20.12.2018

Der tätliche Angriff im Gewaltopferrecht

Die Anwendung des Gewaltopferrechts auf Bedrohungssituationen mit Gewalt

Der tätliche Angriff im Gewaltopferrecht

Die Anwendung des Gewaltopferrechts auf Bedrohungssituationen mit Gewalt

Die Anwendung des Gewaltopferrechts auf Bedrohungssituationen mit Gewalt muss klar und rechtssicher geregelt werden. | © bluedesign - stock.adobe.com
Die Anwendung des Gewaltopferrechts auf Bedrohungssituationen mit Gewalt muss klar und rechtssicher geregelt werden. | © bluedesign - stock.adobe.com

Der Artikel stellt ausschließlich die persönliche Sichtweise des Autors dar.

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Eine der in der täglichen Praxis von Verwaltung und Gerichten regelmäßig zu entscheidende Frage in Verfahren nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) ist die, ob es sich bei der geltend gemachten Tathandlung um einen rechtswidrigen vorsätzlichen tätlichen Angriff handelt, deren Bejahung nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG Grundvoraussetzung für einen Versorgungsanspruch nach diesem Gesetz ist. Die hierzu vertretenen Auffassungen in der Fachwelt weichen – wie bei rechtlichen Wertungsfragen dieser Art nicht anders zu erwarten – nicht unerheblich voneinander ab und lassen bisweilen auch Rückschlüsse auf die rechtsphilosophische Haltung des jeweiligen Autors zu.

Nachfolgend soll kurz, exemplarisch und ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit beleuchtet werden, welche rechtlichen und tatsächlichen Anforderungen an den Teilaspekt des tätlichen Angriffs gestellt wurden und werden.


Aktueller Anlass

Mit einem an die Länder gerichteten Rundschreiben vom 10. Oktober 2017 – SER 2 – 54030 – hat sich das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) dazu geäußert, welche Konsequenzen aus dem bereits vom 16. Dezember 2014 – B 9 V 1/13 R – datierenden Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) zu ziehen sind. Dieses Urteil drückt eine im Kontext verschiedener Quellen zum OEG durchaus beachtenswerte Rechtsauffassung aus. Es soll nachfolgend deshalb ein wenig näher betrachtet und eingeordnet werden. Auch soll kurz aufgezeigt werden, was dazu geführt hat, dass das Urteil erst verhältnismäßig spät Einzug in den Verwaltungsvollzug gefunden hat.

Gesetzgeberischer Ursprung

Der Gesetzgeber hat sich im Rahmen der Schaffung des OEG bei der Ausgestaltung des tätlichen Angriffs bekanntlich zwar Begrifflichkeiten aus dem Strafrecht und bereits in den 1920er Jahren erfolgten Bewertungen des Reichsgericht als des u.a. für den Bereich der Strafrechtspflege obersten Gerichtshofs im Deutschen Reich angelehnt, aber das Strafgesetzbuch selbst nicht als Quelle für sozialentschädigungsrechtliche Tatbestände benannt. Ausdrücklich definiert die – heute noch durchaus lesenswerte – BT-Drucks. 7/2506 vom 27. August 1974 in der Begründung zur Schaffung des OEG, dass unter einem „rechtswidrigen tätlichen Angriff gegen eine Person“ eine unmittelbare auf den Körper eines Menschen zielende feindselige Einwirkung zu verstehen, für die ein Rechtfertigungsgrund nicht gegeben ist (Seite 13/14 a.a.O.). Ab wann konkret von einer Tätlichkeit auszugehen ist, führt die Gesetzesbegründung nicht explizit aus. Insoweit ist allerdings zu berücksichtigen, dass das OEG unter dem Eindruck der in den 1970er Jahren gegenwärtigen Gewaltereignisse im öffentlichen Raum, so beispielsweise den Anschlägen der Rote-Armee-Fraktion, entstanden und letztlich geformt wurde. So führt der Gesetzgeber an anderer Stelle der Begründung zum OEG aus, dass das Gesetz der in jüngerer Zeit gewachsenen Erkenntnis Rechnung trage, dass Opfern von Gewalttaten stärker aus öffentlichen Mitteln geholfen werden müsse, damit gerade schwer geschädigten Betroffenen staatliche Hilfe als ein Gebot der Gerechtigkeit zuteilwerden könnten (Seite 7 a.a.O.). Damit lag der Fokus bei der Ausgestaltung des OEG erkennbar auf Menschen, die in schwerwiegender Weise von einer Gewalttat betroffen sind. Für diesen Personenkreis mag sich die Frage des Umfangs der Tätlichkeit schon deshalb nicht gestellt haben, weil sich ihre Verletzungsfolgen eine andere als eine tatsächlich körperlich im eigentlichen Sinne auf den Betroffenen einwirkende Tathandlung kaum vorstellen lässt, zumal der Gesetzgeber ausdrücklich erwerbsunfähige, hilflose und pflegebedürftige Gewaltopfer als Adressaten des OEG benennt. Weiterhin ersichtlich wird dies auch daran, dass in der weiteren Gesetzesbegründung ausgeführt wird, dass der Entwurf den wesentlichen Bereich der sogenannten Gewaltkriminalität, die zu Körperverletzungen oder Tod führen kann, erfassen soll (Seite 10 a.a.O.).

