02.10.2017

Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz

Ein umstrittenes Instrument im Kampf gegen »Hate Speech«

Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz

Ein umstrittenes Instrument im Kampf gegen »Hate Speech«

Pro und Contra Netzwerkdurchsetzungsgesetz: Wohin neigt sich die Waagschale? | © markus dehlzeit - stock.adobe.co
Pro und Contra Netzwerkdurchsetzungsgesetz: Wohin neigt sich die Waagschale? | © markus dehlzeit - stock.adobe.co

Die Problematik

Der in aller Öffentlichkeit diskutierte Gesetzentwurf des »Gesetzes zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken (Netzwerkdurchsetzungsgesetz – NetzDG)« ist in seiner in letzter Minute mehrfach angepassten und veränderten Fassung am 1. Oktober 2017 in Kraft getreten.

Obwohl die Problematik der immer häufiger auftretenden Hass- und Diffamierungskommentare in sozialen Netzwerken und die lawinenartige Verbreitung von Fake News mit frei erfundenen oder stark verfälschten Inhalten schon lange nach einer juristischen Erfassung und praktikablen Lösung verlangt, ist das unter Federführung des BMJV entwickelte NetzDG aus den verschiedensten Gründen umstritten.

Es ist unbestritten, dass strafbare Inhalte in öffentlich zugänglichen und weit verbreiteten Internet-Medien nach einer Reaktion des demokratischen Rechtsstaates verlangen, dessen Grundfesten durch eine ständig und verstärkt anbrandende Welle von Volksverhetzungen, Beleidigungen, falschen Verdächtigungen, Aufrufen zu Gewalt und Lynchjustiz und vielen unwillkommenen Phänomenen mehr, geschwächt werden. Dem Rechtsstaat selbst stehen nur begrenzte Ermittlungs- und Strafverfolgungskapazitäten zur Verfügung, sodass das zuständige BMJV im Jahr 2015 mit den Betreibern solcher Netzwerke und Vertretern der Zivilgesellschaft eine Task Force gründete, um im Wege freiwilliger Selbstverpflichtungen strafbare Inhalte zu erfassen, zu beurteilen, Mechanismen zur Löschung bereitzuhalten und damit dem deutschen Rechtsstandard zur Durchsetzung auch im Internet zu verhelfen.


Keine Verbesserung der Netzhygiene durch Selbstverpflichtung der Unternehmen

Die Selbstverpflichtung der Unternehmen hat allerdings nicht zu ausreichenden Verbesserungen der Netzhygiene geführt. Das BMJV verweist explizit auf ein von jugendschutz.net durchgeführtes Monitoring der Löschpraxis sozialer Netzwerke vom Januar/Februar 2017, wonach Beschwerden von Nutzern gegen Hasskriminalität und andere strafbare Inhalte weder ausreichend noch unverzüglich bearbeitet und abgeschlossen wurden.

Die Schlussfolgerung des Ministeriums daraus war, dass eine ausreichende Durchsetzung geltenden Rechts im Internet nur über freiwillige Selbstverpflichtung wenig aussichtsreich erscheint und es bußgeldbewehrter Compliance-Regeln für soziale Netzwerke bedarf, um dem Recht effektiv und unverzüglich zur Geltung auch im Internet zu verhelfen und rechtsfreie Räume zu beseitigen.

In ersten Beratungen vorgesehen war die gesetzliche Einführung von aussagekräftigen Berichtspflichten für soziale Netzwerke über den Umgang mit Hasskriminalität und anderen strafbaren Inhalten, ein wirksames Beschwerdemanagement sowie die Benennung eines inländischen Zustellungsbevollmächtigten bei ausländischen Betreibern sozialer Netzwerke. Verstöße gegen diese Grundpflichten sollten mit empfindlichen Bußgeldern gegen das Unternehmen und die Aufsichtspflichtigen geahndet werden. Außerdem sollte es Opfern von Persönlichkeitsrechtsverletzungen im Netz zur Durchsetzung ihrer Ansprüche ermöglicht werden, aufgrund gerichtlicher Anordnung die Bestandsdaten der Verletzer von Diensteanbietern zu erhalten.

Der Anwendungsbereich des NetzDG

Die endgültige Fassung des Gesetzes wurde in mehreren kritisierten Punkten konkretisiert und praktikabler gestaltet.

Der Anwendungsbereich des NetzDG erstreckt sich auf Plattformen im Internet, die mit Gewinnerzielungsabsicht betrieben werden, und deren Zweckbestimmung es ist, dass Nutzer beliebige Inhalte mit anderen teilen. Journalistische Plattformen, die vom Diensteanbieter selbst verantwortet werden, sowie Plattformen, die zur Individualkommunikation oder zur Verbreitung spezifischer Inhalte bestimmt sind, unterfallen dem Anwendungsbereich ausdrücklich nicht. Damit wurde sichergestellt, dass diese auf keinen Fall – das wäre gegen die Absicht des Gesetzgebers – unter das Regime des NetzDG fallen.

