieser Teil kann überhaupt mit beiden Stimmen, der Erst- und der Zweitstimme gewählt werden. Für den Rest der Parlamentarier bleibt die bloße Li­sten-, Parteien- oder Verhältniswahl. Dass aktive und das passive Wahlrecht sind also nicht deckungs­gleich.

Diese vollkommen überfrachtete „Grabenwahl“ – mit zwei Stimmen für 299 Abgeordnete und mit einer Stimme für den Rest – gab von Anfang an reichlich Anlass für Streitigkeiten, die entweder nach Art. 41 GG (Wahlprüfung) oder Art. 93 GG (Normenkontrolle) vor dem Verfassungsgericht ausge­tragen wurden. Auf diesem Hintergrund ist das Wahlrecht, das sich in 19 Legislaturperioden – wie ein Chamäleon – 21mal veränderte, zuletzt dann doch dreimal zu Fall gekommen ist: 1998, 2008 und 2012. Mit dem Philosophen Heraklit darf man daher sagen: „Alles fließt“. Selbst Verfassungshüter „baden niemals im gleichen Fluss.

Wirkungslos: die Deckelung der Überhänge

Die Entscheidung zur Deckelung der Überhänge des BVerfG v. 25.7.2012 (BVerfGE 131, 316) ließ endlich aufatmen. Das Verfassungsgericht entschied: „Die Grundsätze der Gleichheit der Wahl, sowie der Chancengleichheit der Parteien sind bei einem Anfall von Überhangmandaten von mehr als einer halben Fraktionsstärke verletzt.“ Mehr als 15 Überhänge seien unzulässig. Die Überhangmandate sind also zulässig, aber gedeckelt. Das ist der gegenwärtige Stand der Rechtsprechung.

Selbst daran nagt noch der Zweifel, ob man den Willen der Wähler höchstrichterlich überhaupt deckeln kann. Die herrschende Meinung teilt diese Zweifel nicht. Vielmehr atmeten alle auf: Der „lange Marsch“ durch die vielen höchstrichterlichen Entscheidungen war geprägt von einer Fülle sog. „obiter dicta“, beiläufiger Randbemerkungen, die insgesamt nicht zueinander passten. Nun war das höchste Gericht zu den Überhängen angerufen worden, hat zu den Überhängen auch geurteilt, und zwar einstimmig. Karlsruhe hatte gesprochen, der Dauerstreit schien beendet: Mehr als 15 Überhänge sind unzulässig.

Doch dem war nicht so, wie sich sehr rasch zeigen sollte. Bei der Bundestagswahl vom 24.9.2017 kam es nämlich zu einer großen Überraschung. Denn es entstanden 46 Überhangmandate, mehr als je zu­vor. Die vom Verfassungsgericht gezogene Obergrenze von 15 zulässigen Überhängen war turmhoch überschritten. Eigentlich eine glasklare Sache. Doch das Urteil des BVerfG v. 25.7.2012 (BVerfGE 131, 316) ist unter einem anderen Wahlgesetz ergangen. Und das neue, das 21. Wahlrechts-Ände­rungsgesetz (BGBl I S. 1082), unter dem auch die Wahl vom 24.9.2017 abgehalten wurde, hatte schon 2013 im Bund einen Mandatsausgleich eigener Art eingeführt, den es davor in verschiedenen Varian­ten nur in 13 von insgesamt 16 Bundesländern gab.

Die 46 Überhänge, die 2017 angefallen waren, wurden „ausgeglichen“, aber nicht durch 46, sondern durch 65 nachgeschobene Aufstockungsmandate. Das Gericht hatte in seiner Entscheidung zur Decke­lung der Überhänge die Möglichkeiten des Mandatsausgleichs – im Sinne eines „obiter dictums“ – so­gar mehrfach erwähnt. Mit diesen höchstrichterlichen Randbemerkungen haben die Verfassungsrichter ihre eigene Entscheidung unübersehbar relativiert. Die Frage, ob man die Obergrenze von 15 Über­hängen in beliebiger Höhe überschreiten darf, wenn dies durch einen „Mandatsausgleich“ geheilt wird, lag damit wieder auf dem Tisch. Das Urteil zur Deckelung der Überhänge v. 25.7.2012 ist deshalb völlig wirkungslos geblieben. Nichts wurde gedeckelt. Schlimmer noch! Statt weniger gab es 2017 mehr, nämlich 46 Überhänge, mehr als je zuvor, und noch mehr nämlich 65 Ausgleichsmandate. In 19 Fällen stand dem Ausgleich gar kein Überhang gegenüber. So zweischneidig kann ein deplatziertes „obiter dictum“ sein!