Der Schockschaden

Ein wesentliches Charakteristikum des OEG ist, dass es im Laufe seiner Existenz eine Fortentwicklung erfahren hat, für die die obergerichtliche Rechtsprechung in besonderer Weise im positiven Sinne verantwortlich ist. Neben den vorstehend offenkundigen Gewaltbeibringungen waren Verwaltung und Gerichte nach dem Inkrafttreten des OEG mit geltend gemachten Taten konfrontiert, die jedenfalls nicht ohne Weiteres unter die Vorgaben des Gesetzgebers zu subsumieren waren. So hat das Bundessozialgericht bereits mit dem unter mehreren Aspekten durchaus beachtlichen Urteil vom 7. November 1979 – 9 RVg 1/78 – entschieden, dass auch eine seelische Einwirkung den Tatbestand des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG erfüllen und damit eine psychische Erkrankung eine gesundheitliche Schädigung i.S. dieser Vorschrift sein kann. In der Sache hatte das Gericht zu entscheiden, ob eine Mutter, die aufgrund der Nachricht von der Ermordung ihres Kindes einen Schockschaden in Gestalt einer dauernden psychischen Gesundheitsstörung erlitten hat, einen Anspruch nach dem OEG verwirklichen kann. Der Senat hat hierzu im Rahmen einer Vorüberlegung ausgeführt, dass für den Fall, dass die Mutter Augenzeugin der Ermordung ihrer Tochter würde und sie hiervon psychisch belastet sei, dies die Gleichzeitigkeit von Straftat und Zufügen des seelischen Leides erfülle; die Mutter sei dann hiervon „unmittelbar“ beeinträchtigt. In Weiterentwicklung dieses Gedankens hat das BSG dann ausgeführt, dass dies auch dann gelte, wenn die Mitteilung von dem Gewaltverbrechen an dem Kind bei der Mutter einen seelischen Schock hervorruft (vertieft hierzu Heinz, in Behindertenrecht 7/2018). Auch hier sei die Mutter durch die Gewalttat unmittelbar betroffen und demzufolge versorgungsrechtlich durch das OEG geschützt.

Der sogenannte „Schockschaden“ ist seither ein im Recht der Gewaltopferentschädigung etabliertes Rechtsinstitut.

Tätlichkeit durch Blockieren des Fahrweges

Dass sich die Grenzen dessen, was als tätlicher Angriff zu bewerten ist, verändern und auch verändern müssen, um Lebenssituationen gerecht zu werden, die möglicherweise nicht mit Gewaltkriminalität im engen Sinne assoziiert werden, zeigt ein Fall, in dem eine Betroffene während einer Fahrt mit dem Fahrrad bei dem Versuch anzuhalten bzw. auszuweichen zu Fall kam und schwer verletzt wurde, nachdem Dritte durch plötzliches Querstellen von Hindernissen ihren Fahrweg blockierten. Das BSG hat hierzu mit seiner Entscheidung vom 12. Dezember 1995 – 9 RVg 1/94 –, wie bereits zuvor das Hessische Landessozialgericht, deutlich gemacht, dass das absichtliche Blockieren des Fahrweges eines anderen Verkehrsteilnehmers mit einem Hindernis auch dann ein vorsätzlich rechtswidriger tätlicher Angriff nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG ist, wenn es sich bei dem Errichten der Blockade nur um einen groben Scherz gehandelt habe. In einem solchen Fall müsse es für die Bejahung der Angriffshandlung nicht zu einer körperlichen Berührung zwischen Täter und Opfer kommen. Es reiche hier vielmehr aus, wenn das Opfer dem gegen ihn gerichteten körperlichen Angriff durch Ausweichen oder Flucht entgehen will und dabei zu Schaden komme. Auch die Tatmotivation sei insoweit nicht entscheidend. Auch wenn der oder die Täter sich möglicherweise nur einen groben Scherz erlauben wollten und gegenüber dem Opfer keine feindselige Haltung hatten, liege gleichwohl eine Angriffshandlung, da das Tun (Aufrichten der Blockade) vorsätzlich und auf Rechtsbruch gerichtet war.

