02.05.2017

EU- Visakodex auf dem Prüfstand

Der EuGH entscheidet zur Asylpolitik – ein salomonisches Urteil?

EU- Visakodex auf dem Prüfstand

Der EuGH entscheidet zur Asylpolitik – ein salomonisches Urteil?

Kann ein Asylantrag trotz Vorliegens aller Asylgründe verweigert werden, weil die Ankunft in der EU wahrscheinlich über den Visakodex erschlichen wurde? | © JWS - Fotolia
Kann ein Asylantrag trotz Vorliegens aller Asylgründe verweigert werden, weil die Ankunft in der EU wahrscheinlich über den Visakodex erschlichen wurde? | © JWS - Fotolia

Als am 12.10. 2016 eine syrische Familie aus Aleppo bei der belgischen Botschaft in Beirut Visumanträge zur Erteilung von Visa mit räumlich beschränkter Gültigkeit nach dem EU-Visakodex (Art. 25 Abs. 1 a des Visakodex der Gemeinschaft vom 13. 07. 2009) beantragte, ahnte noch niemand, dass dieser Fall hohe Wellen schlagen und die gesamte Asylpolitik der EU auf den Prüfstand stellen würde.

Der Zweck des Visakodex

Eigentlicher Zweck des Visakodex ist die harmonisierte Regelung von Visumverfahren für Drittstaatenangehörige, die in den Schengen-Raum kurzzeitig einreisen und sich dort aufhalten möchten. Der sachliche Geltungsbereich der Verordnung regelt die Erteilung von Kurzzeitvisa für Durchreisen oder geplante Aufenthalte in den Mitgliedstaaten für die Dauer von höchstens 90 Tagen, je Zeitraum von 180 Tagen. Hält es ein Mitgliedstaat aus humanitären Gründen, aus Gründen nationalen Interesses oder internationaler Verpflichtungen für erforderlich, von den allgemeinen Einreisevoraussetzungen des Schengener Grenzkodex abzusehen oder soll die 90 Tagesgrenze für die Gültigkeit des Visums überschritten werden, wird das Visum räumlich auf den Staat beschränkt, der das Visum ausstellt (Art. 25 des Visakodex). Mit derartigen ›nationalen Visa‹ soll hauptsächlich die unkontrolliert illegale Einwanderung in den Schengen-Raum reguliert werden.

Der konkrete Fall

Doch jetzt zurück zu der syrischen Familie. Nach der Antragstellung kehrten sie auf syrisches Staatsgebiet zurück. Es ist unbestritten, dass sich die Familie christlich-orthodoxen Glaubens in ihrer Heimat in unmittelbarer Gefahr für Leib und Leben befand. Sie teilte das Schicksal vieler Familien, die aus den unterschiedlichsten Gründen in Syrien ihrer Lebensgrundlage beraubt wurden und ihres Lebens nicht mehr sicher waren. Die Familie ließ erkennen, dass sie nach einer möglichen Visaerteilung den Aufenthalt in Belgien nutzen werde, um Asylanträge zu stellen.


Am 18. 10. 2016 lehnte das zuständige belgische Ausländeramt die Visumanträge ab, weil die Antragsteller offensichtlich nicht beabsichtigten, Belgien und den Schengen-Raum nach 90 Tagen zu verlassen, sondern über einen nachgeschobenen Asylantrag einen dauerhaften Aufenthaltsstatus zu erreichen. Das sei ein Missbrauch der Vorkehrungen des EU-Visakodex, der die Schengen-Staaten gerade nicht dazu verpflichten wolle, jedem Opfer einer humanitären Katastrophe im Endergebnis den Aufenthalt im Schengen-Raum zu ermöglichen.

Vorlagefragen im Eilverfahren

Die syrische Familie rief daraufhin den Rat für Ausländersachen in Belgien an, um die Aussetzung der Vollziehung der Entscheidungen über die Ablehnung der Visumanträge zu erreichen. Das belgische Gericht hatte dann im Eilverfahren beschlossen, dem EuGH Fragen zur Auslegung des Visakodex sowie der Art. 4 und 18 der Charta der Grundrechte der EU (Schutz vor Folter und unangemessener Behandlung und Asylrechte) vorzulegen.

Kernbereich der Vorlagefragen war es, ob die in Art. 25 Abs. 1 a des Visakodex erwähnten ›internationalen Verpflichtungen‹ die Garantien aus der EU-Grundrechtecharta und aus Art. 33 des Genfer Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge dergestalt einschließen, dass sich der Beurteilungsspielraum der mit dem Visumantrag befassten nationalen Behörden so verengt, als ob den Antragstellern die erwähnten Garantien qua Antragstellung zustehen, obwohl sie Drittstaatler sind und zunächst nur ein räumlich und zeitlich beschränktes Einreisevisum begehren?

