21.11.2019

Die drohende Gefahr und die bayerische PAG-Kommission

Beobachtungen zum Abschlussbericht vom 30.8.2019

Die drohende Gefahr und die bayerische PAG-Kommission

Beobachtungen zum Abschlussbericht vom 30.8.2019

Die Staatsregierung hat angekündigt, das PAG im Lichte der Empfehlungen nachzujustieren.     | © animaflora
Die Staatsregierung hat angekündigt, das PAG im Lichte der Empfehlungen nachzujustieren. | © animaflora

Die bayerische PAG-Kommission empfiehlt Nachjustierungen zur letzten bayerischen PAG-Novelle.  Das betrifft  auch den umstrittenen Begriff der „drohenden Gefahr“.

Die vom bayerischen Ministerrat eingesetzte unabhängige Expertenkommission zur Evaluierung des neuen bayerischen Polizeiaufgabengesetzes hat am 30.8.2019 ihren Abschlussbericht vorgelegt. Breiten Raum nehmen darin die Ausführungen zur sog. „drohenden Gefahr“ (Art. 11 Abs. 3 PAG), d.h. zu jener Begriffsneuschöpfung ein, die von Beginn an den wohl umstrittensten Aspekt der Reform gebildet hatte. Die Staatsregierung hat angekündigt, das PAG im Lichte der Empfehlungen nachzujustieren. Es lohnt sich daher, die Empfehlungen näher zu betrachten.

Was ist die drohende Gefahr?

Wichtige Erkenntnisse liefert der Bericht zunächst zur Frage, was eigentlich unter einer drohenden Gefahr zu verstehen ist. Die durch sie bewirkte „Vorverlagerung“ erblickt sie (Bericht S. 18) im Kern zu Recht darin, dass sich in den Fällen der drohenden Gefahr das drohende Schadensereignis hinsichtlich Ort, Zeit, Art und Weise noch nicht genau beschreiben lässt. Im Übrigen indes lässt sich die drohende Gefahr, wie ich bereits an anderer Stelle ausgeführt habe (BayVBl. 2018, 156), nicht von der konkreten Gefahr unterscheiden. Wie diese verlangt sie die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines Schadens (die im Falle der drohenden Gefahr sogar noch dadurch qualifiziert ist, dass der Schaden einem bedeutenden Rechtsgut in der Gestalt eines Angriffs von erheblicher Intensität oder Auswirkung drohen muss). Wie diese auch verlangt sie, dass sich die Prognose auf Tatsachen zu stützen hat. Weder hinsichtlich der Tatsachengrundlage noch hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit, dass es zum Schaden kommt, gestattet die drohende Gefahr demnach Abstriche von dem, was auch bei einer konkreten Gefahr zu prüfen wäre; allein darin, dass bei der drohenden Gefahr noch nicht genau vorhersehbar ist, wann, wo und wie sich der Schaden realisieren wird, unterscheidet sie sich. So verstanden ist die drohende Gefahr auch ohne Weiteres handhabbar. Der Bericht lässt keinen Anhaltspunkt erkennen, dass die Definition nicht praxistauglich wäre; im Gegenteil scheint die Praxis sogar gerne auf die (im Vergleich zur konkreten Gefahr) wesentlich präzisere Definition des Art. 11 Abs. 3 PAG zurückzugreifen, so dass die Kommission auch eine explizite Definition der konkreten Gefahr anmahnt, um deren vorrangige Prüfung zu sichern (Bericht S. 27 f.). Zwei häufige Einwände gegen die drohende Gefahr können damit als widerlegt gelten: erstens die Behauptung, sie gestatte Eingriffe schon auf der Basis bloßer Vermutungen (so auch bereits VerfGH vom 7.3.2019 – Vf. 15-VII-18, Rn. 67), zweitens der Vorwurf, sie sei zu unbestimmt.


Wie kam es zur drohenden Gefahr?

