15.11.2015

Von den Grenzen des Sozialstaates

Bundestag beschließt Änderungen der Leistungen für Asylbewerber

Von den Grenzen des Sozialstaates

Bundestag beschließt Änderungen der Leistungen für Asylbewerber

Im sozialen Rechtsstaat darf die Grenze der Wahrung der Menschenwürde für Asylbewerber nicht überschritten werden. | © Weissblick - Fotolia
Im sozialen Rechtsstaat darf die Grenze der Wahrung der Menschenwürde für Asylbewerber nicht überschritten werden. | © Weissblick - Fotolia

Im Schnelldurchgang hat der Bundestag mit großer Mehrheit und Zustimmung des Bundesrates am 16. 10. 2015 das sog. Asyl­verfahrens­beschleunigungs­gesetz beschlossen. Bereits am 24. 10. 2015 ist es einen Tag nach Verkündung im Bundesgesetzblatt in Kraft getreten (BGBl. I S. 1722). Diese ungewöhnliche legislative Eile ist nicht verwunderlich; sie ist der die Medien und Diskussionen beherrschenden dramatisch sich entwickelnden Flüchtlingskrise geschuldet. Die Anzahl der Asylsuchenden dürfte bei Erscheinen dieses Beitrages die im Gesetzentwurf der Fraktionen von CDU/CSU und SPD vom 29. 09. 2015 (BT-Drs. 18/6185) angenommenen 800.000 für 2015 noch übertreffen.

Um den damit verbundenen gewaltigen Herausforderungen für Politik, Verwaltung und Gesellschaft zu begegnen, zielt der gesetzgeberische Wille darauf, die Asylverfahren zu beschleunigen, Rückführungen zu erleichtern sowie die Integration derjenigen mit guter Bleibeperspektive zu verbessern. Dazuhin soll befristet von baulichen und ähnlichen Standards abgewichen werden können, um mehr Unterbringungen zu ermöglichen. Das im Namen des Gesetzes schon aufscheinende Motiv der Beschleunigung der Verfahren auf Anerkennung als Asylberechtigter nach Art 16 a GG soll insbesondere erreicht werden, in dem nun auch Albanien, Kosovo und Montenegro als sichere Herkunftsstaaten eingestuft werden, sodass aus diesen Ländern Flüchtende zügiger als nicht schutzwürdig, damit nicht asylberechtigt wieder abgeschoben werden können.

Kein Anreiz für Grenzüberschreitungen

Durch das verabschiedete Artikelgesetz erfährt darüber hinaus das sog. Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) erneut einige Änderungen, nachdem es erst zum 01. 03. 2015 mit Gesetz zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes und des Sozialgerichtsgesetzes vom 10. 12. 2014 (BGBl. I S. 2187) und Gesetz zur Verbesserung der Rechtsstellung asylsuchender und geduldeter Ausländer vom 23. 12. 2014 (BGBl. I 2014, 2439) grundlegend neu gestaltet worden war.


Ausdrücklicher Wille des Gesetzgebers ist es, Fehlanreize zu beseitigen, die zu ungerechtfertigten Asylanträgen führen können. Durch folgende Neuregelungen will man „eventuellen Anreizen” entgegenwirken, „aus sachfremden Gründen einen Asylantrag zu stellen” (BT-Drs. 18/6185, S. 26). In Erstaufnahmeeinrichtungen wird künftig nicht nur wie bisher der notwendige Bedarf (Ernährung, Kleidung, Gesundheitspflege sowie Haushaltsgüter), sondern auch regelmäßig der notwendige persönliche Bedarf statt durch Geld- allein durch Sachleistungen gedeckt. Diese Neuregelung betrifft zudem künftig eine größere Anzahl von Asylbewerbern, da der Zwangsaufenthalt in diesen Einrichtungen nunmehr auf sechs Monate und für solche aus sicheren Herkunftsstaaten sogar bis zum Abschluss ihres Verfahrens verlängert wird. Werden die Asylsuchenden im Rahmen ihrer weiteren regionalen Verteilung später Gemeinschaftsunterkünften zugewiesen, kann das zuständige Sozialamt den notwendigen persönlichen Bedarf soweit wie möglich ebenfalls durch Sachleistungen befriedigen.

