12.10.2017

Bundestagswahl 2017: Offenbarung einer gespaltenen Gesellschaft

Nach dem Aufschrei folgt die Analyse: Ehrliche Debatte gefragt

Bundestagswahl 2017: Offenbarung einer gespaltenen Gesellschaft

Nach dem Aufschrei folgt die Analyse: Ehrliche Debatte gefragt

Neu: Sieben Parteien im Deutschen Bundestag | © fotomek - stock.adobe.com
Neu: Sieben Parteien im Deutschen Bundestag | © fotomek - stock.adobe.com

Obwohl Umfragen vor den Wahlen viele Tendenzen im Vorfeld prognostizieren konnten, haben die erste Hochrechnung und schließlich das vorläufige amtliche Endergebnis die Gemüter erregt. Sämtliche Debatten fokussierten sich auf den erstmaligen Einzug der Alternative für Deutschland (AfD) in den Deutschen Bundestag als drittstärkste Kraft. Es liegt auf der Hand: Der Wahlkampf wurde maßgeblich von einer eher kleinen Partei dominiert.

Ergebnisse und Konsequenzen

Zur Abstimmung über die künftige Vertretung der Republik waren insgesamt ca. 61,5 Millionen Wahlberechtigte aufgerufen, die Wahlbeteiligung lag bei 76,1 Prozent (2013: 71,5 %). Die Union gewann mit 32,9 Prozent, einem Verlust von 8,6 Prozentpunkten gegenüber 2013 und somit dem zweitschlechtesten Ergebnis in der bundesdeutschen Geschichte. Die Schwesterpartei CSU fuhr derweil ihr schlechtestes Ergebnis seit 1949 ein. An zweiter Stelle folgt die SPD mit 20,5 % und einem Verlust von – 5,2 Prozentpunkten. Die AfD zieht erstmals in den Bundestag ein und landet mit 12,6 Prozent der Wählerstimmen auf dem dritten Platz, noch vor der FDP. Die Liberalen gewinnen mit 10,7 % 5,9 Prozentpunkte hinzu und werden gemeinsam mit den Grünen, die mit 8,9 % (+ 0,5) das Schlusslicht der im Bundestag vertretenen Parteien bilden, zu Gesprächspartner für eine sog. „Jamaika-Koalition. Die Linke bleibt mit 9,2 % (+ 0,6) stabil und landet auf Platz vier.

Obwohl sämtliche Umfragen vor der Wahl den Einzug der AfD und diesen auch zweistellig prognostiziert haben, war die Empörung am Wahlabend besonders groß und brach sich auch direkt gegen AfD-Wähler Bahn. Vor der Location der AfD Wahlparty formierte sich eine spontane Demonstration. Neben Sprechchören, die „Hau ab AfD!“ skandierten, flogen Steine und Flaschen. Die Polizei musste Journalisten und Gäste der Wahlparty abschirmen. Während dessen war die AfD das Top-Thema sämtlicher Wahldebatten. Die Partei selbst sorgte indes direkt am nächsten Morgen mit dem Austritt Frau Petrys aus der Fraktion erneut für Negativschlagzeilen.


Angespannter Wahlkampf

Bereits der Wahlkampf verlief vielerorts angespannt. Die angespannte Stimmung schlug nicht selten in Gewalt um. Das Bundeskriminalamt verzeichnete in diesem Jahr eine Zunahme von Kriminalität im Kontext der Bundestagswahlen. Alleine in Thüringen wurden eine Woche vor den Wahlen über 200 Straftaten gezählt, deutschlandweit wurden bis zum 16. September 2.250 Straftaten registriert. Betroffen waren in Thüringen vor allem die Parteien Die Linke und die AfD. Beide beklagten, dass 30 bis 40 Prozent ihrer Plakate zerstört würden. Doch auch Kandidaten und Wahlhelfer wurden tätlich angegriffen. Dabei traf es häufig Wahlhelfer und Teilnehmer von Wahlveranstaltungen der AfD, aber auch der CDU. Im niedersächsischen Northeim wurde eine 17-jährige AfD-Sympathisantin durch den Angriff aus einer Gruppe heraus so schwer verletzt, dass sie in ein Krankenhaus eingeliefert werden musste.

Doch auch die Rechtmäßigkeit der Auszählung wurde bereits im Vorfeld, wieder insbesondere durch Anhänger der AfD, angezweifelt. Nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen am 14. Mai 2017 wurden Unregelmäßigkeiten in der Auszählung der Stimmzettel festgestellt. Daraufhin wurden 80 Wahlbezirke neu ausgezählt und festgestellt, dass für die AfD in 50 Bezirken insgesamt 2.204 Stimmen zu wenig gezählt wurden. Entsprechend reichte die Landesgruppe dem Landtagspräsidium eine 80-seitige Einspruchsschrift ein und verlangte die Neuauszählung aller Wahlbezirke, was im August 2017 abgelehnt wurde. Aufgrund dieser Ereignisse riefen vor allem Wähler der AfD in sozialen Netzwerken dazu auf, als Wahlbeobachter zu fungieren.