Bedrohung mit einer scharfen Waffe

Aus Anlass eines Streits um die Folgen einer Auseinandersetzung nach einem Gaststättenbesuch hat das BSG im Urteil vom 24. Juli 2002 – B 9 VG 4/01 R – grundsätzliche Ausführungen zu der Frage gemacht, ob ein sozialentschädigungsrechtlicher Versorgungsanspruch auch dann bestehen kann, wenn das Opfer mit einer scharf geladenen, entsicherten Schusswaffe „nur“ bedroht wurde. Der Senat hat dies seinerzeit bejaht und – reduziert auf die hier zu betrachtenden Aspekte – ausgeführt, dass bereits in der Bedrohung mit einer scharf geladenen Waffe ein vorsätzlicher und rechtswidriger tätlicher Angriff nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG liegen kann. Zur Begründung wies das Gericht darauf hin, dass entsprechend der Bewertung bzw. Kommentierung zum deutschen Strafrecht bereits das „Ausholen zu einem Schlag“ als tätlicher Angriff i.S.d. § 113 StGB anzusehen sei, sodass dies übertragen auf das Soziale Entschädigungsrecht erst recht für das Anlegen einer scharf geladenen Waffe auf das Opfer so gelten müsse. Denn das geschützte Rechtsgut (Leben und psychische sowie physische Unversehrtheit des Opfers) werde durch die Bedrohung mit einer ungesicherten Waffe erkennbar stärker gefährdet, als durch die Vorbereitung eines Schlages durch einen ansonsten Unbewaffneten.

Auch diese Form der Rechtsfortentwicklung hat nach diesem Urteil Einzug in die Verwaltungspraxis, die Kommentarliteratur und die sozialgerichtliche Rechtsprechung aller drei Instanzenzüge gehalten.

Scheinwaffenurteil

Es liegt in der Natur der Sache, dass bei der Anwendung eines Gesetzes, das Verhaltensweisen im menschlichen Miteinander einzuordnen, zu bewerten und mit Rechtsfolgen zu versehen hat, Fallgestaltungen zur Entscheidung anstehen, die sich jedenfalls aus der Sicht mancher von dem entfernen, was der Gesetzgeber vorgedacht hat bzw. vordenken konnte. So hatte sich das BSG im Jahre 2014 mit der Frage zu befassen, ob – insoweit klar rekurrierend auf die vorgenannte Senatsentscheidung aus 2002 – (auch) die Bedrohung mit einer ungeladenen Schreckschusspistole als ein tätlicher Angriff i.S.d. § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG zu bewerten sei. Der erkennende Senat hat dies in dem oben bereits genannten Urteil vom 16. Dezember 2014 zum Anlass genommen, sich erneut grundlegend mit der streitgegenständlichen Problematik auseinanderzusetzen und kommt zu dem Ergebnis, dass die Frage zu verneinen ist. Allerdings kommt das Gericht hierüber hinaus zu der Bewertung, dass eine objektive Gefährdung des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit einer anderen Person auch ohne körperliche Einwirkung (Schläge, Schüsse, Stiche, Berührung etc.) nicht mehr bereits aufgrund der objektiven Gefährlichkeit der Situation für die Annahme eines rechtswidrigen tätlichen Angriffs i.S.d. OEG vorliegt. Es komme für das Vorliegen eines solchen Angriffs nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Situation in der Nachschau als tatsächlich objektiv lebensgefährlich erweise, z.B. weil die Waffe scharf geladen und entsichert gewesen sei, oder als ungefährlich, weil es sich – wie in dem zugrundliegenden Verfahren – um eine bloße echt aussehende Schreckschusswaffe gehandelt habe. In diesen Fällen stehe die Drohwirkung mit der vorgehaltenen Waffe und die damit unter Umständen verbundene psychische Belastung in der konkreten Situation im Vordergrund. An den tätlichen Angriff in Gestalt der körperlichen Einwirkung auf den Körper eines anderen seien höhere Anforderungen zu stellen. Ein solcher beginne in diesen Fallkonstellationen indes erst mit dem Abfeuern des Schusses oder dem Aufsetzen der Waffe auf den Körper des Opfers. Entscheidend sei, ob ein im Wortsinne tätlicher – körperlicher – Angriff tatsächlich begonnen habe, woran es hier bereits fehle. Konsequent führt der Senat aus, die Rechtsprechung aus dem o.a. Urteil vom 24. Juli 2002 aufzugeben und sie zu ändern.

