15.11.2015

Schnellere Vergaben

Öffentliche Aufträge in Asyl- und Flüchtlingsangelegenheiten

Schnellere Vergaben

Öffentliche Aufträge in Asyl- und Flüchtlingsangelegenheiten

Schnellere Vergaben
Es ist eine gemeinsame Aufgabe, Obdachlosigkeit der Flüchtlinge zu vermeiden. | © Jonathan Stutz - Fotolia

Zur Anwendung des Vergaberechts im Zusammenhang mit der Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen in Asyl- und Flüchtlingsangelegenheiten bei der Vergabe öffentlicher Aufträge hat sich das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) im Rundschreiben vom 24. 08. 2015 – Az. 1B 6-270100/14 – geäußert. Es weist dazu auf Beschleunigungsmöglichkeiten hin. Eingangs heißt es wörtlich:

„Es ist die gemeinsame Aufgabe des Bundes, der Länder und der Kommunen, für die nach Deutschland kommenden Menschen Unterkunft und Verpflegung sicherzustellen und Obdachlosigkeit zu vermeiden. Im Zusammenhang mit der Unterbringung und Versorgung stellen sich auch Herausforderungen für die Vergabeverfahren und deren schnelle, aber auch rechtssichere und effiziente Durchführung.”

Nachfolgend wird der Inhalt des Rundschreibens mit einigen Ergänzungen dargestellt.


Aufträge unterhalb der EU-Schwellenwerte

Bei öffentlichen Aufträgen unterhalb der EU-Schwellenwerte kommt das Haushaltsrecht zur Anwendung. Die Grundprinzipien des Unionsrechts – Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit sowie Gleichbehandlung und Transparenz – gelten auch in diesem Bereich, ferner die Grundsätze des Wettbewerbs, der Wirtschaftlichkeit und der Sparsamkeit. Die Verfahrensregeln des Haushaltsrechts lassen bereits eine Beschleunigung der Verfahren und die im Vergleich zum Oberschwellenbereich erleichterte Wahl eines freihändigen Vergabeverfahrens bei öffentlichen Aufträgen zu (§ 3 Abs. 5 Nr. 4 VOB/A, § 3 Abs. 5 Buchst. g) VOL/A).

Aufträge oberhalb der EU-Schwellenwerte

In Betracht kommen Bau-, Liefer- und Dienstleistungsaufträge ab den jeweiligen Schwellenwerten. Bauaufträge betreffen Neubauten und Umbauten. Lieferaufträge für Waren betreffen z. B. Zelte, Container, Kleidung, Decken, Betten, Nahrungsmittel. Dienstleistungsaufträge sind z. B. Reinigungs-, Gesundheits-, Verpflegungs- und Sicherheitsdienste. Der derzeit geltenden Richtlinie 2004/18/EG unterliegen Dienstleistungen nur dann vollständig, wenn sie in der dort enthaltenen erschöpfenden Auflistung (Anhang II Teil A der Richtlinie) aufgeführt sind. Im Hinblick auf Asylsuchende sind hier besonders Bustransporte und Reinigungsdienste relevant. Für alle sonstigen Dienstleistungen, die nicht in der erschöpfenden Auflistung enthalten sind, sind gemäß der Richtlinie (s. Teil B des Anhangs II) lediglich Transparenz ex post (durch eine an das Amt für Veröffentlichung der EU zu übermittelnde Bekanntmachung) und die Anwendung der Bestimmungen zu technischen Spezifikationen erforderlich. Dass die Vorschriften für Dienstleistungsaufträge mit der Richtlinie 2014/24/EU gegenüber der derzeit geltenden Richtlinie grundlegend geändert werden, sei nur am Rande vermerkt. Die neue Richtlinie ist erst bis zum 18. 04. 2016 umzusetzen, das entsprechende Verfahren in Deutschland läuft derzeit.

Für Vergabeverfahren oberhalb der EU-Schwellenwerte, welche durch die maßgeblichen Vorgaben der EU-Vergabekoordinierungsrichtlinie geprägt werden, sind im Zusammenhang mit der Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen folgende Aspekte zu beachten:

Auch die vom EU-Vergaberecht geprägten deutschen Regelungen für die Vergabe oberhalb der EU-Schwellenwerte kennen mehrere Möglichkeiten zur Beschleunigung von Vergabeverfahren, die bei öffentlichen Aufträgen zur Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen in Anspruch genommen werden können. Dabei kommen insbesondere das beschleunigte nicht offene Verfahren, aber auch das Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb in Betracht. Die Wahl des Verfahrens ist im Vergabevermerk zu begründen.

Beschleunigtes nicht offenes Verfahren

Im beschleunigten nicht offenen Verfahren können die Fristen für Teilnahmeanträge auf 15 Tage (im Fall einer elektronische Bekanntmachung auf 10 Tage) und für die Abgabe von Angeboten auf 10 Tage herabgesetzt werden. Dies ergibt sich aus § 10 VOB/A-EG Abs. 1 Nr. 6 Buchst. a), § 12 VOL/A-EG Abs. 4 Satz 2 bzw. § 10 VOB/A-EG Abs. 1 Nr. 6 Buchst. b), § 12 VOL/A-EG Abs. 5 Satz 2. Voraussetzung ist, dass der Auftrag besonders dringlich ist. Die besondere Dringlichkeit dürfte nach Auffassung des BMWi aufgrund der vorliegenden Informationen im Zusammenhang mit der Unterbringung von Flüchtlingen derzeit im Regelfall anzunehmen sein.

Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb

Rechtsgrundlagen sind § 3 VOB/A-EG Abs. 5 Nr. 4, § 3 VOL/A-EG Abs. 4 Buchst. d), § 3 Abs. 4 Buchst. c) VOF. Es sollten mehrere Unternehmen zur Angebotsabgabe aufgefordert werden.