Ferner werden die Leistungsansprüche vollziehbar Ausreisepflichtiger, die aus ihnen vorwerfbaren Gründen nicht ausgereist sind (entfällt etwa bei Reiseunfähigkeit oder faktischer Unmöglichkeit auszureisen), sowie Geduldeter, die schuldhaft die Vollziehung aufenthaltsbeendender Maßnahmen verhindert haben (etwa durch falsche Angaben), drastisch gekürzt. Dies gilt ebenso für Leistungsberechtigte, die nach der sog. Dublin III-Verordnung in die Zuständigkeit eines anderen Staates (sicherer Herkunftsstaat) fallen.

Statt der Leistungen nach §§ 3, 4 und 6 AsylbLG erhalten diese Personen bis zu ihrer freiwilligen oder erzwungenen Ausreise nur noch Leistungen für Ernährung, Unterkunft einschließlich Heizung sowie Körper- und Gesundheitspflege und erforderlicher Akutversorgung bei Krankheit. Nur wenn „besondere Umstände” vorliegen, können ihnen regelmäßig als Sachleistung auch Kleidung, Haushaltsgüter und Mittel für den persönlichen Bedarf zur Verfügung gestellt werden. Vor allem nach § 6 AsylbLG mögliche weitergehende besondere Leistungen in dringenden Einzelfällen etwa zur Gesundheitsversorgung sind aber aufgrund der Neuregelung vollständig ausgeschlossen. Diese Ausschlüsse gelten wiederum nicht für Angehörige von ausreisepflichtigen Geduldeten, die immerhin noch insoweit „unabweisbare gebotene” Leistungen bekommen (allerdings bedeutet auch dies eine Verschärfung, da Absenkungen bislang an ein eigenes Fehlverhalten der Familienmitglieder gekoppelt war).

Schließlich wird die Auszahlung von Geldleistungen sinnvollerweise im Voraus generell auf den Bedarfsmonat beschränkt. Durch Ansprüche auf Impfungen sowie die optionale Einführung einer Gesundheitskarte – beschränkt auf das Niveau des AsylbLG – wird der Gesundheitsschutz der Betroffenen erleichtert. Bayern hat im Bundestag jedoch schon angekündigt, die Gesundheitskarte nicht einzuführen; zu erwarten ist demnach ein bundesweiter Flickenteppich von Regelungen.

Verfassungsrechtliche Grenzkontrolle

Mit der Grundsatzentscheidung vom 18. 07. 2012, (Az. 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11), welche bereits die Verbesserungen des AsylbLG zum 01. 03. 2015 auslöste, hat das Bundesverfassungsgericht klar festgestellt, dass das durch Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG garantierte Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums allen Menschen zusteht, die sich in Deutschland aufhalten.

Schon die Rückgängigmachung des Primats der Geldleistung dürfte bei einer „Grenzkontrolle” durch das Bundesverfassungsgericht massive Probleme bekommen. Dieses hatte migrationspolitischen Erwägungen eine deutliche Absage erteilt, die darauf abzielten, Wanderungsanreize durch zu hohe Standards zu vermeiden, um damit ein Absenken der Leistungsstandards unter das menschenwürdige Existenzminimum zu rechtfertigen. Zwar wird dieses mit der Umwandlung des persönlichen Bedarfs in Sachleistungen nicht unmittelbar verletzt, auch wenn die Betroffenen damit weitgehend nicht mehr selbstbestimmt handeln können. Mit der Gewährung von Sachleistungen wird es aber schwieriger sein, die zum Existenzminimum gehörende soziale Teilhabe in einer Einrichtung für alle gleich zu gewährleisten; Geld macht insofern „gleicher”. Zudem besteht die Gefahr, dass der „Handel” mit Sachgütern innerhalb der Einrichtungen verstärkt wird, sodass soziale Konflikte weiter geschürt werden, die in der Enge der Unterkünfte ohnehin schnell ausbrechen können. Nicht zuletzt ist die vollständige Vergabe von Sachleistungen für die Kommunen ein bürokratischer, kostenträchtiger Mehraufwand, der in der derzeitigen belastenden Situation kaum zu leisten ist. Die Neuregelung lässt daher für die Kommunen ein „Hintertürchen” offen, das kurz vor Ende des Gesetzgebungsverfahrens noch eingefügt wurde: Sind Sachleistungen nicht „mit vertretbarem Aufwand” möglich, können die entsprechenden Leistungen auch mit Gutscheinen oder in bar gewährt werden. Die Kommunen werden diesen Ausweg wohl gerne suchen.