Reaktionen: Analysen, Eingeständnisse, Korrekturen?

Nach dem Aufschrei folgt die Analyse. Die Frage, warum es die AfD überhaupt gibt und warum sie drittstärkste Kraft im deutschen Bundestag geworden ist, muss ehrlich analysiert werden. Denn tatsächlich machen die Vertreter dieser Partei selten eine gute Figur in den deutschen Medien. Im Vorfeld der Wahlen war der Weg diverser Kandidaten mit Pleiten, Pech und mehr oder weniger schwerwiegenden Skandalen versehen. Und es sind eben nicht nur frustrierte, ungebildete Männer aus dem Osten, die allgemein und ohnehin gerne zu den Prototypen des Rechtsextremisten der 1990er Jahre stigmatisiert werden. Es sind Taten und Versäumnisse der etablierten Parteien, die den Wunsch nach einer „echten Opposition“ in der Gesellschaft aufkeimen lassen. Dabei geht es auch nicht nur um die Flüchtlingskrise und die unkontrollierte Grenzöffnung, sondern auch um Verhandlungen mit Islamverbänden, die beispielsweise trotz begutachteter Bedenken an deutschen Schulen den Unterricht gestalten dürfen und die immer mehr Raum fordern. Es geht um die ansteigende Terrorgefahr durch Islamisten und damit verbundene Ängste, die mit herangezogenen Statistiken marginalisiert werden. Es geht um Kriminelle und Integrationsverweigerer, die nicht konsequent sanktioniert werden. Auch der Anstieg von sexuellen Übergriffen gegen Frauen im öffentlichen Raum ist ein Thema. Ja, die Menschen und sicher insbesondere diejenigen, die die AfD gewählt haben, haben Angst und sind wütend. Dafür kann man sie weiter kriminalisieren oder man begibt sich an die Ursachen und überlässt sie nicht denjenigen, die man als Rechtspopulisten nicht als politischen Vertreter sehen möchte.

Die Entwicklungen sind gegenwärtig: Gegengesellschaften, Clan-Strukturen, sog. „No-Go-Areas“, steigende Kriminalität im öffentlichen Raum und Terrorgefahr, diese Gefährdungen können real in das Leben der Bürger eingreifen: Wohnungen werden einbruchssicherer gemacht, Frauen überlegen sich mittlerweile oft zweimal, ob sie noch alleine joggen und vor allem auch, zu welchen Tageszeiten, öffentliche Veranstaltungen werden teurer, der Preis für Sicherheitsmaßnahmen wird von den Teilnehmern bezahlt und der Frust über die steuerlichen Abgaben des Bruttolohns oder Umsatz der Selbstständigen steigt zusätzlich. Die soziale Gerechtigkeit wird durch die Wähler sämtlicher Parteien zunehmend in Frage gestellt, die Ängste werden existentiell. Parolen und Populismus können all diese Probleme aber nicht lösen. Doch die Radikalisierung der Mitte hat längst begonnen.

Fazit und Ausblick

Einen Tag nach der Bundestagswahl ist das Land gespalten, die Mitte droht zwischen den Extremen zerrieben zu werden. Statt einen Dialog zu führen, zerbrechen gar Freundschaften und Familienbündnisse an einer Pro- oder Antihaltung zur AfD. Der Publizist Hamed Abdel-Samad sieht in diesem gesellschaftlichen Streit eine ernste Gefahr: „Es gibt einen geistigen Bürgerkrieg in diesem Land“. Die Spaltung verläuft nicht durch die Parteienlandschaft, es ist die deutsche Gesellschaft, die völlig gespalten ist. Die Aufgabe der Politik gleich weder Couleur sollte es sein, die tiefen Risse wieder zu kitten. Doch genau das ist nicht in Sicht, zu sehr bleiben die Beteiligten in gegenseitigen Schuldzuweisungen verhaftet. Die Demokratie und insbesondere auch die demokratische Debattenkultur stehen derweil auf einer harten Probe. Um diese erfolgreich zu lösen bedarf es einer Debattenkultur, die ohne Keulen wie „Rassist“, „Gutmensch“, „Volksverräter“ und „Pack“ auskommt. Der Journalist Markus Hibbeler mahnt via Facebook: „Eine weitere Spaltung und Radikalisierung sind Gift für unser Land. Wir müssen miteinander sprechen, uns als Wertegemeinschaft begreifen und gegen diejenigen vorgehen, die unsere Art zu leben ablehnen – egal aus welchem ideologischen Spektrum sie kommen. Unsere Demokratie braucht jetzt zwei Dinge mehr denn je: eine ehrliche Debatte und Wehrhaftigkeit.“

Hinweis der Redaktion: Der Beitrag gibt die persönliche Meinung der Autorin wieder.

 

Prof. Dr. Dorothee Dienstbühl

Professorin an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung (HSPV) Nordrhein Westfalen
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