31.12.2018

Ein noch immer unterschätztes Phänomen

Der demographische Wandel in Sachsen

Ein noch immer unterschätztes Phänomen

Der demographische Wandel in Sachsen

Der demografische Wandel stellt Sachsen vor große Herausforderungen | © Premium Collection - Fotolia
Der demografische Wandel stellt Sachsen vor große Herausforderungen | © Premium Collection - Fotolia

„Heimat riecht: Nach Harz und nach Heu, nach Leder, nach Kuchenbacken, nach Ruß und Rauch: Sie riecht jedenfalls und kündet nach Leben“, schrieb Christian Graf von Krockow 1984 in der ZEIT. Der aus Pommern stammende Politikwissenschaftler entwarf ein Bild von Heimat, das vermutlich viele Menschen teilen: Es ist das eines ländlichen, romantischen Sehnsuchtsorts, der den Einstieg in die Natur und Ruhe jenseits der Hektik der Großstadt verheißt. Doch während die einen Wald und Wiesen lieben, beschweren sich die anderen über Sozialkontrolle und überkommene Traditionen.

Wozu noch Dörfer?

Heute stehen Dörfer und Kleinstädte in Sachsen und in ganz Deutschland vor großen Herausforderungen. Einst Orte der Land- und Forstwirtschaft, sind sie heute oft nur noch Schlafstätten. Die deutsche Landwirtschaft erbringt nur noch 0,9 Prozent der deutschen Volkswirtschaft. Manches Dorf steht sogar komplett vor dem Aus, wenn keine Arbeitsplätze in erreichbarer Nähe sind, das Vereinswesen erlahmt und der gesellschaftliche Zusammenhalt schwindet.

Doch Land ist nicht gleich Land: Während im Münsterland Vollbeschäftigung herrscht, findet sich in Vorpommern, im Hunsrück oder der Lausitz deutlich weniger Wirtschaftskraft. Aus Orten wie Zittau, Riesa oder Hoyerswerda sind deshalb seit 1990 bis zu 48% der Bevölkerung abgewandert.


Dagegen wachsen die Ballungsräume wie das Rhein-Main-Gebiet oder die Rhein-Ruhr-Schiene mit erstaunlicher Geschwindigkeit. In Sachsen erfreuen sich vor allem die Städte Leipzig und Dresden eines großen Zulaufs – und wissen kaum noch, wie sie den Wohnbedarf, die Nachfrage nach Schulen und Kitas befriedigen können. All diesen Großstädten ist gemeinsam, dass sie Cluster aus florierender Wirtschaft, innovativer Forschung, einer breiten Kulturlandschaft, einem attraktiven Einzelhandel und Nischen für unterschiedliche Lebensstile bilden. Deshalb sind sie für viele, meist sehr unterschiedliche Menschen attraktiv.

Älter, weniger, bunter

Stadt ist nicht gleich Stadt und Land ist nicht gleich Land – doch eines haben alle gemeinsam: Ganz Deutschland steckt mitten im demografischen Wandel. Dieser besitzt im Kern drei Dimensionen: Die Bevölkerung wird älter, sie schrumpft und sie wird heterogener. Wie weit sich die Bevölkerung verändert, hängt davon ab, wie sich die Fertilitätsrate, die Lebenserwartung und die Migrationsquote entwickeln. Da die Geburtenrate und die Lebenserwartung stark von persönlichen Entscheidungen abhängig sind, lässt sich im Grunde nur der Faktor Migration politisch steuern. Dazu braucht es aber einen gesellschaftlichen Konsens.

