22.01.2025

Mindestberatungsdauer parlamentarischer Gesetze

Vorgaben der Niedersächsischen Verfassung

Mindestberatungsdauer parlamentarischer Gesetze

Vorgaben der Niedersächsischen Verfassung

Ein Beitrag aus »Niedersächsische Verwaltungsblätter« | © emmi - Fotolia / RBV
Ein Beitrag aus »Niedersächsische Verwaltungsblätter« | © emmi - Fotolia / RBV

Dass Gesetzesinitiativen innerhalb kürzester Zeit beraten und beschlossen werden, ist weder neu noch selten.1 Die Häufigkeit (vermeintlich) dringlicher Entwürfe und deren schneller Beratung hat jedoch merklich zugenommen.2

Als das Bundesverfassungsgericht dem Deutschen Bundestag Anfang Juli 2023 untersagte, die zweite und dritte Lesung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zur Änderung des Gebäudeenergiegesetzes, zur Änderung der Heizkostenverordnung und zur Änderung der Kehr- und Überprüfungsordnung3 auf die Tagesordnung zu setzen,4 war das Echo groß. Denn bis dahin hatte das Bundesverfassungsgericht in Bezug auf die innerparlamentarischen Beratungsabläufe stets Zurückhaltung geübt und dem Bundestag weitreichende Spielräume mit Blick auf die Dauer des Gesetzgebungsverfahrens eingeräumt.5 Die Opposition bewertete die Entscheidung (trotz der lediglich vorübergehenden Aussetzung des Verfahrens) deshalb als, in den drastischen Worten des Vorwahlkampfs, „schwer[e] Klatsche“ für die Bundesregierung (Alexander Dobrindt, Vorsitzender der CSU-Landesgruppe), und sie erwartete „Folgen für den Parlamentarismus“ (Thomas Heilmann, Abgeordneter der CDU-Fraktion).6 Selbst aus den Reihen der die Bundesregierung tragenden Fraktionen kam Zustimmung: Die Entscheidung sei eine „Quittung für die Grünen, die in dieses Verfahren einen unerklärlichen Druck hineingegeben“ hätten (Wolfgang Kubicki, stellvertretender Vorsitzender der FDP).7

Nicht nur auf Bundesebene, sondern auch in Niedersachsen stellt sich die Frage, welche Anforderungen das Verfassungsrecht an die parlamentarischen Beratungsabläufe stellt. Wie löst das Landesverfassungsrecht den Konflikt zwischen dem freien Mandat der Abgeordneten und dem daraus folgenden Recht, sich mit einer Gesetzesvorlage hinlänglich zu befassen, einerseits und dem Recht des Parlaments, über den Ablauf des Gesetzgebungsverfahrens autonom entscheiden zu können, andererseits auf? Diese Frage beantwortet unser Aufsatz.


I.Die gesetzgebungsverfahrensspezifischen Gewährleistungen des freien Mandats

Die Niedersächsische Verfassung bestimmt die Rechtsstellung der Mitglieder des Landtags in den Art. 12, Art. 19 Abs. 2 Satz 1 NV. Gem. Art. 12 NV vertreten die Abgeordneten das ganze Volk, sind an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. Die Gewährleistung des freien Mandats ähnelt Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG, der für die Abgeordneten des Deutschen Bundestages bestimmt, dass sie Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen sind. In der Ähnlichkeit sehen Stimmen der Lehre einen Grund dafür, dass sich eine echte Eigenständigkeit des Art. 12 NV bislang nicht gebildet habe und eine derartige Entwicklung durch den Wortlaut der Norm mindestens erschwert sei.8 Doch daraus folgt selbstredend nicht, dass Literatur und Rechtsprechung zu Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG ohne Weiteres auch zu Art. 12 NV angeführt werden könnten: Auslegungsergebnisse können trotz wortlautgleicher oder (wie hier) wortlautähnlicher Regelung aufgrund abweichender Systematik, Genese und Historie des Landesverfassungsrechts anders ausfallen als nach dem Grundgesetz.9 Für Art. 12 NV zeigt sich das etwa am Begriff des „Volkes“, das nur das „Volk von Niedersachsen“ meinen kann.10 Maßgeblich für die Rechtsstellung der Abgeordneten des Niedersächsischen Landtags ist nach alledem allein das freie Mandat nach Art. 12 NV (und die „unitarisierend[e] Wirkung“11 der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts für die Auslegung der Landesverfassungen12 vor diesem Hintergrund kritisch zu sehen).