Ein Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb kommt in Betracht, wenn aufgrund der konkreten Situation vor Ort auch die vorher genannten verkürzten Fristen nicht einzuhalten sind. Bei einem Vergabeverfahren ohne Teilnahmewettbewerb kann der öffentliche Auftraggeber unmittelbar mit wenigen potenziellen Bietern verhandeln, ohne den beabsichtigten Auftrag vorab veröffentlichen zu müssen.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs müssen drei kumulative Tatbestandsvoraussetzungen für die Anwendung der jeweiligen Ausnahmetatbestände für das Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb erfüllt sein. Der Verzicht auf die EU-weite Bekanntmachung ist danach nur zulässig, wenn ein unvorhergesehenes Ereignis vorliegt, dringliche und zwingende Gründe bestehen und ein kausaler Zusammenhang besteht zwischen dem unvorhergesehen Ereignis und der Unmöglichkeit, die Fristen einzuhalten.

Aufgrund des plötzlichen Anstiegs der Flüchtlingszahlen dürften derzeit nach Ansicht des BMWi regelmäßig sowohl das Tatbestandsmerkmal „unvorhergesehenes Ereignis” als auch „dringliche und zwingende Gründe” im Zusammenhang mit öffentlichen Aufträgen zur Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen erfüllt sein. Entscheidend sei in diesem Zusammenhang, dass der jeweilige öffentliche Auftraggeber nicht voraussehen konnte, dass er kurzfristig wesentlich mehr Flüchtlinge aufnehmen und unterbringen muss als zu erwarten war. Das BMWi dazu wörtlich:

„Nach der am 19. 08. 2015 veröffentlichten Flüchtlingsprognose des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) werden für das Jahr 2015 bis zu 800.000 Flüchtlinge erwartet. Bisher wurde für das Jahr 2015 lediglich eine Zahl von 450.000 Flüchtlingen prognostiziert. Dieser unerwartete Anstieg von aufzunehmenden Flüchtlingen wird regelmäßig dazu führen, dass die für die Unterbringung und Versorgung verantwortlichen Kommunen wesentlich mehr Unterbringungsmöglichkeiten und Versorgungskapazitäten zur Verfügung stellen müssen als zu erwarten war. Dies kann im konkreten Einzelfall zu äußerst kurzfristigem Beschaffungsbedarf führen, bei dem aufgrund der bestehenden Gefährdungen für ein wichtiges Rechtsgut (Gesundheit der Flüchtlinge) Aufträge zügig vergeben und ausgeführt werden müssen und von einem Teilnahmewettbewerb abgesehen werden kann. Im Sinne einer effizienten Verwendung von Haushaltsmitteln empfiehlt es sich, mehrere Unternehmen zur Abgabe von Angeboten aufzufordern.”

Weitere Anmerkungen

Mittlerweile dürften die vorher genannten Zahlen bereits wieder nach oben zu korrigieren sein, sodass die Argumentation des BMWi zur Zulässigkeit von Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb weiter an Gewicht gewinnt.

Das BMWi hat im Rundschreiben ferner angeregt, „stets zu prüfen, ob im Zusammenhang mit der Versorgung einer noch nicht genau abzuschätzenden Zahl von Flüchtlingen mit Liefer- und Dienstleistungen auf das Instrument einer Rahmenvereinbarung zurückgegriffen werden kann.”

Zusätzlich zum Rundschreiben des BMWi ist auf eine Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat zu den Vorschriften für die öffentliche Auftragsvergabe im Zusammenhang mit der aktuellen Flüchtlingsproblematik vom 09. 09. 2015 hinzuweisen, die unter „COM (2015) 454 final” im Internet aufgerufen werden kann. Anknüpfend an diese Mitteilung ist darauf hinzuweisen, dass das Anmieten vorhandener Gebäude nicht den Vorschriften für die öffentliche Auftragsvergabe unterliegt (vgl. Art. 16 Buchst. a der Richtlinie 2004/18/EU und § 100 Abs. 5 Nr. 2 GWB). Sofern vorhanden, kann Wohnraum ohne öffentliche Vergabeverfahren zur Verfügung gestellt werden, indem vorhandene Gebäude auf dem Immobilienmarkt angemietet werden oder bestehende öffentliche Infrastruktur (Kasernen, Schulen, Sportstätten usw.) diesem Verwendungszweck zugeführt wird. Wenn Neubauten, Renovierungsmaßnahmen oder andere Herrichtungsarbeiten bei vorhandenen Gebäuden notwendig sind, gelten die Vorschriften der Union für die öffentliche Auftragsvergabe (s. Art. 1 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2004/18/EU und künftig Art. 2 Abs. 6 der Richtlinie 2014/24/EU). Die Richtlinie 2004/18/EU ist anwendbar, wenn der geschätzte Auftragswert des betreffenden Bau-, Renovierungs- oder Herrichtungsvorhabens den derzeit geltenden Schwellenwert von 5 168 000 EUR erreicht oder überschreitet. Dies gilt für jedes funktional unabhängige Vorhaben. Eine Stadt oder Gemeinde, die mehrere Wohnbauvorhaben plant, errechnet im Allgemeinen den Auftragswert jedes Vorhabens separat, um festzustellen, ob der Schwellenwert erreicht ist. Es ist jedoch nicht zulässig, ein einzelnes Bauvorhaben aufzuteilen, um es so der Anwendung der Richtlinie zu entziehen (Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie 2004/18/EU).

 

Michael Stemmer

Direktor a.D. beim Bayerischen Kommunalen Prüfungsverband, München
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