Eine Befreiung der Anbieter sozialer Netzwerke, was die Berichtspflichten und das Handling von Beschwerden aus §§ 2 und 3 NetzDG betrifft, findet statt, wenn das soziale Netzwerk im Inland weniger als 2 Millionen registrierte Nutzer hat. Damit unternimmt der Gesetzgeber den Versuch, nur Netzwerke von einigem Gewicht – was Sichtbarkeit, Einfluss und Präsenz betrifft – stärker in die Pflicht zu nehmen.

Rechtswidrige Inhalte und Berichtspflicht

Als rechtswidrige Inhalte, die identifiziert, gelöscht und letztlich auch verfolgt werden sollen, werden mehr als ein Dutzend Straftatbestände benannt, die von der Volksverhetzung und anderen Straftaten gegen die persönliche Integrität über die Zugänglichmachung und Verbreitung verbotener pornografischer Inhalte bis zu diversen Staatsschutztatbeständen reichen, § 1 Abs. 2 NetzDG.

Die deutschsprachigen Berichtspflichten im halbjährlichen Rhythmus müssen angelehnt an ein enges Inhaltsraster erbracht werden (§ 2 Abs. 2 NetzDG), wenn ein ausreichend großes Netzwerk im Kalenderjahr mehr als 100 Beschwerden über rechtswidrige Inhalte erhält. Die Berichte sind auf der eigenen Homepage und im Bundesanzeiger zu veröffentlichen.

Umgang mit Beschwerden

3 NetzDG regelt den Umgang mit Beschwerden über rechtswidrige Inhalte. Dabei muss das Beschwerdemanagement leicht erreichbar und bedienbar sein und eine unverzügliche Reaktion des Betreibers gewährleisten. Es muss für jedes soziale Netzwerk ein Empfangsbevollmächtigter in Deutschland benannt werden, an den die hiesigen Strafverfolgungsbehörden Auskunftsersuchen richten können, die innerhalb von 48 Stunden nach Zugang zu beantworten sind, § 5 NetzDG. Die mit der Bearbeitung von Beschwerden betrauten Personen müssen regelmäßig sprachlich und inhaltlich fortgebildet und betreut werden, um sie zu befähigen, ihren Untersuchungs- und Entscheidungspflichten ordentlich nachkommen zu können, § 3 Abs. 4 NetzDG.

Offensichtlich rechtswidrige Inhalte müssen innerhalb von 24 Stunden gelöscht werden. Bei anderen rechtswidrigen Inhalten ist unverzüglich, jedoch in der Regel innerhalb von 7 Tagen, zu löschen. Diese Frist kann überschritten werden, wenn das Netzwerk entscheidet, den Sachverhalt einer anerkannten Einrichtung der Regulierten Selbstregulierung vorzulegen, §§ 3 Abs. 2, 3 b NetzDG, wobei derartige Einrichtungen gemäß § 3 Abs. 6 NetzDG vom Bundesamt der Justiz, § 4 Abs. 4 NetzDG, anerkannt werden müssen.

Die Pflicht der Speicherung gelöschter rechtswidriger Inhalte zu Beweiszwecken, §§ 3 Abs. 2, 4 NetzDG, ist auf die Dauer von zehn Wochen beschränkt.

Beschwerdeführer und betroffener Nutzer sind über die getroffenen Maßnahmen unverzüglich zu informieren, und diese Maßnahmen sind zu dokumentieren, §§ 3 Abs. 2, 5 Abs. 3 NetzDG.

Die Bußgeldvorschriften aus § 4 NetzDG schaffen ein Netz aus Ordnungswidrigkeiten bei Verstößen gegen die verschiedenen postulierten Mitwirkungspflichten, die von Geldbußen zwischen bis zu 500 000 € und bis zu 5 Mio. € in jedem Fall der Zuwiderhandlung reichen.

Stellungnahmen und Kritik

Auch die nachgebesserte Fassung des NetzDG begegnet grundlegender Kritik.

Allgemein wird bemängelt, dass mit dem Gesetz die Netzwerkbetreiber »zu Bütteln des Staates« gemacht werden und Massenlöschanreize angesichts drakonischer Bußgeldandrohungen gesetzt werden.

Zudem würden Netzwerkbetreiber gezwungen, massenhaft Rechtslaien in Eilkursen daraufhin zu qualifizieren, zu erkennen und abzuwägen, welche Inhalte rechtswidrig, »offensichtlich rechtswidrig« oder nur wahrscheinlich rechtswidrig in einer kursorischen Prüfung der im Gesetz genannten einschlägigen Paragrafen sein mögen, um anschließend Selbstregulierungsstellen, Gerichte oder das Bundesamt für Justiz selbst einzuschalten. Damit werde ein hohes Maß an Rechtsunsicherheit erzeugt und Aufgaben des Kernbereichs des Staates auf die unternehmerische Ebene verlagert. Es sei davon auszugehen, dass die Netzwerke über interne Anweisungen eher dazu übergingen, großzügig präventiv zu löschen, als alle Verfahrensschritte in Zweifelsfällen zu durchlaufen, um der Meinungsäußerungsfreiheit zu ihrem Recht zu verhelfen.