Die Kontrolle durch das oberste Verfassungsgericht wird die neue Regelung in § 1 a AsylbLG allerdings wohl kaum passieren. Hiernach sollen die Leistungen für vollziehbar Ausreisepflichtige und diesen Gleichgestellte auf das physische Existenzminimum reduziert werden. Nach Auffassung der Verfassungsrichter muss das Existenzminimum „in jedem Fall und zu jeder Zeit sichergestellt sein”. Selbst eine kurze Aufenthaltsdauer oder Aufenthaltsperspektive könne dessen Beschränkung auf das rein physische Existenzminimum nicht begründen. Differenzierungen bei den Leistungen für bestimmte Gruppen seien nur bei nachweisbar geringerer Bedarfslage zulässig. Soweit bei vollziehbar Ausreisepflichtigen unter keinen Umständen ein Bleiberecht mehr in Betracht kommt, ließe sich danach eine kurzfristige, übergangsweise Herabsetzung der Leistungen auf das physische Minimum bis zur endgültigen Ausreise womöglich noch rechtfertigen.

Bei Geduldeten oder vollziehbar Ausreisepflichtigen, denen allein eine angebliche schuldhafte Verhinderung ihrer Abschiebung vorgeworfen wird, dürfte im Regelfall gerade dies streitig sein – mit der Folge, dass Zeit benötigt wird, um eine tatsächliche und rechtliche Klärung herbei zu führen. Insofern hat die Leistungskürzung hier allein Strafcharakter. Eine „Sippenhaft” in Gestalt von Kürzungen des Taschengeldes für alle Familienmitglieder ist verfassungsrechtlich schon unzulässig (vgl. auch BSG, Terminsbericht v. 28. 05. 2015, B 7 AY 1/14 R). Eine Instrumentalisierung des Leistungsrechts zur vermeintlichen Lösung aufenthalts- und asylverfahrensrechtlicher Fragen widerspricht ferner dem verfassungsrechtlichen Verbot der migrationspolitischen Relativierung der Leistungen. Bereits die einzelfallbezogene, daher schon mildere bisherige Herabsetzung auf das „unabweisbar gebotene” Minimum bei schuldhaftem Verhalten sehen einige Landesozialgerichte zu Recht als verfassungswidrig an, wenn nicht wenigstens ungekürzt Grundleistungen nach § 3 AsylbLG einschließlich des persönlichen Barbetrages zur soziokulturellen Teilhabe bewilligt werden (etwa LSG NRW, Beschl. v. 24. 04. 2013, Az. L 20 AY 153/12 B ER). Die Legislative nimmt also sehenden Auges die Möglichkeit des Verfassungsbruchs in Kauf.

Der Sozialstaat beruht nicht zuletzt auf der Annahme wechselseitiger Verbundenheit aller Menschen, in der der Leistungsfähige sich gegenüber dem Bedürftigen zur Hilfe verpflichtet. Nimmt man das Sozialstaatsprinzip als tragende staatliche Säule ernst, darf die Grenze der Wahrung der Menschenwürde für Asylbewerber nicht überschritten werden – selbst wenn die Flüchtlingszahlen noch weiter dramatisch steigen sollten. Auch für uns sollte der Maßstab in der Präambel der schweizerischen Verfassung gelten: „Die Stärke des Volkes misst sich am Wohl der Schwachen”. Der Erhalt des sozialen Rechtsstaates ist den Preis wert.

 

Franz Dillmann

Leiter des Bürgeramtes Köln-Rodenkirchen
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