11.11.2019

Die Menschenwürde muss gewahrt bleiben

Sanktionssystem im SGB II teilweise verfassungswidrig

Die Menschenwürde muss gewahrt bleiben

Sanktionssystem im SGB II teilweise verfassungswidrig

„Die Linke“, aber mitunter auch Sozialverbände fordern nach dem Urteil einen völligen Wegfall des Sanktionssystems. | © chaos.design - Fotolia
„Die Linke“, aber mitunter auch Sozialverbände fordern nach dem Urteil einen völligen Wegfall des Sanktionssystems. | © chaos.design - Fotolia

Die Sanktionen zur Durchsetzung von Mitwirkungspflichten bei Bezug von Arbeitslosengeld II sind teilweise verfassungswidrig. Zu diesem Ergebnis kommt das Bundesverfassungsgericht und ruft den Gesetzgeber zur Neuregelung auf.

Der Fall

Ein Jobcenter gewährte dem bei ihm als arbeitsuchend gemeldeten späteren Kläger des Ausgangsverfahrens Arbeitslosengeld II nach dem SGB II (Grundsicherung für Arbeitsuchende). Der Kläger ist ausgebildeter Lagerist. Er äußerte gegenüber einem ihm durch das Jobcenter vermittelten Arbeitgeber, kein Interesse an der angebotenen Tätigkeit im Lager zu haben, sondern sich für den Verkaufsbereich bewerben zu wollen. Das nahm das Jobcenter zum Anlass, zunächst eine Sanktion der Minderung des maßgeblichen Regelbedarfes in Höhe von 30 % zu verhängen. Nachdem der Kläger einen Aktivierungs- und Vermittlungsgutschein für eine praktische Erprobung im Verkaufsbereich nicht eingelöst hatte, minderte das Jobcenter den Regelbedarf um 60 %. Nach erfolglosem Widerspruch erhob der Kläger Klage vor dem zuständigen Sozialgericht Gotha. Dieses setzte das Verfahren aus und legte im Wege der konkreten Normenkontrolle dem Bundesverfassungsgericht die Frage vor, ob die Regelungen in §31a i.V.m. § 31 und § 31b SGB II mit dem Grundgesetz (GG) vereinbar seien.

Gesetzliche Regelungen

Erwerbsfähige Leistungsberechtigte verletzen nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II ihre Pflichten, wenn sie sich trotz Rechtsfolgenbelehrung oder deren Kenntnis nicht an eine Eingliederungsvereinbarung halten. Dasselbe gilt nach Nr. 2, wenn sie sich weigern, eine zumutbare Arbeit, Ausbildung, Arbeitsgelegenheit oder ein gefördertes Arbeitsverhältnis aufzunehmen, fortzuführen oder deren Anbahnung durch ihr Verhalten verhindern. Gleiches gilt nach Nr. 3, wenn sie eine zumutbare Maßnahme zur Eingliederung in Arbeit nicht antreten, abbrechen oder Anlass für den Abbruch gegeben haben.


Rechtsfolge dieser Pflichtverletzungen ist nach § 31a SGB II die Minderung des Arbeitslosengeldes II in einer ersten Stufe um 30 % des für die erwerbsfähige leistungsberechtigte Person maßgebenden Regelbedarfs. Bei der ersten wiederholten Pflichtverletzung mindert sich der Regelbedarf um 60 %. Bei jeder weiteren wiederholten Pflichtverletzung entfällt das Arbeitslosengeld II vollständig. Die Dauer der Minderung beträgt nach § 31b SGB II drei Monate.

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG)

In seiner Entscheidung vom 5.11.2019 – 1 BvL 7/16 kommt das BVerfG zum Ergebnis, dass o.g. Sanktionssystem teilweise verfassungswidrig ist. Es hebt zunächst hervor, dass die zentralen Anforderungen für die Ausgestaltung der Grundsicherungsleistungen sich aus der grundrechtlichen Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG ergeben.