Man kann das Ganze mit einem völlig überfüllten Aufzug vergleichen, der nur für die Beförderung einer begrenzten Zahl an Personen zugelassen ist. Die Verfassungsrichter haben gesagt, in geringem Umfang könne die zulässige Zahl an Personen ausnahmsweise überschritten werden, „wenn es nicht zu viele sind“. Sind es mehr als 15, dann höre „der Spass auf“. Leider setzten die Richter eine ebenso überflüssige wie fatale Randbemerkung hinzu und sagten, man müsse sich die Sache neu überlegen, wenn für die Überlastung ein Ausgleich geschaffen werde. Doch was soll das heißen? Wahlen werden ausgezählt, niemals aber ausgeglichen. Niemand ist befugt, nachdem die Wahllokale schon geschlos­sen sind, über den Kopf der Wähler hinweg in das Wahlergebnis einzugreifen, es zu verbessern, zu deckeln oder auszugleichen. Wer das Wahlergebnis nachträglich ausgleicht, der verfälscht es auch.

Das Volk tut seinen Willen in Wahlen kund

Die zahlreichen Judikate der höchstrichterlichen Rechtsprechung zum BWahlG werden insgesamt charakterisiert durch ihren amorphen Verlauf: Alles zerfließt. Allmählich wird es Zeit, dass die „Ver­fassungshüter“ Nägel mit Köpfen machen. Sie sollen keine „obiter dicta“ erfinden, unbestimmte Rechtsbegriffe in Umlauf bringen oder Appelle formulieren. Sie sollen urteilen, Missstände unterbin­den, verbindlich Recht sprechen und vor allem die Verfassung schützen.

  1. Zuerst muss das Stimmensplitting weg. Die mit der Personenwahl verbundene Verhältnis­wahl, schließt die unverbundene Abstimmung mit beiden Stimmen aus. Wahlen sind gemein­schafltiche Willenserklärungen des Wahlvolkes. Bei einer gespaltenen Willenserklärung der Wähler wird der Wählerwille dubios. Deshalb sind beide Stimmen ungültig.
  2. Das Grundgesetz verlangt außerdem die unmittelbare, gleiche und freie Wahl aller Abge­ordneten. Daran sind Verfassungsrichter gebunden. Sie können es nicht dulden, dass nur über den kleineren Teil der Volksvertreter in 299 Wahlkreisen unmittelbar abgestimmt wird, während der größere Teil der insgesamt 709 Parlamentarier das jeweilige Mandat „en bloc“ auf dem Umweg über die Listen der Parteien erlangt, der konkrete Abgeordnete also nur mit­telbar gewählt wird. Hier wird die Parteiensouveränität über die Volkssouveränität gestellt.
  3.  Den 65 Abgeordneten, die lediglich ein nachgeschobenes Ausgleichsmandat bekleiden, fehlt die demokratische Legitimation. Volksvertreter wird man nicht durch hoheitlichen Oktroy, d.h. durch amtliche Ernennung, sondern allein durch Wahl. Bei den 65 nachgeschobenen Aus­gleichsmandaten, die es 2017 gab, fand überhaupt keine unmittelbare und schon gar keine freie Wahlhandlung im Wahlvolk statt, durch die von den Wählern entschieden worden wäre, wer, von welcher Partei, in welchem Bundesland eines der Zusatzmandate erhalten soll.
  4.  Eine Doppelwahl mit zwei Stimmen ist umständlich, aber nicht unbedingt verfassungs­widrig, vorausgesetzt, die Zahl der Wahlkreise und der Sitze im Parlament stimmt überein. Nur so ist eine lückenlose Personalisierung und Personifizierung der Verhältniswahl durch die Personenwahl überhaupt machbar.

Alleiniger Souverän des Staates ist das Volk. Die Staatsgewalt geht selbst dann nicht von den Par­teien aus, wenn es sich um Regierungsparteien handelt. Die Staatsgewalt geht vom Volke aus. Es tut seinen Willen in Wahlen kund. Die Direktwahl der Abgeordneten wird den Wählern im Grundgesetz garantiert. Und wenn die Wähler nicht das letzte Wort haben, dann haben sie auch nicht das ent­scheidende Wort.

 
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