Der Gesetzgeber begegne also, so die Kritiker, mit dem NetzDG einem gravierenden Rechtsdurchsetzungsdefizit mit einer Verlagerung von originären Justizaufgaben auf die Einschätzungs- und Durchsetzungsprärogative dürftig geschulter Rechtslaien, deren Handlungen allenfalls im Nachhinein von Gerichten überprüft würden. Damit würden Justiz, Strafverfolgungsbehörden und Ermittlungsverfahren teilweise ihrer Funktion entwertet und der Rechtsstaat geschwächt.

Damit ergäben sich durchgreifende Bedenken, ob Löschungen bei ganz offenbar unangenehmen, aggressiven, unappetitlichen, manipulativen und der Debattenhygiene nicht gerecht werdenden Stimmen so mir nichts dir nichts vorgenommen werden dürften. Man denke nur an die schwierig zu treffenden Handlungsoptionen im Fall des hinreichend bekannten satirischen Böhmermann-Gedicht: rechtswidrig, offensichtlich rechtswidrig, löschungspflichtig, schützenswert? Hier stünden das Rechtsstaatsprinzip und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vor ihrer Abschaffung.

Gleichzeitig schaffe man sich Probleme bei der Beachtung der Schutzbereiche der Meinungsäußerungs-, Informations-, Presse- und Rundfunkfreiheit – also unzweifelhaft grundgesetzlich geschützten Rechtsgütern. Mögliche Fehleinschätzungen der Netzwerkbetreiber erodierten das Informationsinteresse der Allgemeinheit, sodass politisch zweifelhafter, aber in einer pluralistischen Gesellschaft notwendiger Meinungsbildungsbezug im Zweifel einer neuen, opportunistischen Netzhygiene geopfert werde, ohne die Ausstrahlungswirkung der einzelnen Grundrechte ordentlich abzuwägen. Der Zensurinfrastruktur missliebiger Inhalte würde in beschleunigten, oberflächlichen Verfahren Tür und Tor geöffnet.

Oft erwähnt wird auch die potenzielle Europarechtswidrigkeit des NetzDG. Art. 3 der E-Commerce Richtlinie (2000/31/EG) normiert das verpflichtende Herkunftslandprinzip. Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EuGH besagt, dass sicherzustellen ist, dass Diensteanbieter nach nationalem Recht keinen strengeren Anforderungen unterliegen dürfen, als diese das geltende Sachrecht im Sitzmitgliedstaat des Anbieters vorsieht. Im koordinierten Bereich verdrängen die ausländischen Regelungen das deutsche Sachrecht: Dieser betrifft das Verhalten des Diensteanbieters, den Inhalt der Dienste sowie die Verantwortlichkeiten des Anbieters – mithin alles, was das NetzDG regelt. Da derzeit in Europa keine dem NetzDG vergleichbare Regelungen existieren, würde der Vergleich der Rechtsinstitute dazu führen, dass das deutsche Recht europarechtswidrige Beschränkungen vorsieht.

An dieser Stelle beruft sich das BMJV auf die Ausnahmeregelung des Art. 3 Abs. 4 ECRL. Diese erlaubt abweichende Maßnahmen zum angemessenen und notwendigen Schutz der öffentlichen Ordnung, allerdings in Individualfällen (case-by-case) und nicht als flächendeckende, abstrakt – generelle Rechtsnorm.

Selbst dann, wenn die Rechtsauffassung der Kommission, die sich am Wortlaut der Richtlinie orientiert, extensiver ausgelegt werden könnte, stellt sich die Frage: Kann damit auch der ebenfalls in der Richtlinie normierte Grundsatz ignoriert werden, dass jeder Mitgliedstaat vor der Implementierung derartiger Ausnahmetatbestände in jedem Fall den betroffenen Sitzmitgliedstaat vorab auffordern muss, selbst Maßnahmen zur Gefahrenabwehr zu treffen? Das BMJV verweist hier pauschal auf die Vorkehrung des besonders dringlichen Falles aus Art. 4 Abs. 5 ECRL, ohne auch nur im Mindesten zu erklären, warum Hate Speech und Fake News im Internet nur und sofort durch das NetzDG begegnet werden kann.

Das Fazit

Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz ist ein Exekutivmittel mit Tiefenwirkung, um Auswüchse der Meinungsfreiheit zu bekämpfen.

Der Gesetzgeber greift beherzt zu, schafft sich unter Androhung drakonischer Sanktionen Hilfspolizei im Unternehmensumfeld und vertraut auf die ins Leben gerufenen Mechanismen, nämlich die der willfährigen Ignorierung von Kollateralschäden, solange die Debattenkultur wieder auf den Boden sozialadäquaten Verhaltens zurückkehrt.

Es ist abzusehen, dass sich das BVerfG und der EuGH in absehbarer Zeit mit dem NetzDG werden auseinandersetzen müssen, um zu prüfen, ob seine Wirkungsweise verfassungs- und europarechtlichen Vorgaben genügt.

 

Professor Achim Albrecht

Westfälische Hochschule, Gelsenkirchen
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