Dass die bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung dennoch zur Bestimmung der gesetzgebungsverfahrensspezifischen Gewährleistungen des freien Mandats einbezogen werden kann, lässt sich mit der Genese des Art. 12 NV erklären: Aus den Materialien zur Niedersächsischen Verfassung von 1993 ergibt sich, dass der verfassungsändernde Gesetzgeber Art. 12 NV an Art. 3 Abs. 1 Satz 2 der Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung (VNV) sowie an Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG anlehnen und die dazu entwickelten Gehalte auf die NV übertragen sehen wollte.13 Dass der NStGH die Rechtsprechung zu Art. 38 GG auf das Landesverfassungsrecht überträgt,14 steht so gesehen fest auf genetischem Grund.

1.Gleichheit der Abgeordneten: „Verhandeln“ in Plenum und Ausschüssen

Art. 12 NV gebietet die formelle Gleichbehandlung aller Abgeordneten des Landtags, gewährt ihnen regelmäßig gleiche Mitwirkungsbefugnisse sowie gleiche Rechte und Pflichten.15 Die Abgeordneten des Landtags haben nicht nur das Recht, sondern sind auch verpflichtet16, an der parlamentarischen Willensbildung mitzuwirken. Dass Berechtigungen und Verpflichtungen spiegelbildlich korrespondieren, ist für (staatliche) Kompetenzen der Regelfall17 und gilt auch für Art. 12 NV. Das Gebot zur Gleichbehandlung wiederholt Art. 19 Abs. 2 Satz 1 NV, der Fraktionen und Mitgliedern des Landtags, die die Landesregierung nicht stützen, die Chancengleichheit in Parlament und Öffentlichkeit ausdrücklich zusichert.18

Die Abgeordneten üben ihr freies Mandat im Landtag auf vielfältige Weise aus. Die wesentliche Gewährleistung liegt in der Möglichkeit, an der parlamentarischen Willensbildung teilzunehmen, indem die Abgeordneten zu den eingebrachten Initiativen in der öffentlichen Debatte Argument und Gegenargument austauschen. Austragungsort der Debatte ist nach der NV im Grundsatz der Plenarsaal mit dem Plenum als der Vollversammlung der Abgeordneten:19 Art. 22 Abs. 1 Satz 1 NV bestimmt, dass „[d]er Landtag“ öffentlich verhandelt. Als Verhandeln gilt der gesamte Prozess der Entscheidungsfindung, von der Einbringung des Gesetzentwurfs bis zur Abstimmung,20 die im parlamentarischen Verfahren dem Landtag zugewiesen ist, vgl. Art. 42 Abs. 1 NV. Nur im Fall höherer Gewalt tritt an die Stelle des Landtags als Plenum eine Gruppe von Abgeordneten, der Ältestenrat, bzw. die Präsidentin des Landtags, vgl. Art. 44 Abs. 2, 3 i. V. m. Abs. 1 NV.

Das Plenum allerdings ist allein schon aus zeitlichen Gründen nicht in der Lage, jeden einzelnen Gesetzentwurf im gebotenen Umfang zu diskutieren und Streichungen, Ergänzungen oder sonstige Änderungen in kleinteiliger Textarbeit zu beraten.21 Anzahl und Umfang seiner Gesetzgebungsverfahren kann das Parlament außerdem nach der Lehre vom Vorbehalt des Gesetzes nur begrenzt begrenzen.22 Andererseits ist es dem Parlament von Verfassungs wegen vorgegeben, funktionsfähig zu bleiben.23 Die Funktionsfähigkeit des Parlaments setzt voraus, dass die innerparlamentarischen Arbeitsabläufe effektiv ausfallen und so die Handlungsfähigkeit der Volksvertretung gewahrt bleibt.24 Der Landtag muss in der Lage sein, so über die eingebrachten Gesetzentwürfe zu verhandeln, dass das Verfahren rechtzeitig zu einem Abschluss gebracht wird, auf dass die personellen und zeitlichen Kapazitäten für den nächsten Gesetzentwurf zur Verfügung stehen.

