09.06.2019

Automatisierte Kraftfahrzeugkennzeichenkontrolle

Neue Leitentscheidungen des BVerfG

Automatisierte Kraftfahrzeugkennzeichenkontrolle

Neue Leitentscheidungen des BVerfG

Das BVerfG nimmt zu bislang ungeklärten Rechtsfragen Stellung, konkretisiert seine bisherige Rechtsprechung und korrigiert diese in einem wesentlichen Punkt. | © Ottonera - stock.adobe.com
Das BVerfG nimmt zu bislang ungeklärten Rechtsfragen Stellung, konkretisiert seine bisherige Rechtsprechung und korrigiert diese in einem wesentlichen Punkt. | © Ottonera - stock.adobe.com

In zwei seit langer Zeit erwarteten Entscheidungen hat sich das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) erneut zu der Verfassungsmäßigkeit automatisierter Kraftfahrzeugkennzeichenkontrollen geäußert. Die Bedeutung der Beschlüsse (BVerfG, Beschlüsse vom 18.12.2018 – 1 BvR 142/15; 1 BvR 2795/09, 1 BvR 3187/10) ist nicht zu unterschätzen: Das BVerfG nimmt zu bislang ungeklärten Rechtsfragen Stellung, konkretisiert seine bisherige Rechtsprechung und korrigiert diese in einem wesentlichen Punkt.

Kennzeichenkontrollen werden auf deutschen Straßen bereits seit über einem Jahrzehnt auf Grundlage unterschiedlicher Ermächtigungsgrundlagen und in unterschiedlichem Umfang durchgeführt (ausführlich Annussek, Automatisierte Kraftfahrzeugkennzeichenüberprüfung in den Ländern, 2018, S. 50 ff.). Bei einer Kennzeichenkontrolle werden Kraftfahrzeugkennzeichen mittels Kameratechnik erfasst und computergestützt mit einer Datenbank abgeglichen. Für die – im Zehntelsekundenbereich liegende – Dauer des Abgleichs werden das ausgelesene Kennzeichen und weitere Informationen zwischengespeichert. Ist das ausgelesene Kennzeichen nicht in der Datenbank enthalten (Nichttreffer), werden die Daten automatisch gelöscht. Meldet das System einen Treffer, überprüft ein Polizeibeamter visuell, ob das Kennzeichen mit dem in der Datenbank hinterlegten Kennzeichen tatsächlich übereinstimmt. Ist dies – etwa infolge eines Ablesefehlers – nicht der Fall (unechter Treffer), wird der Vorgang manuell gelöscht. Anderenfalls (echter Treffer) werden die Daten gespeichert und gegebenenfalls Anschlussmaßnahmen ergriffen.

2008 hatte sich das BVerfG erstmalig mit der Kennzeichenkontrolle befasst und die hessischen und schleswig-holsteinischen Regelungen für verfassungswidrig erklärt (BVerfGE 120, 378). Die aktuellen Entscheidungen ergingen zu Ermächtigungen in Bayern, Baden-Württemberg und – abermals – Hessen. Derzeit verfügen sieben weitere Länder über ähnliche Regelungen. Die drei Schwerpunkte der Entscheidungen werden im Folgenden kurz dargestellt.


Grundrechtseingriff

Der erste Schwerpunkt betrifft die Frage der Eingriffsqualität von Kennzeichenkontrollen. In der Vorgängerentscheidung hatte das BVerfG diese im Nichttreffer-Fall noch verneint. In den aktuellen Entscheidungen gibt es diesen Standpunkt ausdrücklich auf. Die Kennzeichenkontrolle stelle stets einen Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung dar, also nicht nur bei einem unechten oder echten Treffer, sondern auch bei einem Nichttreffer. Maßgeblich dafür sei,