Der Gesetzgeber kann, so das BVerfG weiter, die Inanspruchnahme existenzsichernder Leistungen an den Nachranggrundsatz binden, solche Leistungen also nur dann gewähren, wenn Menschen ihre Existenz nicht selbst sichern können. Er könne erwerbsfähigen Bezieherinnen und Beziehern von Arbeitslosengeld II auch zumutbare Mitwirkungspflichten zur Überwindung der eigenen Bedürftigkeit auferlegen und dürfe die Verletzung solcher Pflichten sanktionieren, indem er vorübergehend staatliche Leistungen entziehe. Aufgrund der dadurch entstehenden außerordentlichen Belastung würden hierfür allerdings strenge Anforderungen der Verhältnismäßigkeit gelten. Der sonst weite Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers sei hier beschränkt. Je länger die Regelungen in Kraft seien und der Gesetzgeber damit deren Wirkungen fundiert einschätzen könne, desto weniger dürfe er sich allein auf Annahmen stützen. Auch müsse es den Betroffenen möglich sein, in zumutbarer Weise die Voraussetzungen dafür zu schaffen, die Leistung nach einer Minderung wieder zu erhalten.

Mit dieser Begründung hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts mit Urteil vom 5.11.2019 zwar die Höhe einer Leistungsminderung von 30 % des maßgebenden Regelbedarfs bei Verletzung bestimmter Mitwirkungspflichten nicht beanstandet. Allerdings hat er auf Grundlage der derzeitigen Erkenntnisse die Sanktionen für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt, soweit die Minderung nach wiederholten Pflichtverletzungen innerhalb eines Jahres die Höhe von 30 % des maßgebenden Regelbedarfs übersteigt oder gar zu einem vollständigen Wegfall der Leistungen führt. Mit dem Grundgesetz unvereinbar seien die Sanktionen zudem, soweit der Regelbedarf bei einer Pflichtverletzung auch im Fall außergewöhnlicher Härten zwingend zu mindern ist und soweit für alle Leistungsminderungen eine starre Dauer von drei Monaten vorgegeben wird. Die Vorschriften der §§ 31, 31a und 31b SGB II hat das BVerfG mit entsprechenden Maßgaben bis zu einer Neuregelung für weiter anwendbar erklärt.

Maßgaben des BVerfG bis zu einer Neuregelung

Die Maßgaben werden in der Pressemitteilung Nr. 74/2019 des BVerfG wie folgt zusammengefasst:

„Bis zum Inkrafttreten einer Neuregelung bleibt die – für sich genommen verfassungsrechtlich nicht zu beanstandende – Leistungsminderung in Höhe von 30 % nach § 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II mit der Maßgabe anwendbar, dass eine Sanktionierung nicht erfolgen muss, wenn dies im konkreten Einzelfall zu einer außergewöhnlichen Härte führen würde. Die gesetzlichen Regelungen zur Leistungsminderung um 60 % sowie zum vollständigen Leistungsentzug (§ 31a Abs. 1 Sätze 2 und 3 SGB II) sind bis zu einer Neuregelung mit der Maßgabe anwendbar, dass wegen wiederholter Pflichtverletzung eine Leistungsminderung nicht über 30 % des maßgebenden Regelbedarfs hinausgehen darf und von einer Sanktionierung auch hier abgesehen werden kann, wenn dies zu einer außergewöhnlichen Härte führen würde. § 31b Abs. 1 Satz 3 SGB II zur zwingenden dreimonatigen Dauer des Leistungsentzugs ist bis zu einer Neuregelung mit der Einschränkung anzuwenden, dass die Behörde die Leistung wieder erbringen kann, sobald die Mitwirkungspflicht erfüllt wird oder Leistungsberechtigte sich ernsthaft und nachhaltig bereit erklären, ihren Pflichten nachzukommen.“

Politische Reaktionen nach dem Urteil

Vor allem die Partei „Die Linke“, aber mitunter auch Sozialverbände fordern nach dem Urteil einen völligen Wegfall des Sanktionssystems. Demgegenüber betrachtet das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) in seiner Pressemitteilung vom 5.11.2019 das Urteil als „wegweisend“ und „ausgewogen“. Die Mitwirkungspflichten im SGB II seien vom BVerfG im Grundsatz bestätigt worden. Das Urteil schaffe Rechtssicherheit und biete jetzt die Chance, eine gesellschaftliche Debatte zu befrieden, die gespalten habe. Gleichzeitig weist das BMAS aber auch darauf hin, dass das Gericht über Kürzungen bei Meldeversäumnissen, wenn Leistungsberechtigte nicht zu Terminen erscheinen, ausdrücklich nicht entschieden habe. Ebenso habe das BVerfG betont, dass die Regelung für Personen unter 25 Jahren nicht Gegenstand der Entscheidung sei. Es gelte jetzt zeitnah auszuwerten, inwiefern die vom Gericht aufgestellten Grundsätze auch hierfür Anwendung finden und inwieweit grundsätzlich die Vorgaben für eine Neureglung gelten.

 
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