Deshalb bestimmt Art. 20 Abs. 1 NV, dass der Landtag „[z]ur Vorbereitung seiner Beschlüsse“ Ausschüsse einsetzt. Die Ausschüsse dienen dem Landtag als dessen „interne Hilfseinrichtungen“25: Sie beraten und verändern die eingebrachten Gesetzesvorlagen und empfehlen dem Plenum, die Initiative in ihrer beratenen Form anzunehmen, abzulehnen oder für erledigt zu erklären, vgl. auch § 28 Abs. 1 der Geschäftsordnung des Niedersächsischen Landtages (GO LT).26 Die wesentliche Behandlung der Initiative, also das Verhandeln i. S. d. Art. 22 Abs. 1 Satz 1 NV, findet daher praktisch in den Ausschüssen statt;27 die praktische Bedeutung der Ausschussberatungen im Gesetzgebungsverfahren gründet insoweit letztlich in der Verfassungsvorgabe der Funktionsfähigkeit des Parlaments.28

Die Ausschüsse zwingend in das Gesetzgebungsverfahren einzubeziehen, ist dagegen landesverfassungsrechtlich29 (und auch grundgesetzlich30) nicht vorgegeben: Art. 42 NV regelt die Durchführung des Gesetzgebungsverfahrens nur mit Blick auf Einleitung und Ende.31 Daraus folgt, dass der Landtag selbst über die Ausgestaltung des Verfahrens bestimmen muss.32 Entscheidet sich der Landtag – wie im Normalfall – dazu, die Ausschüsse zur Unterstützung der verfassungsrechtlich gebotenen Verhandlung über die Gesetzesinitiative einzusetzen und ihnen einzelne Vorhaben zur Beratung zu überweisen, kommt es für die Verfassungsmäßigkeit der Beteiligung der Abgeordneten an der parlamentarischen Willensbildung auch auf die Ausschussberatung an.

Die parlamentsübliche, in der Niedersächsischen Verfassung angelegte und seit jeher auch hierzulande praktizierte Aufteilung der Parlamentsarbeit auf die Ausschüsse und das Plenum ist nur zweckmäßig, falls den Abgeordneten im Plenum eine Beschlussempfehlung der Ausschüsse vorliegt, auf deren Grundlage sie eine Entscheidung treffen können. Obwohl die Beschlussempfehlungen rechtlich unverbindlich sind, folgt das Parlament ihnen in der Regel.33 Das ist nicht nur Ausdruck der Bedeutung, welche die Niedersächsische Verfassung der Ausschussarbeit zukommen lässt, sondern auch sonst zweckmäßig wegen des Sachverstands der in die Ausschüsse entsandten, regelmäßig spezialisiert tätigen Mitglieder.34 Können sich die Abgeordneten schwerpunktmäßig schon aus Zeitgründen nur bestimmten Materien widmen, ist es umso wichtiger, dass die Ausschussberatung und die am Ende ausgesprochene Beschlussempfehlung jene Abgeordneten, die im vorberatenden Ausschuss kein Mitglied sind, bei ihrer Meinungsbildung tatsächlich unterstützen können.

2.Innerparlamentarisches Übermaßverbot

Die Entscheidungsbefugnis über den Ablauf des Gesetzgebungsverfahrens, die dem Parlament in seiner Gesamtheit zusteht, reicht regelmäßig weit. Sie wird nur durch die übrigen, das Gesetzgebungsverfahren betreffenden Vorgaben der NV begrenzt. Eine Grenze formuliert Art. 22 Abs. 1 Satz 1 NV: Dass der Landtag öffentlich „verhandelt“, bedeutet, dass überhaupt eine Beratung über den Gesetzentwurf stattfinden muss.35 Entscheidet sich das Plenum, den Entwurf nach erster Lesung in die Ausschüsse zu überweisen, findet die Verhandlung nachfolgend dort statt und ist Art. 20 Abs. 1 NV zu beachten. Die zweite Grenze bildet das freie Mandat der Abgeordneten gem. Art. 12 NV, ergänzt um die vorgegebene Chancengleichheit in Parlament und Öffentlichkeit gem. Art. 19 Abs. 2 Satz 1 NV.