Konsequenzen, Bewertung und Ausblick

Das Urteil vom 16. Dezember 2014 hat in der Fachwelt und bei den durchführungsverantwortlichen öffentlichen Stellen große Aufmerksamkeit hervorgerufen, sicher auch, weil es nicht alltäglich ist, dass ein Spruchkörper eines obersten Gerichtshofes eine durchaus etablierte und in der Praxis langjährig verwurzelte Sichtweise eines Vorgängersenats aufgibt und eine der streitentscheidenden Fragen entgegengesetzt bewertet. Bei den Diskussionen um die Konsequenzen aus dieser Rechtsprechung nahm die Frage des zukünftigen Umgangs mit geltend gemachten OEG-Ansprüchen in Bedrohungsfällen vor dem Hintergrund der langjährigen Entscheidungspraxis naturgemäß eine zentrale Rolle ein. Mittlerweile ist das Urteil durch das eingangs genannte Rundschreiben des BMAS vom 10. Oktober 2017 umgesetzt und wird Grundlage zukünftiger Entscheidungen über OEG-Ansprüche in entsprechenden Fallgestaltungen sein.

Selbstredend ist es für ein Obergericht legitim und in der Konsequenz sogar die Pflicht, vorausgegangene Wertungen früherer Senate, die es für unzutreffend hält, zu korrigieren. Wie bereits an verschiedenen Stellen – aus der Sicht des Autors dieses Beitrages durchaus zutreffend – angemerkt wurde, sind die Auswirkungen dieser Rechtsprechung aber nur schwer nachvollziehbar, wenn man einen umfassenden Opferschutz bei Gewalttaten für erforderlich hält. Ist nicht gerade ein solcher umfassender Ansatz, der seine Wurzeln im Sozialstaatsprinzip hat, die denklogische Folge dessen, was der Gesetzgeber mit dem OEG schützen wollte und wie es die Rechtsprechung seither kontinuierlich fortentwickelt hat? Die Beantwortung dieser Frage hängt, wie eingangs ausgeführt, sicherlich auch davon ab, welchen rechtsphilosophischen Ansatz der Einzelne vertritt. Aus der Sicht des Autors jedenfalls erscheint eine Bewertung, die davon ausgeht, dass ein Angriff i.S.d. OEG erst dann begonnen hat, wenn es zum Abfeuern des Schusses oder dem Aufsetzen der Waffe auf den Körper des Opfers gekommen ist, nicht als die ratio legis.

Man darf die Hoffnung haben, dass der Gesetzgeber – spätestens im Rahmen einer Reform des Sozialen Entschädigungsrechts – die Frage der Anwendung des Gewaltopferrechts auf Bedrohungssituationen mit Gewalt und hieraus resultierende psychische Einwirkungen klar und rechtssicher regelt, da diese Fälle nun einmal in der Praxis nicht selten und bisweilen mit erheblichen Folgen für die Geschädigten vorkommen. Eine Regelung, wie sie dem Gedanken des oben dargestellten BSG-Urteils aus dem Jahr 2002 entspricht, erscheint hierbei mit Blick in die Praxis und besonders die Folgen für viele Betroffene durchaus wünschenswert. Aus der Sicht des Autors würde dies auch nicht dazu führen, einer uferlosen Ausweitung von Opferentschädigungsansprüchen Tür und Tor zu öffnen. Entsprechende Regelungen blieben vielmehr im sicheren Hafen eines sozialstaatlichen Schutzes vor Gewalttaten unterschiedlicher Art und ihrer Folgen.

Hinweis der Redaktion:

Der neue SER-Ratgeber 2018 mit den Spezialvorschriften und Kurzerläuterungen zum Sozialen Entschädigungsrecht bietet einen kompletten und aktuellen Überblick über die einschlägige Rechtsprechung. Zahlreiche Hinweise verdeutlichen die Auswirkungen der obergerichtlichen Entscheidungen auf den Verwaltungsvollzug und enthalten Auslegungshilfen für die Umsetzung der Regelungen im Einzelfall. Siehe dazu https://www.boorberg.de/sozialrecht/9783415063280

 

Sven Busse

Oberregierungsrat, Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales Nordrhein-Westfalen

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