23.06.2019

Der Reiz am Bürgermeisteramt – Mythos oder Wirklichkeit?

Stimmen aus der Praxis

Der Reiz am Bürgermeisteramt – Mythos oder Wirklichkeit?

Stimmen aus der Praxis

Immer weniger Menschen wollen sich das Amt des Bürgermeisters „antun“. | © Arnd Drifte - Fotolia
Immer weniger Menschen wollen sich das Amt des Bürgermeisters „antun“. | © Arnd Drifte - Fotolia

„Das Bürgermeisteramt ist für mich das Gewürz des Lebens.“ – Eine schönere Antwort auf die Frage, was den Reiz des Bürgermeisteramtes ausmacht, habe ich nie gehört.

Doch was hören, sehen oder lesen wir in der Öffentlichkeit über das Bürgermeisteramt? In der Regel wenig Gutes. Es gibt in immer mehr Kommunen Nachwuchssorgen, weil sich immer weniger Menschen das Amt „antun“ wollen. Permanente Verfügbarkeit, Sichtbarkeit und Ansprechbarkeit gehören heute immer noch zum Profil des Bürgermeisteramts. Work-Life-Balance, Privatheit und Top(Job)-Sharing gehören nicht dazu. Das wollen viele, vor allem Frauen und Jüngere, so nicht mehr als Beruf ausüben. Die Last des Amtes steht im Vordergrund. Hinzu kommt, dass bekannte Oberbürgermeister aus der ersten Reihe, wie Ulrich Maly (Nürnberg) und Kurt Gribl (Augsburg), bereits erklärt haben, für die kommenden Wahlen 2020 nicht mehr anzutreten. Öffentlich wird die Frage nach dem „Warum“ ausgiebig diskutiert. Zudem lesen wir vermehrt über tätliche Angriffe, Beleidigungen und Bedrohungen gegen Amtsinhaber*innen. Oder über Rücktritte aus gesundheitlichen Gründen. Und leider auch von Rücktritten, weil wegen unsauberer Amtsführung Verfahren drohen. Das öffentliche Bild des Bürgermeisteramtes ist momentan also eher grau als rosig. Selbstverständlich sind solche Meldungen für die (sozialen) Medien auch spannender als Berichte darüber, wie gut jemand das Amt führt und ausgestaltet. Das, was das Bürgermeisteramt reizvoll macht, wird meistens erst dann sichtbar, wenn man Amtsinhaber*innen oder auch Kandidat*innen danach konkret fragt und auf ihre innere Motivation blickt.

Was also macht den Reiz des Amtes aus?

Welche Antworten geben amtierende Bürgermeister*innen und Kandidat*innen? An dieser Stelle gibt es einen Ausschnitt aus den Antworten, die in meiner praktischen Arbeit durchgehend und übereinstimmend eine Rolle spielen. Durch die Zusammenarbeit mit mehr als hundert Kandidat*innen und Amtsinhaber*innen entsteht hier zwar kein vollständiges, aber ein durchaus konsistentes Bild.


Die zentralen Aspekte, die immer wieder genannt werden, wenn ich frage „Was macht für Sie den Reiz des Amtes aus?“ sind:

  • Gestaltungswille und Gestaltungsmöglichkeit: Ich kann …
    Kommune, Gesellschaft und Politik gestalten und steuern, konkrete Ideen einbringen und umsetzen, Alternativen aufzeigen und dafür eintreten, Zukunft gestalten.
  • Verantwortung an der Spitze übernehmen: Ich kann…
    Kommune verantwortlich entwickeln, an der Spitze etwas bewegen, Identifikation mit der Kommune steigern, entscheidend Einfluss nehmen, selbstbestimmt arbeiten.
  • Andere Politik und anders Politik machen: Ich kann …
    Bürger*innen beteiligen, im Dialog vor Ort gemeinsam zu Lösungen kommen, konkrete Situationen für Menschen verbessern, bürgernahe Politik machen.
  • Strategisch denken und handeln: Ich kann …
    Strategische Ziele in der Kommune umsetzen, vielfältige Perspektiven und Erfahrungen in Kommune und Politik einbringen, nachhaltig netzwerken.
  • Karrieregestaltung: Ich kann …
    Politik zum Beruf machen, ein herausforderndes Aufgabengebiet bewältigen, (Fach)Kompetenz einbringen, in und mit der Verwaltung gestalten, selbstständig und unabhängig arbeiten.