Die Argumentation des Generalanwalts

Mit einer aufsehenerregenden Begründung argumentierte der Generalanwalt Mengozzi am 07. 02. 2017, dass die Behörden der Mitgliedstaaten beim Erlass von Entscheidungen nach dem Visakodex Unionsrecht durchführen und damit verpflichtet sind, die in der Grundrechte Charta garantierten Rechte zu wahren. Dabei sei es unerheblich, ob zwischen den Antragstellern und dem ersuchten Mitgliedstaat Verbindungen irgendwelcher Art bestehen. Konsequent argumentierte der Generalanwalt, humanitäre Visa seien von Mitgliedstaaten im Rahmen einer Ermessensreduzierung auf Null dann auszustellen, wenn die unmittelbare Gefahr eines Verstoßes gegen tragende Grundrechtsprinzipien der Grundrechte Charta, etwa aus Art. 4 der Charta, bestehe. Damit widersprach Mengozzi einer Auslegungsvariante des Visakodex, wonach dieser den Schengen-Staaten lediglich die bloße Ermächtigung erteile, solche Visa auszustellen, ansonsten aber alleine das jeweilige nationale Recht gelte. Vielmehr beziehe die bloße Antragstellung die Antragsteller in das geltende Unionsrecht und seine Garantien mit der Folge ein, dass die den Mitgliedstaaten zustehenden Beurteilungsspielräume durch das gesamte Unionsrecht begrenzt würden.

Da feststand, dass die Antragsteller in Syrien der tatsächlichen Gefahr unmenschlicher Behandlung von extremer Schwere ausgesetzt waren, seien die belgischen Behörden unter gehöriger Beachtung der Garantien aus Art. 4 der Grundrechte Charta verpflichtet, ein räumlich beschränktes Visum aus humanitären Gründen auszustellen, weil anderenfalls de facto die rechtliche Möglichkeit vorenthalten werde, um internationalen Schutz zu ersuchen.

Das Urteil des EuGH

Das Urteil der Großen Kammer des EuGH in der Asylsache vom 07. 03. 2017 wurde von Presse und Kommentatoren wahlweise als ›salomonisch‹ bezeichnet, weil es rechtlich nachvollziehbar keine neuen Schleusen für unkontrollierbare Flüchtlingsströme geöffnet habe, oder als ›Tantalos-würdige‹ Entscheidung beurteilt, weil Verfolgten der Hort der Linderung in weiter Ferne, doch faktisch unerreichbar, in Aussicht gestellt würde. Wie hatte sich der EuGH entschieden?

Im Ergebnis urteilte der EuGH in Abweichung vom Gutachten des Generalanwaltes, EU-Staaten müssten in ihren Auslandsvertretungen keine auf den Visakodex gestützten humanitäre Einreisevisa ausstellen. Vielmehr stehe es den Mitgliedstaaten frei, ihre Einreisevisa nach nationalen Rechtsvorschriften zu vergeben.

Zum Kern der Sache

Allein, diese plakative Zitierung des Urteils ist nur die halbe Wahrheit. Begibt man sich auf Argumentationssuche, stößt man in der Begründung auf den eigentlichen Urteilsgrund. Er liegt tief in der Teleologie des Visakodex verborgen. Der EuGH nimmt Bezug auf die der Vorlageentscheidung zugrunde liegenden Aktenlage, die erkennen lässt, dass die syrischen Antragsteller ihre auf Art. 25 Visakodex gestützten Visaanträge in der Absicht stellten, sogleich nach ihrer Ankunft in Belgien Asyl zu beantragen.

Nach Art. 1 Visakodex aber fallen nach Ansicht der Kammer solche lediglich formal auf Art.  25 Visakodex gestützten Anträge nicht in dessen Anwendungsbereich der kurzzeitigen Ein- oder Durchreise, sodass nicht darüber entschieden werden müsse, was unter ›internationalen Verpflichtungen‹ i.S.d. Art. 25 Abs. 1 a Visakodex zu verstehen sei. Die Anträge der syrischen Familie fielen demnach ganz unter belgisches Recht, weil die EU keinen Rechtsakt erlassen habe, der die Voraussetzungen betrifft, unter denen die Mitgliedstaaten Drittstaatenangehörigen aus humanitären Gründen Visa für langfristige Aufenthalte erteilen sollen. Die zu beurteilende Situation falle damit nicht unter Unionsrecht und somit auch nicht unter die Grundrechte Charta. Der Schutzzweck des Visakodex umfasse gerade nicht, die Mitgliedstaaten zu verpflichten, es Drittstaatenangehörigen de facto zu ermöglichen, einen Antrag auf internationalen Schutz bei den Vertretungen der Mitgliedstaaten im Hoheitsgebiet eines Drittstaates zu stellen.

Asylpolitische Bedeutung der Entscheidung

Asylpolitisch bedeutet die Entscheidung des EuGH die Zementierung des Status quo – nämlich eine Asylantragstellung erst dann verpflichtend möglich zu machen, wenn es Flüchtlingen gelungen ist, auf ihrer Flucht Europa zu erreichen. Flüchtlingsschutz beginnt auch in Zukunft mit dem Grenzübertritt. Tantalos lässt grüßen.

Und noch eines ist bemerkenswert. Der EuGH hat sich in seiner Entscheidung nicht zu einem bedeutungsschweren obiter dictum hinreißen lassen. Jeder Asylsuchende wird in Zukunft gut beraten sein, seinen Antrag nach Art. 25 des Visakodex lediglich auf einen dreimonatigen Aufenthalt zu stützen und seine wahren Absichten zu verschweigen. Hat er erst einmal auf diesem Weg mit vorgeschobenen Gründen die EU erreicht, steht es ihm frei, einen Asylantrag nachzuschieben und in den Genuss des gesamten Unionsrechtes zu kommen. Kann in solchen Fällen ein Asylantrag trotz Vorliegens aller Asylgründe verweigert werden, weil die Ankunft in der EU wahrscheinlich über den Visakodex erschlichen wurde? Es wäre interessant gewesen, den EuGH zu dieser naheliegenden Frage zu hören.

 

Professor Achim Albrecht

Westfälische Hochschule, Gelsenkirchen
n/a