Klarsichtig erkennt die Kommission auch, warum es eigentlich zur Normierung der drohenden Gefahr gekommen ist. Ihre Einführung kann nur vor dem Hintergrund tiefer Unsicherheiten verstanden werden, die darüber eingetreten waren, was eigentlich unter einer konkreten Gefahr zu verstehen ist. Gefahr heißt klassisch (die im Einzelfall bestehende) hinreichende Wahrscheinlichkeit eines Schadens – sonst nichts. Erst seit Neuerem wird jedoch zunehmend verlangt, es müsse (zumindest bei schwerwiegenden Eingriffen) zusätzlich auch bereits das drohende Schadensereignis nach Ort, Zeit und Modalität näher konturiert sein. Es lässt sich bestreiten, dass dieses Zusatzerfordernis hinreichender Konturierung des Schadensereignisses wirklich zum ursprünglichen Anforderungsprofil der konkreten Gefahr gehört; in den alten Polizeirechtslehrbüchern findet sich hierzu nichts, und die polizeirechtliche Praxis ist voll von Beispielen, in denen (bei hinreichender Wahrscheinlichkeit, dass es zum Schaden kommt) eine konkrete Gefahr bejaht wurde, obwohl noch nicht genau gesagt werden konnte, wann, wo und wie sich der Schaden realisiert (dies gilt klassisch selbst bei schwerwiegenden Eingriffen, solange gemäß der je-desto-Formel auch hinreichend gewichtige Schutzgüter bedroht sind). Das Problem ist nun, dass auch das BVerfG in seinem Urteil zum BKAG (BVerfGE 141, 220) im Kontext seiner Ausführungen zur drohenden Gefahr diesen sehr engen (eigentlich fragwürdigen) neuen Begriff der konkreten Gefahr zugrunde gelegt hat, der auch bereits die Vorhersehbarkeit des zum Schaden führenden Kausalverlaufs verlangt. Legt man traditionswidrig einen so engen Gefahrbegriff zugrunde, entstehen freilich Schutzlücken, Schutzlücken, die das BVerfG selbst nur dadurch zu schließen vermocht hat, dass es Eingriffe nunmehr (im Vorfeld einer sehr eng verstandenen konkreten Gefahr) bereits bei Vorliegen einer drohenden Gefahr gestattet, wo man früher (auf der Basis eines breiteren Gefahrbegriffs) noch vom Vorliegen einer konkreten Gefahr ausgegangen wäre. Bei der drohenden Gefahr handelt es sich demnach gar nicht um eine echte Vorfeldschwelle, die das Polizeihandeln in einen Bereich vorverlagern würde, den man früher nicht als konkrete Gefahr begriffen hätte; sie klärt nichts weiter als einen Grenzbereich der konkreten Gefahr, der seit jeher existiert und früher innerhalb des Gefahrbegriffs verarbeitet werden konnte. Dass die Einführung der drohenden Gefahr zuallererst als Reaktion auf eine durch Verengung des Gefahrbegriffs eingetretene Schutzlücke begriffen werden muss, hat nun auch die Kommission ausdrücklich konzediert, wenn sie ausführt (S. 26): „Die Einschätzung, wonach die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts eine Verengung des Tatbestands der konkreten Gefahr und damit das Entstehen einer Schutzlücke befürchten lassen, erscheint daher nachvollziehbar“. So verstanden ist die drohende Gefahr freilich keine Bedrohung des Rechtsstaats, sondern ein rechtsstaatlicher Gewinn, da sie für den von ihr erfassten Grenzbereich der konkreten Gefahr die Eingriffsvoraussetzungen (hinsichtlich Prognosebasis und qualifiziertem Rechtsgüterschutz) wesentlich präziser fasst, als dies früher auf der Basis der je-desto-Formel möglich war.

Wie geht es weiter?

Auf den ersten Blick nicht unproblematisch ist hingegen die Empfehlung der Kommission (S. 30 ff.), den Katalog bedeutender Rechtsgüter in Art. 11 Abs. 3 Satz 2 PAG weiter einzuschränken als bislang der Fall (z.B. durch Streichung der „erheblichen Eigentumspositionen“). Zwar hat das BVerfG im Kontext der drohenden Gefahr in der Tat einmal von „überragend wichtigen Rechtsgütern“ gesprochen; nicht vergessen werden darf jedoch, dass es dabei auch ausschließlich besonders schwerwiegende Grundrechtseingriffe im Auge hatte. Der bayerische Gesetzgeber hingegen hat Art. 11 Abs. 3 PAG (ursprünglich) so gedacht, dass auf seiner Basis auch leichte und mittelschwere Eingriffe möglich sein sollen (etwa die Gefährderansprache ist ein hier häufig genanntes und auch praxiswichtiges Beispiel); bei leichteren Eingriffen kann aber auch eine großzügigere Fassung des Schutzgutskatalogs verhältnismäßig sein. Hat etwa die Kommission wirklich sagen wollen, dass, wenn die Verletzung einer erheblichen Eigentumsposition wahrscheinlich ist, sich aber noch nicht genau sagen lässt, wann, wo und wie dies geschehen wird, keine Gefährderansprache mehr möglich sein soll? Mit anderen Worten: Auch die Empfehlung der Kommission birgt die Gefahr gravierender Schutzlücken. Einen Ausweg aus dem Dilemma sehe ich nur darin, dass man (anders als ursprünglich gedacht) die drohende Gefahr des Art. 11 Abs. 3 PAG (samt impliziter Verengung des Begriffs der konkreten Gefahr) von vornherein als eine Sonderdogmatik begreifen sollte, die allein für besonders schwerwiegende Grundrechtseingriffe gültig ist (für die es in Ansehung des Eingriffsgewichts auch naheliegt, die Eingriffsvoraussetzungen aus Gründen rechtsstaatlicher Bestimmtheit präziser zu fassen, als dies vormals der Fall war), während es für alle übrigen (leichten bis mittelschweren) Eingriffe bei der alten – großzügigeren – Gefahrendogmatik verbliebe, die allein die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines Schadens, nicht aber bereits die genaue Vorhersehbarkeit des Schadensereignisses in örtlicher, zeitlicher und modaler Hinsicht verlangt. Einen Hinweis darauf, dass die Reise in der Tat in diese Richtung gehen könnte, gibt die Empfehlung der Kommission, für die Definition der konkreten Gefahr auf die klassische Formel (Gefahr = hinreichende Wahrscheinlichkeit) zurückzugreifen, die von einem Erfordernis hinreichender Konturierung auch bereits des Schadensereignisses nichts weiß. Man darf gespannt sein, welchen Gesetzgebungsvorschlag das Innenministerium vorlegen wird.

 

Prof. Dr. Markus Möstl

Universität Bayreuth, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Bayreuth
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