Wollte man den Bevölkerungsrückgang bis 2050 halbieren, bräuchte man ein gesteuertes Wanderungsplus von 160.000 Menschen pro Jahr. Zum Vergleich: Eine Veränderung der Geburtenrate um 0,1 Kinder pro Frau entspricht einem positiven Wanderungssaldo von 35.000 Menschen pro Jahr. Allerdings ist nicht entscheidend, dass viele Menschen kommen, sondern welchen Bildungshintergrund, welches Human- und Sozialkapital sie mitbringen. Je höher diese Faktoren zu bewerten sind, desto leichter tun sich Mehrheitsgesellschaft und Arbeitsmarkt mit der Integration der Migranten. Das wird in den Großstädten möglicherweise besser gelingen als im ländlichen Raum, weil Migranten dort eher familiäre, kulturelle, landsmannschaftliche Anlaufpunkte haben. Doch auch innovative Mittelständler auf dem Lande können spannende Angebote für Zugewanderte bieten, sollten sich aber gut mit Kommunen, Schulen und Vereinen vernetzen, damit sich neue Mitarbeiter schnell vor Ort wohlfühlen.

Politische Zeitbombe

Politisch ist der demografische Wandel alles andere als harmlos: Blickt man auf die ländlichen Räume, so werden in den kommenden zwei bis drei Jahrzehnten Kommunal- und Landespolitik durch das Zusammenspiel von demografischem Wandel und De-Infrastrukturalisierung unter erheblichem Druck stehen. In den Ballungsräumen muss dagegen neu über Mobilität, Wohnungs- und Städtebaupolitik, über Bildungsangebote und über den Wissenstransfer zwischen Stadt und Land nachgedacht werden.

Dafür braucht es ein gutes Zusammenwirken von Verwaltung, Politik, Wirtschaft und den Bürgern selbst. Strukturschwache Kommunen werden nur dann in Bewegung kommen, wenn sie neue Impulse erhalten – sei es durch die Stadtverwaltung, durch Modellprojekte oder Initiativen der Zivilgesellschaft, sei es durch das Engagement einzelner Unternehmen. Frische Ideen und Maßnahmencluster werden nötig sein, um positive Veränderungen in Gang zu setzen. Da Städte im Strukturwandel zugleich „Orte der Krise“ sind, warnt der Berliner Sozialwissenschaftler Johannes Staemmler vor übereiltem Handeln und fordert auch bei der zwingend gebotenen Bürgerbeteiligung ein behutsames Vorgehen ein, um die verunsicherte Bürgerschaft nicht durch zu hohe Anforderungen und Erwartungen zu überlasten oder gar zu enttäuschen.

Sachsen hat sich im Vergleich zu anderen Bundesländern verhältnismäßig früh mit den Folgen des demografischen Wandels auseinandergesetzt – aus Weitsicht und Notwendigkeit: Die neuen Bundesländer gehören doch zu den am stärksten betroffenen Regionen Deutschlands. Das Bewusstsein für die Sensibilität des Themas ist deshalb hier stärker ausgeprägt als in vielen Teilen Westdeutschlands. Gerade im Gesundheitssektor gibt es in Sachsen national und international anerkannte Modellprojekte. Es ist wichtig, die Folgen des demografischen Wandels ohne Scheu und ohne Angst weiter intensiv zu diskutieren. Der demografische Wandel kommt nicht irgendwann in der Zukunft. Er ist schon da. Er geht alle Sachsen an, nicht nur Behörden, Kammern und Verbände.

Komplexe und wichtige Debatte

Gesamtgesellschaftlich wirft der demografische Wandel in Stadt und Land Fragen der sozialen Gerechtigkeit und nach gleichen Teilhabechancen auf. Die sozialen Folgen des demografischen Wandels können Wohlstandskonflikte provozieren, die alle betreffen. Die alternde Gesellschaft fordert nicht nur die finanzielle Leistungsfähigkeit der Sozialversicherungskassen und die technische Infrastruktur schrumpfender Regionen heraus, sie ruft auch neue Verteilungsfragen auf – zwischen Alten und Jungen, zwischen Dorf und Stadt, zwischen Pendlern und Immobilen, zwischen partikularen Interessen und Fragen des Gemeinwohls. Die Debatte über die Zukunft der ländlichen Räume im demografischen Wandel verdient deshalb einen vorderen Platz auf der politischen Agenda.

 

Dr. Roland Löffler

Direktor der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung

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