Art. 19 Abs. 2 Satz 1 NV sichert für Fraktionen und Abgeordnete der Opposition das oben bereits beschriebene Recht auf Chancengleichheit in Parlament und Öffentlichkeit ausdrücklich ab. Die Vorschrift reagiert auf das strukturelle Beteiligungsdefizit der Opposition;36 schließlich vermag die parlamentarische Mehrheit aufgrund der Geschäftsordnungsautonomie auch Verfahrensfragen regelmäßig zu ihren Gunsten zu entscheiden. Die Beteiligung an der parlamentarischen Willensbildung stellt sich für die Abgeordneten der Opposition rechtlich und tatsächlich anders dar als für die Abgeordneten der parlamentarischen Mehrheit: Es ist Aufgabe der Opposition, in der parlamentarischen Öffentlichkeit die Mehrheit zu kontrollieren, zu kritisieren und eigene Vorschläge zu entwickeln.37 Eigene Vorschläge kann die Opposition nur unterbreiten, wenn sie die Möglichkeit hat, auf Gesetzesinitiativen der Regierung oder der parlamentarischen Mehrheit zu reagieren. Dafür muss sie am Gesetzgebungsverfahren in einer Weise beteiligt werden, die es ihr erlaubt, den Entwurf zur Kenntnis zu nehmen, in den Fraktionen zu diskutieren und in der Ausschussarbeit Änderungen, grundlegende oder Einzelheiten betreffend, substanziiert vorzuschlagen.38 Nur auf diesem Weg kann ein inner- wie außerparlamentarisch offener und fairer Wettbewerb der verschiedenen politischen Kräfte sichergestellt werden.39 Nur so kann die Opposition ihren Anspruch untermauern, die bessere Regierung zu sein, und ihre Chance wahren, zur Mehrheit zu werden.40

Geboten ist damit stets ein Ausgleich zwischen der Funktionsfähigkeit des Parlaments, die mit der Entscheidungsbefugnis der Mehrheit über den Ablauf der innerparlamentarischen Verfahren einhergeht, und dem freien Mandat der Abgeordneten, insbesondere aber dem Recht auf Chancengleichheit in Parlament und Öffentlichkeit. Dieser Konflikt ist dogmatisch anspruchsvoll, betrifft er neben dem Gesetzgebungsverfahren etwa auch die Besetzung parlamentarischer Gremien, das Rederecht im Plenum41 oder den Mandatsverzicht während einer Wahlperiode42. Wie weit darf die parlamentarische Mehrheit unter Berufung auf die Funktionsfähigkeit des Parlaments also Abgeordnetenrechte, insbesondere die Mitwirkungsmöglichkeit an innerparlamentarischen Abläufen begrenzen?

Die Antwort gibt das innerparlamentarische Übermaßverbot. Es verhindert solche Beschränkungen des freien Mandats, die Mitwirkungsmöglichkeiten an den parlamentarischen Abläufen auf ein den betroffenen Abgeordneten unzumutbares Maß absenken43. Das Übermaßverbot, dessen Ursprünge in der Grundrechtsdogmatik liegen,44 lässt sich auf den innerparlamentarischen Bereich übertragen.45 Das folgt daraus, dass das Übermaßverbot auch im Rechtsstaatsprinzip gründet46 und die Beteiligungsrechte der Abgeordneten als „wehrfähige“ Positionen des Innenrechts47 insofern subjektiven Rechten entsprechen. Rechtspositionen dieser Art darf der Staat nur verkürzen, falls es dafür eine gesetzliche Grundlage gibt und die Anwendung der Rechtsgrundlage im Einzelfall nicht zu weiterreichenden Eingriffen führt, als zur Zweckerreichung erforderlich ist. Im innerparlamentarischen Bereich können sich Staatsorgane auf das Übermaßverbot berufen, sofern sie Inhaber von Rechtspositionen sind, die ihnen wie ein subjektives Recht zugewiesen sind.48 Dass das freie Mandat eine solche Rechtsposition und dementsprechend auch das Übermaßverbot anzuwenden ist, anerkennen die Verfassungsgerichte.49 Damit ist es der schonende Ausgleich, in den die Funktionsfähigkeit des Parlaments einerseits und die beschriebenen Ausprägungen des freien Mandats andererseits zu bringen sind.50

Ein Ausgleich ist schonend, falls konkurrierende Rechtspositionen bezogen auf die konkrete Konfliktsituation so in Einklang gebracht werden, dass sich nicht die eine vollständig zulasten der anderen durchsetzt.51 Synonym Verwendung findet der Begriff der praktischen Konkordanz, nach dem „verfassungsrechtlich geschützte Rechtsgüter […] in der Problemlösung einander so zugeordnet werden [müssen], daß jedes von ihnen Wirklichkeit gewinnt“52. Beiden Rechtspositionen müssen demgemäß Grenzen gezogen werden, um sie im konkreten Fall jeweils auch zur Geltung kommen zu lassen. Kurz: Kein Verfassungsgut darf vollständig zurückstehen müssen.

Den besamten Beitrag lesen Sie in unseren NdsVBl. Heft 7/2024.

 

Univ.-Prof. Dr. Bernd J. Hartmann

Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, insb. Verwaltungsrecht, an der Universität Regensburg
 

Dipl. Jur. Simon Marx

War bis zum 31.12.2023 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am ISVWR und promoviert bei Professor Hartmann
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