16.10.2017

Europäische Sprache für Bauprodukte

Harmonisierung der Anforderungen an Bauprodukte und deren Zulassung

Europäische Sprache für Bauprodukte

Harmonisierung der Anforderungen an Bauprodukte und deren Zulassung

Der Hochhausbrand in London hat die Diskussion um die richtigen Standards für die Bauwerksicherheit neu entfacht. | © Ingo Bartussek - stock.adobe.com
Der Hochhausbrand in London hat die Diskussion um die richtigen Standards für die Bauwerksicherheit neu entfacht. | © Ingo Bartussek - stock.adobe.com

Die Bundesländer ändern zurzeit ihre Bauordnungen hinsichtlich der Anforderungen an und die Zulassung von Bauprodukten. Hintergrund der Änderungen sind in erster Linie europarechtliche Vorgaben und ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) aus dem Oktober 2014. Durch den Hochhausbrand in London hat das Thema kürzlich mediale Aufmerksamkeit erlangt.

Als Reaktion auf den Hochhausbrand in London wurde in der Öffentlichkeit über die Verwendung von Dämmstoffen und die richtigen Standards für die Bauwerksicherheit diskutiert. Unabhängig von dieser aktuellen Debatte ordnen die Bundesländer zurzeit ihr Bauproduktrecht grundsätzlich neu. Auslöser für die Änderungen in den Landesbauordnungen und den damit verbundenen Verwaltungsvorschriften sind europarechtliche Vorgaben. Welche Vorgaben sich konkret aus dem EU-Recht ergeben, ist jedoch unter Experten umstritten, nicht zuletzt, weil die Europäische Kommission hinsichtlich einzelner, aber grundsätzlicher Fragen eine Auffassung vertritt, welche die praktische Umsetzung erschwert.

Für die deutschen Bundesländer und auch andere Mitgliedstaaten steht die Frage im Vordergrund, wie sie durch die Regulierung der Anforderungen an Bauprodukte die Sicherheit von Bauwerken gewährleisten können. Dies ist eine Frage des Schutzes von Leben und Gesundheit, wie der Hochhausbrand gezeigt hat. Die Debatte ist nicht neu; Bauindustrie und Hersteller, nationale Behörden und Europäische Kommission diskutieren dies bereits seit Jahren. Die Verantwortlichen in der Kommission und in den Mitgliedstaaten gerieten allerdings durch das aktuelle Ereignis in Zugzwang, und die seit langer Zeit bekannten Fragen stellen sich mit neuer Dringlichkeit.


Interesse an EU-einheitlicher Regelung

Bauindustrie und Hersteller, aber auch Bauherren und Mieter sind grundsätzlich an einer einheitlichen EU-weiten Regelung interessiert. Es verhält sich, vereinfacht gesprochen, wie mit der oft gescholtenen EU-Gurkenverordnung: Ob die EU technische Details von Produkten festlegen muss, wird teilweise bezweifelt. Die Alternative ist allerdings, dass in 28 Mitgliedstaaten jeweils unterschiedliche Anforderungen gelten. Diese erschweren es erheblich, Produkte grenzüberschreitend zu verkaufen. Für das Angebot und den Preiswettbewerb ist dies nicht förderlich. Eine einheitliche Regelung für den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) kann hingegen diese Handelshemmnisse beseitigen.

Der berechtigte Ruf nach einer europäischen Harmonisierung von Produktanforderungen stößt indes auf praktische Grenzen, wenn die Regelungen zahlreich und sehr komplex sind. Dies gilt insbesondere für den Bereich der Bauprodukte. Die zahllosen Produktnormen für Dämmmaterialien, Fußböden und Fensterrahmen werden mit einem hohen Detaillierungsgrad von spezialisierten Instituten entwickelt – und das seit Jahrzehnten. Um die so entstandenen Produktnormen der einzelnen Mitgliedstaaten auf europäischer Ebene zu harmonisieren, müssen gemeinsame Gremien die Regeln einzeln nachvollziehen und einen Konsens finden. Dies kann nur in einem langen Prozess erfolgen.

