05.10.2017

Stiller Verfassungswandel?

Die Ehe für alle und das Grundgesetz

Stiller Verfassungswandel?

Die Ehe für alle und das Grundgesetz

Zur Reform des Eheparagraphen: Wäre nicht eine Grundgesetzänderung der richtige Weg gewesen? | © psdesign1 - stock.adobe.com
Zur Reform des Eheparagraphen: Wäre nicht eine Grundgesetzänderung der richtige Weg gewesen? | © psdesign1 - stock.adobe.com

Ehe für alle und Ehebegriff des Grundgesetzes

Von »stillem Verfassungswandel« wird gesprochen, wenn veränderte Wertungen des unter verfassungsrechtlichen Rechts oder auch nur gewandelte gesellschaftliche Wertvorstellungen mit einem geänderten Verständnis der zugeordneten Verfassungsnorm einhergehen. Gemessen am parlamentarischen wie außerparlamentarischen, verbalen wie nichtverbalen Beifall war es ein durchaus geräuschvoller Verfassungswandel, der mit der Abstimmung im Bundestag vom 30.06.2017 über eine Änderung des § 1353 Abs. 1 BGB seinen Abschluss finden sollte. Der bisherige Wortlaut »Die Ehe wird auf Lebenszeit geschlossen« wurde ergänzt durch die Worte »von zwei Personen verschiedenen oder gleichen Geschlechts«. In Art. 6 Abs. 1 GG allerdings sollte mit »Ehe« die Verbindung von Mann und Frau unter besonderen Schutz gestellt werden: Geschlechtsverschiedenheit als Merkmal des Ehebegriffs musste dem Verfassungsgeber als so selbstverständlich erscheinen, dass deren besondere Erwähnung überflüssig war. Dies war auch der Ehebegriff des einfachen Rechts und auch des Bundesverfassungsgerichts, das die weitgehend ehegleiche rechtliche Stellung der eingetragenen Partnerschaft gerade damit begründete, dass es sich bei ihr nicht um eine »Ehe« handelt. So vermag jedenfalls das Argument, im Grundgesetz werde die Ehe nicht definiert, nicht zu überzeugen. Das Grundgesetz verzichtet auf eine ausdrückliche Definition, legt aber den in der Rechtsordnung wie auch der außerrechtlichen Gesellschaftsordnung ausgeformten Ehebegriff zugrunde, den der Verbindung von Personen verschiedenen Geschlechts.

Das Phänomen des »stillen Verfassungswandels«

Es bedarf kreativer Ansätze, um den Widerspruch zwischen der Neufassung des § 1593 Abs. 1 BGB und der unveränderten Verfassungsnorm interpretatorisch einzuebnen. Hierfür dürfte sich in erster Linie der Rückgriff auf die Rechtsfigur des Verfassungswandels anbieten. Doch ist Behutsamkeit geboten. Anerkannt mag sein, dass der Inhalt auch eines Verfassungsgesetzes im Wege der Auslegung einem Wandel infolge Änderung der Verhältnisse und Anschauungen unterliegen kann, so die Verfassungsrechtsprechung, ohne dass diese es hätte zum Schwur kommen lassen. Das Phänomen des stillen Verfassungswandels gleicht insoweit in gewisser Hinsicht dem des verfassungswidrigen Verfassungsrechts und erinnert an den Phoenix bei Mozart/da Ponte: So mancher weiß davon zu berichten, wo er aber ist? Nessun‘ lo sa.

Gleichgeschlechtliche Ehe und Verfassungswandel

Für den Ehebegriff des Art. 6 Abs. 1 GG ist ein solcher Verfassungswandel jedenfalls schwerlich darstellbar. Hierfür ist zu vergegenwärtigen, dass es sich bei der Ehe in Art. 6 GG um einen normativ vorgeprägten Begriff handelt; Ehe bedarf der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber, der sich bisher im Rahmen des tradierten, vom Verfassungsgeber vorgefundenen und grundrechtlich verfestigten Ehebegriffs gehalten hatte. Doch selbst wenn auf einfachgesetzlicher Ebene eine entsprechende Umformung des Ehebegriffs stattgefunden hätte, so kann dies allein noch keinen Wandel des verfassungsrechtlichen Ehebegriffs nach sich ziehen: die einfachgesetzliche Norm ist am Verfassungsrecht auszurichten, nicht umgekehrt.