dass Erfassung und Abgleich der Daten einen Kontrollvorgang begründen, der sich bewusst auf alle in die Kennzeichenkontrolle einbezogenen Personen erstreckt und erstrecken soll. Die Einbeziehung der Daten auch von Personen, deren Abgleich letztlich zu Nichttreffern führt, […] ist notwendiger und gewollter Teil der Kontrolle und gibt ihr als Fahndungsmaßnahme erst ihren Sinn. In der ex ante-Perspektive der Behörde […] besteht ein spezifisch verdichtetes Interesse daran, die Kennzeichen aller an der Kennzeichenerfassungsanlage vorbeifahrenden oder sonst in die Kontrolle einbezogenen Fahrzeuge zu erfassen, weil es gerade um deren Kontrolle selbst geht.“ (1 BvR 142/15, juris-Rz. 49 f.).

Gesetzgebungskompetenz der Länder

Der zweite Schwerpunkt betrifft die bislang höchst umstrittene Frage der Gesetzgebungszuständigkeit der Länder, die das BVerfG 2008 noch offengelassen hatte. Vor den aktuellen Entscheidungen war insbesondere strittig, inwieweit Regelungen zur Kennzeichenerfassung der Kompetenz der Länder für die allgemeine Gefahrenabwehr (Art. 70 GG) unterfallen.

Dies bejaht das BVerfG nun für den Großteil der angegriffenen Regelungen. Nur für zwei Einsatzvarianten spricht es den Ländern die Gesetzgebungskompetenz ab.

Der Einsatz von Kennzeichenkontrollen zur Verhütung oder Unterbindung der unerlaubten Überschreitung der Landesgrenze verstoße gegen die ausschließliche Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes aus Art. 73 Abs. 1 Nr. 5 GG (Grenzschutz). Auch der Einsatz an Kontrollstellen und in Kontrollbereichen, die von der Polizei zur Fahndung nach Straftätern eingerichtet sind, sei kompetenzwidrig. Die Einrichtung von Kontrollstellen zur Strafverfolgung stelle eine Regelung des gerichtlichen Verfahrens (Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG) dar. Von der ihm insoweit zustehenden konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz habe der Bund durch § 111 StPO Gebrauch gemacht. Dies schließe eine Regelung durch die Länder aus.

Im Übrigen stehe den Ländern die Gesetzgebungskompetenz für die angegriffenen Regelungen jedoch zu. Insbesondere sei insoweit nicht der Kompetenztitel des gerichtlichen Verfahrens einschlägig. Es handele sich nicht um repressive, sondern um präventive Eingriffsbefugnisse.

Denn „für die kompetenzrechtliche Zuordnung […] ist […] auf den Zweck der Regelungen abzustellen […]. […] Für die Abgrenzung […]  ist […] zunächst der Schwerpunkt des verfolgten Zweckes [maßgeblich]. Bei […] Maßnahmen, bei denen sich ein eindeutiger Schwerpunkt weder im präventiven noch im repressiven Bereich ausmachen lässt, steht dem Gesetzgeber ein Entscheidungsspielraum für die Zuordnung zu und können entsprechende Befugnisse […] sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene geregelt werden“ (1 BvR 142/15, juris-Rz. 62 ff.).

Daraus zieht das BVerfG den Schluss, dass „[d]er Landesgesetzgeber […] nicht an dem Erlass einer der Gefahrenabwehr dienenden Regelung gehindert [ist], weil diese ihren tatsächlichen Wirkungen nach auch Interessen der Strafverfolgung dient […]. Maßnahmen können […] auch als Landespolizeirecht zulässig sein, wenn sie präventiv und repressiv zugleich wirken“ (1 BvR 142/15, juris-Rz. 73).

Dies stelle keinen Freifahrtschein zur Missachtung der grundgesetzlichen Kompetenzordnung dar. Denn die Ausgestaltung einer Regelung müsse „strikt von der Zwecksetzung her bestimmt sein […], für die jeweils die Kompetenz besteht“ (1 BvR 142/15, juris-Rz. 74). Dafür „kommt es auf eine genaue Bestimmung der ihr bei objektivierter Sicht unterliegenden Zweckrichtung an“ (1 BvR 142/15, juris-Rz. 74).