Aufgabenvielfalt

Insgesamt reizen die konkrete Tätigkeit, die Aufgaben und die Herausforderungen. Da ist zum einen die unglaubliche Vielfalt der Tätigkeiten. Von der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gestaltung der Kommune über konkretes Verwaltungshandeln in allen relevanten Bereichen bis hin zur Wahrnehmung der Belange der Menschen vor Ort. Das umfasst Finanzen, Daseinsvorsorge, Soziales, Bau und Wohnen, Verkehr, Sicherheit, Kinder und Familie, Bildung, Wirtschaft, Kultur, Sport, Umwelt und Energie usw. Da heißt es, Experte oder Expertin für ganz unterschiedliche Themen und Bereiche zu sein, in einer Bandbreite, die kaum in einem anderen Beruf verlangt wird.

„Nirgends sonst kann man so nah an den Menschen gestalten und etwas bewirken. Die Erfolge vor Ort sind konkret erlebbar. Das gibt Energie.“

Berufliche Entwicklung

Für viele ist das Bürgermeisteramt zudem eine Möglichkeit, die eigene Karriere weiter zu gestalten. Da das Amt so vielfältige Eigenschaften und Kompetenzen erfordert, ein extrem breit gefasstes Aufgabenportfolio umfasst und immer wieder neue Herausforderungen bereithält, kann dort der angesammelte Wissens- und Erfahrungsschatz eingebracht werden. Von der persönlichen und beruflichen Fortentwicklung über einen Karrieresprung bis hin zum Wunsch, Politik nicht mehr „nur“ ehrenamtlich, sondern als Beruf auszuüben, reichen die Motivationen.

„Ich finde es gut, in diesem Amt alles einbringen zu können, was ich je in meinem Leben gemacht habe.“

Gestaltungsmacht und Machtgestaltung

Damit bewegen sich die Amtsinhaber*innen zwischen Gestaltungsmacht und Machtgestaltung. Alle gemeinsam treibt an, etwas für ihre Kommune und damit das unmittelbare Lebensumfeld erreichen zu wollen, Dinge zu verbessern und im Amt Veränderungen zu bewirken – und das in der ersten Reihe und an verantwortlicher Stelle. Gerade der erforderliche Perspektivwechsel zwischen Politik, Verwaltung und Bürgerschaft reizt viele. Das Switchen zwischen Arbeits- und Führungskulturen (in Stadtrat, Verwaltung, Aufsichtsräten, Vereinen), das Verknüpfen des großen Ganzen mit Details und Differenzierungen sowie die Kombination von langfristiger Planung und kurzfristiger Flexibilität fordert den Amtsinhaber*innen einiges ab. Fachwissen ist genauso gefragt wie ein empathischer Umgang mit Menschen.

Aber auch die legitime Lust an der Macht, das Vorangehen, das faire Durchsetzen (mit langem Atem) und das Richtung vorgeben, reizt die meisten. Immer mit dem Hinweis, dass dies auch als Bürgermeister*in selbstverständlich nur in Abstimmungsprozessen mit allen anderen Verantwortlichen und Beteiligten geschehen kann.

„Es ist schon auch die Lust an der Macht, an den Gestaltungsmöglichkeiten. Ich kann für die Bürger und Bürgerinnen, aber auch mit ihnen zusammen etwas für den Ort erreichen.“

Dennoch bewegen sich alle Amtsinhaber*innen in einer herausgehobenen Position in ihrer Kommune. Sie können Dinge in großem Maße initiieren, vorantreiben und umsetzen – mit der Kehrseite der permanenten Sicht- und Verfügbarkeit. Sie sind in der und über die Kommune hinaus zentrale Akteur*innen.

„Ich kann sehr selbstbestimmt arbeiten als Bürgermeisterin, auch wenn es viele Vorschriften, Regelungen und Abstimmungsprozesse gibt.“

Fazit

Neben Vielem, was das Amt heute anstrengend, fordernd und auch überfordernd macht, neben Rahmenbedingungen, die den Anforderungen der heutigen Zeit nicht mehr ausreichend entsprechen – und über die dringend öffentlich und in den zuständigen Gremien debattiert werden muss –, bietet das Bürgermeisteramt Gestaltungsraum, (Eigen)Verantwortung, Vielfältigkeit und Gestaltungsmacht. Auch diese Seiten des Amtes müssen in der Öffentlichkeit sichtbar sein, damit weiterhin qualifizierter und engagierter Nachwuchs aus Männern und Frauen für das Bürgermeisteramt gewonnen werden kann.

 

Hinweis der Redaktion: Frau Dr. Weisensee ist Autorin beim Richard Boorberg Verlag. Hier finden Sie das aktuelle Werk „Bürgermeisterin werden – Fahrplan ins Amt“.

 

Dr. Hanne Weisensee

Coach & Dozentin für Führungskräfte in Politik, Verwaltung und Wissenschaft, WeisenseePolitikcoach Berlin & Bamberg

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