Kommission vereinheitlicht technische Sprache

Die EU hatte sich dieser Mammutaufgabe gestellt und 1988 eine Richtlinie für Bauprodukte (Richtlinie 89/106/EWG) beschlossen, die eine Vereinheitlichung der Baunormen anstrebte. Produkte, welche die harmonisierten Anforderungen erfüllten und die CE-Kennzeichnung trugen, galten als gebrauchstauglich und durften überall im EWR verwendet werden. Deutschland wurde von der Kommission verklagt, weil es dennoch die Verwendung von harmonisierten Bauprodukten von der Verwendung weiterer Anforderungen abhängig gemacht hatte. Der EuGH gab der Kommission in einem Urteil vom Oktober 2014 (Rs. C-100/13) recht. Dies setzte Deutschland unter Druck, sein Bauproduktrecht zu überarbeiten und an das EU-Recht anzupassen.

Allerdings war zum Zeitpunkt des Urteils die Richtlinie von 1988 bereits aufgehoben. Das Urteil bezog sich aus prozessrechtlichen Gründen auf eine historische Rechtslage. Inzwischen, im Jahr 2011, hatte der europäische Gesetzgeber eine Verordnung (Verordnung 305/2011) geschaffen, die einen deutlich bescheideneren Ansatz verfolgte. Nicht die technischen Anforderungen an Bauprodukte sollen vereinheitlicht werden, sondern nur die technische Fachsprache, die Kriterien und die Methoden, anhand derer die Anforderungen beschrieben und geprüft werden. Die technischen Anforderungen selbst werden aber von den Mitgliedstaaten festgelegt. Durch die Festlegung einer gemeinsamen technischen Sprache soll erreicht werden, dass überhaupt festgestellt werden kann, ob die Herstellerangaben den nationalen Anforderungen entsprechen.

Diese Zurückhaltung bei der Regulierung hat den Vorteil, dass die Mitgliedstaaten selbst das Sicherheitsniveau festlegen und dabei auf ihre Erfahrungen sowie bestehende Normen aufbauen können. Aus den europäischen Bestimmungen ergibt sich lediglich, wie die Einhaltung der mitgliedstaatlichen Anforderungen dokumentiert werden muss. Ein Nachteil der mitgliedstaatlichen Kompetenz ist, dass für jedes Produkt geprüft werden muss, ob es den jeweiligen nationalen Anforderungen genügt. Denn die CE-Kennzeichnung eines Produkts bescheinigt nicht eine allgemein definierte Qualität oder Leistung, sondern bestätigt nur die Herstellerangaben hinsichtlich der Leistung.

Streit um Lücken

Bei der Umsetzung der Verordnung hakt es. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Zum einen kommt der Prozess der Harmonisierung auch unter dem zurückhaltenden Ansatz der Verordnung nur langsam voran. Zum anderen sind die Ergebnisse teilweise unbefriedigend, da die Normen lückenhaft sind. Dies wäre grundsätzlich unproblematisch, da nach der Verordnung aus dem Jahr 2011 die Mitgliedstaaten die Methoden und Kriterien für diejenigen wesentlichen Merkmale festlegen dürfen, die von den europäischen Normen bisher nicht erfasst sind. Nach der sich an der Richtlinie von 1988 und dem Urteil von 2014 orientierenden Lesart der Kommission schließen die europäischen Normen jedoch nationale Bestimmungen aus, auch wenn die Normen lückenhaft sind.

Mangels Regelungen wäre aber unklar, wie nachgewiesen werden kann, dass die nationalen technischen Anforderungen erfüllt sind. Eine Überprüfung der Leistungen im Einzelfall durch die Bauaufsichtsbehörden ist schon aus praktischen Gründen ausgeschlossen. Die lokalen Behörden haben nicht die personellen Kapazitäten, die technische Ausstattung und das Spezialwissen, um auf der Baustelle die Eigenschaften von Bauprodukten zu testen. Um die Leistungen ihrer Produkte zu dokumentieren, müssten die Hersteller daher nach eigenem Gutdünken eine Dokumentation bereitstellen. Wenn dies aber – im Sinne der Kommission – ohne Vorgaben des Staates erfolgen würde, hätten die Unternehmen keine Sicherheit, dass die Nachweise von der Bauaufsicht akzeptiert werden. Die Bundesländer lösen dieses Dilemma, indem sie ein freiwilliges Nachweissystem für diejenigen wesentlichen Merkmale von Bauprodukten schaffen, die nicht von harmonisierten Normen erfasst sind. Unternehmen sollen die Möglichkeit haben, freiwillige Angaben zu einem Produkt zu machen und deren Korrektheit in einer technischen Dokumentation darzulegen.