Soweit die angegriffenen Regelungen die Kennzeichenkontrolle zur Abwehr von bestimmten Gefahren im Einzelfall, zur Bekämpfung der Herausbildung und Verfestigung gefährlicher Orte, zum Schutz von gefährdeten Orten, zur Unterstützung von polizeilichen Kontrollstellen zur Verhinderung schwerer Straftaten oder zum Schutz von Versammlungen, sowie zur Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität oder zur Verhütung oder Unterbindung des unerlaubten Aufenthalts mittels der Schleierfahndung erlauben, stellten sie nach diesem Maßstab – aufgrund ihrer Anknüpfung an die jeweilige Befugnis zur Identitätsfeststellung – Regelungen zur Gefahrenabwehr dar.

Verhältnismäßigkeitsanforderungen

Der dritte Schwerpunkt betrifft die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne. 2008 hatte das BVerfG die Unverhältnismäßigkeit der überprüften Ermächtigungen festgestellt und die insoweit zu beachtenden Anforderungen bereits – eher grob – skizziert. In den aktuellen Entscheidungen werden diese Vorgaben wie folgt weiterentwickelt:

 

Mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im engeren Sinne sind automatisierte Kraftfahrzeugkennzeichenkontrollen nur vereinbar, wenn die Ermächtigung zu den Kontrollen hinreichend begrenzt ist und übergreifende Anforderungen an Kontrolle und Datennutzung beachtet sind […]. […] Erforderlich ist danach, dass die Kontrollen grundsätzlich jeweils durch einen hinreichend konkreten, objektiv bestimmten Grund veranlasst sind […] und dem Schutz von Rechtsgütern von zumindest erheblichem Gewicht oder einem vergleichbar gewichtigen öffentlichen Interesse dienen […]. Dabei muss sich die gesetzliche Ausgestaltung der Kennzeichenkontrolle in einer Gesamtabwägung der sie kennzeichnenden Umstände als im Blick auf das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung zumutbar und damit verfassungsrechtlich tragfähig erweisen […]. Im Übrigen gehören zu den Verhältnismäßigkeitsanforderungen übergreifend für alle Einzeltatbestände Anforderungen an Transparenz, individuellen Rechtsschutz und aufsichtliche Kontrolle sowie Regelungen zur Datennutzung und Löschung […]“ (1 BvR 142/15, juris-Rz. 89 f.).

Die aus dieser Weichenstellung folgenden Anforderungen und Schlussfolgerungen erläutert das BVerfG sodann umfassend.

Im Hinblick auf die angegriffenen Befugnisse kommt das BVerfG zu dem Ergebnis, dass diese insoweit unverhältnismäßig seien, als sie nicht auf den Schutz von Rechtsgütern von zumindest erheblichem Gewicht beschränkt sind und als Mittel der Schleierfahndung keinen hinreichend bestimmten Grenzbezug aufweisen. Die den Abgleich betreffenden Regelungen seien verfassungskonform dahin auszulegen, dass der Abgleich jeweils auf Datensätze zu beschränken sei, die für die Erreichung des konkreten Zwecks der Kennzeichenkontrolle geeignet sind. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verlange zudem eine Pflicht zur Dokumentation der Entscheidungsgrundlagen.

Fazit

Die Entscheidungen enthalten detaillierte Vorgaben zur Verfassungsmäßigkeit landesrechtlicher Ermächtigungsgrundlagen zur Kennzeichenkontrolle, räumen den Landesgesetzgebern aber dennoch einen durchaus weiten Gestaltungsspielraum ein. Zugleich handelt es sich nicht nur für die Kennzeichenkontrolle um bedeutende Leitentscheidungen. Denn auch vergleichbare polizeiliche Maßnahmen (z.B. Gesichtsscanner) dürften sich an den nunmehr aufgestellten Grundsätzen messen lassen müssen.

 

Diskutieren Sie über diesen Artikel

n/a