Ob eine Interpretation vom Normen des Grundgesetzes in Konkordanz zu Gewährleistungen der EMRK zu einem Verfassungswandel führen könnte, kann jedenfalls für die Bestimmung des verfassungsrechtlichen Ehebegriffs dahinstehen. Die Konvention belässt Spielräume. Art. 12 EMRK, wonach Männer und Frauen das Recht auf Eheschließung haben, hindert die Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Ehe nicht, doch besteht hierauf kein Anspruch, auch nicht auf der Grundlage des Art. 8 EMRK. So bliebe der Rückgriff auf gewandelte gesellschaftliche Auffassungen, sollten sie denn mit hinreichender Sicherheit feststellbar sein. Allein hieraus aber kann ein Verfassungswandel nicht hergeleitet werden. Bedurfte es schon auf der einfachgesetzlichen Ebene des bürgerlichen Rechts einer ausdrücklichen Gesetzesänderung, um gewandelten Auffassungen zur Ehe Rechnung zu tragen, so gilt diese umso mehr für die Ebene des Verfassungsrechts, das als dauerhaft angelegte, Rechtssicherheit schaffende Grundordnung nicht unter dem Vorbehalt der aktuellen gesellschaftlichen Anschauungen gelten kann.

Verfassungswandel und Verfassungsänderung

Ihnen Rechnung zu tragen, ist Aufgabe des Gesetzgebers, des verfassungsändernden Gesetzgebers, wenn es um rechtliche Ordnungen auf Verfassungsebene, um Rechtsbegriffe mit Verfassungsrang geht und damit um einen Verfassungswandel. Eben deshalb, weil der Begriff der Ehe ein Begriff nicht nur des einfachen Rechts ist, sondern verfassungsrechtlich festgeschrieben, dürfte auch eine Differenzierung zwischen einem einfachgesetzlichen und einem verfassungsrechtlichen Ehebegriff nicht zulässig sein, zumal die verfassungsrechtliche Gleichstellung der gleichgeschlechtlichen mit der herkömmlichen, geschlechtsverschiedenen Ehe in der Intention der Gesetzesänderung liegt. Wollte man aber Gesetzesänderung im bürgerlichen Recht die Wirkung einer verbindlichen Neuinterpretation einer Verfassungsnorm beimessen, so geriete dies in Widerspruch zu den verfassungsmäßigen Garantien für Änderungen des Grundgesetzes. Sie müssen sich im Wortlaut wiederfinden. Misst man dem verfassungsrechtlichen Begriff der Ehe einen eindeutigen Bedeutungsgehalt zu, so muss dessen Änderung auch im Wortlaut der Verfassungsnorm zum Ausdruck kommen, selbst dann, wenn man die gleichgeschlechtliche Ehe als noch vom Wortsinn gedeckt sehen wollte.

»Niemandem wird etwas genommen« – lohnt der »Gang nach Karlsruhe«?

Geht es also darum, die Reform des Eheparagrafen gegen das Verdikt eines Widerspruchs zu Art. 6 Abs. 1 GG und damit der Verfassungswidrigkeit in Schutz zu nehmen, so erscheint die schillernde Rechtsfigur eines Verfassungswandels schwerlich tragfähig. Aber auch weitere Erklärungsversuche vermögen nicht so recht zu überzeugen. Dass die Grundrechtsnorm kein Diskriminierungsgebot enthält, klingt zunächst konsensfähig – wer wollte nicht gegen Diskriminierung sein? Kann aber dem Grundgesetz Diskriminierung vorgeworfen werden, wenn es ein Rechtsinstitut – nämlich das der Ehe – definiert und für schutzwürdig erklärt? Die Frage stellen, heißt sie zu verneinen, und daher geht der Einwand der Diskriminierung auch gegenüber dem einfachen Gesetzgeber fehl, der die grundgesetzliche Wertung konkretisierend nachvollzieht. Und ebenso wenig zu überzeugen vermag der gleichermaßen konsensorientierte Hinweis, es werde niemandem etwas genommen, es sei »genug Ehe für alle« da. Denn es geht hier nicht darum, wem etwas gegeben, wem etwas genommen wird, es geht auch nicht um das »Wesen der Ehe« – es geht schlicht um die Frage, ob hier das Grundgesetz im dafür vorgesehen Verfahren geändert werden musste. Dies wäre jedenfalls der korrekte Weg gewesen. Dass niemandem etwas »genommen« wird, dürfte gleichwohl für den Bestand der Reform entscheidend sein: ohne Beschwer keine Verfassungsbeschwerde; eine Normenkontrolle nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG ist angesichts des parteiübergreifenden Konsenses unwahrscheinlich. Ohnehin sollte hier vom Gang nach Karlsruhe Abstand genommen werden, die Beteiligten können nur verlieren. Stellt sich das Gericht dem Zeitgeist entgegen, mag ihm dies vereinzelt Beifall eintragen, seiner Autorität aber letztlich abträglich sein, ebenso aber bemühte Versuche, das Gesetz zu halten. Und so könnte es langfristig doch zu einem Verfassungswandel kommen.

 

Prof. Dr. Christoph Degenhart

Professor für Staats- und Verwaltungsrecht sowie Medienrecht, Universität Leipzig; Mitglied des Sächsischen Verfassungsgerichtshofs
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