Obwohl diese Nachweismöglichkeit ausdrücklich freiwillig ist, befürchtet die Kommission, dass dadurch die in dem Urteil des EuGH von 2014 niedergelegten Grundsätze gefährdet werden. Sie geht stillschweigend darüber hinweg, dass diese Grundsätze sich auf die Richtlinie von 1988 beziehen und sich die Rechtslage seitdem geändert hat. Zudem sind freiwillige Angaben durch das EU-Recht nicht ausgeschlossen. Unternehmen steht es frei, Angaben zu machen, die über das hinausgehen, was nach den Normen erforderlich ist. Es ist auch nicht ersichtlich, dass das harmonisierte System umgangen wird, wenn die Mitgliedstaaten im Voraus und in allgemeiner Form Hinweise geben, wie die Leistungen von Bauprodukten in geeigneter Weise nachgewiesen werden können. Ein Verstoß gegen die Warenverkehrsfreiheit (nicht die Verordnung) käme nur dann in Betracht, wenn die Mitgliedstaaten ausschließlich solche Nachweise akzeptieren würden, die mit ihren Hinweisen übereinstimmen.

Solange der Harmonisierungsprozess nicht abgeschlossen ist, müssen die Mitgliedstaaten einen Maßstab vorgeben, der für die Wirtschaft jedenfalls als Richtschnur dienen kann. Gegen die Defizite von europäischen Normen können die Mitgliedstaaten nur in begrenztem Maße vorgehen. Sie können Einwände erheben, über die letztendlich die Kommission entscheidet. Gegen die Beschlüsse der Kommission können die Mitgliedstaaten vor den Unionsgerichten in Luxemburg vorgehen. So hat Deutschland in diesem Frühjahr gegen Beschlüsse zu Holz-, Parkett- und Sportböden geklagt (Rs. T-229/17).

Lösung im Rahmen des bestehenden Systems

Vorzugswürdig wäre es freilich, eine konstruktive Lösung zu finden. Die in der Verordnung von 2011 vorgesehene Aufgabenverteilung zwischen europäischer und nationaler Ebene schafft dazu grundsätzlich einen geeigneten Rahmen: Die Mitgliedstaaten setzen die materiellen Sicherheitsanforderungen und beachten dabei die durch die europäischen Normen definierten Methoden und Kriterien, soweit sie bereits bestehen. Derweil kann der europäische Harmonisierungsprozess mit der gebotenen Gründlichkeit weiter voranschreiten.

Das Potenzial der Verordnung, eine schrittweise Harmonisierung voranzutreiben, ohne Sicherheitslücken offenzulassen, wird allerdings zurzeit nicht genutzt. Stattdessen hat die Europäische Kommission im Juni 2017 eine erneute Überprüfung und Überarbeitung des europäischen Bauproduktrechts angestoßen. Die ersten Reaktionen seitens Behörden und Wirtschaft waren allerdings zurückhaltend. Es besteht offenbar weniger ein Bedürfnis, den rechtlichen Rahmen grundlegend zu reformieren, als Klarheit über die bestehenden Regelungen zu erzielen. Die Beteiligten am Bau, Architekten und Ingenieure, Bauherren und Bauunternehmer, wünschen sich in erster Linie unmissverständliche Vorgaben, welche Produkte sicher sind und verwendet werden dürfen. Eines der größten Hindernisse für den Europäischen Binnenmarkt ist es, wenn Unsicherheit über den rechtlichen Rahmen besteht.

Bei der aktuellen Umsetzung der europarechtlichen Vorgaben in ihr jeweiliges Landesrecht befinden sich die Bundesländer in der misslichen Lage, dass sie sich nach dem geltenden EU-Recht richten müssen, tonangebende Dienste der Kommission sich aber weiterhin an eine historische Rechtslage gebunden fühlen. Gleichzeitig muss das Landesbaurecht praktikable Lösungen bieten und ein hinreichendes Schutzniveau sicherstellen. Dazu haben die Bundesländer gemeinsam eine Musterbauordnung erarbeitet, die den verschiedenen Gesichtspunkten Rechnung tragen soll. Auch wenn durch die Novelle des Landesbaurechts wieder neue Fragen aufgeworfen werden, haben sie dadurch einen wichtigen Beitrag zu mehr Rechtssicherheit geschaffen. Seit dem Vorstoß der Kommission, die für Bauprodukte geltende Verordnung zu überarbeiten, ist allerdings nur eines sicher. Die Länder bauen auf einem sich bewegenden Grund.

 

Dr. Christian Wagner

Rechtsanwalt, Kapellmann und Partner Rechtsanwälte mbB, Brüssel
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