LMU meets BayVGH
Baurecht in der Praxis des BayVGH
LMU meets BayVGH
Baurecht in der Praxis des BayVGH
Erstmals im Wintersemester 2023/2024 startete die von der Präsidentin des BayVGH, Andrea Breit, und Prof. Martin Burgi ins Leben gerufene Vorlesungsreihe „LMU meets BayVGH” an der Ludwig-Maximilians-Universität München. In diesem Rahmen stellten richterliche Mitglieder des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs aktuelle praktische Fälle aus verschiedenen Gebieten des Verwaltungsrechts für Studierende des öffentlichen Rechts auf Fortgeschrittenen- beziehungsweise Examensniveau vor. Der nachfolgende Beitrag aus diesem Rahmen betrifft die häufigsten baurechtlichen Fallgestaltungen in der Praxis des BayVGH, von Sachverhalt und Lösung her jeweils angepasst an den Pflichtstoff der JAPO für das erste Staatsexamen.
- 1. Verpflichtungsklage auf Baugenehmigung (Fall 1),
- 2. Anfechtungsklage gegen Baugenehmigung (Fall 2),
- 3. Anfechtungsklage gegen bauaufsichtliches Einschreiten (Fall 3) und
- 4. Normenkontrollklage gegen Bebauungsplan (Fall 4)
(jeweils ggfs. mit Eilrechtsschutz nach § 47 Abs. 6 VwGO und § 80 Abs. 5 VwGO).
Sachverhalt Fall 1:
Der Bauherr beantragt eine Baugenehmigung für ein fünfstöckiges Wohngebäude von 20 m Höhe in der in geschlossener Bauweise dicht bebauten Münchner Innenstadt in Schwabing. Ein Bebauungsplan existiert nicht. Im maßgeblichen Quartier sind bislang nur vierstöckige Wohngebäude vorhanden, deren Höhe zwischen 19,50 m und 20 m beträgt. Die bebaute Grundfläche entspricht derjenigen im maßgeblichen Quartier. Die Stadt München lehnt den Bauantrag ab, da sich das geplante Gebäude vom Maß der baulichen Nutzung her nicht in die nähere Umgebung einfüge. Bauordnungsrecht müsse daher gar nicht mehr geprüft werden. Der Bauherr erhebt form- und fristgerecht Klage zum sachlich und örtlich zuständigen Verwaltungsgericht München.
Hat seine Klage Erfolgsaussichten?
Lösung Fall 1:
Vorab: Der Rechtsschutz des Bauherrn oder Nachbarn gegenüber einer Entscheidung der Baugenehmigungsbehörde bereitet prozessrechtlich und verfahrensmäßig in der Regel nur wenige Probleme, der Schwerpunkt einer derartigen Klausur wird meistens im materiellen Recht liegen.
A. Sachentscheidungsvoraussetzungen
I. Eröffnung des Verwaltungsrechtsweges
Die Eröffnung des Verwaltungsrechtsweges richtet sich mangels aufdrängender Sonderzuweisungen nach der Generalklausel des § 40 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 VwGO. Mit seinem Antrag will der Bauherr eine Baugenehmigung erwirken. Die den Streit entscheidenden, da möglicherweise anspruchsbegründenden, Normen sind solche des öffentlichen Bauplanungs- und Bauordnungsrechts, vor allem Art. 68 BayBO. Sie berechtigen die Bauaufsichtsbehörde gerade als Trägerin von Hoheitsgewalt zur Erteilung oder Versagung einer Baugenehmigung. Nach der modifizierten Subjekttheorie liegt eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit vor. Eine abdrängende Sonderzuweisung ist nicht ersichtlich. Die Streitigkeit ist auch offensichtlich nicht verfassungsrechtlicher Art. Folglich ist der Verwaltungsrechtsweg eröffnet.
II. Statthafte Klageart
Die Baugenehmigung ist ein begünstigender Verwaltungsakt (Art. 35 Satz 1 BayVwVfG), mit dem einerseits die baurechtliche Zulässigkeit des Bauvorhabens festgestellt wird, andererseits der Bau und die Nutzung des genehmigten Vorhabens gestattet werden1. Daraus folgt, dass der Bauherr gegen die Ablehnung mit Widerspruch (in Bayern nach Landesrecht entbehrlich; vgl. Art. 12 Abs. 1 und 2 AGVwGO) und anschließender Verpflichtungsklage (§ 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGO) vorgehen muss.
Die Verpflichtungsklage ist auf den Erlass eines Verwaltungsakts gerichtet. Der Ablehnungsbescheid (ggf. in Gestalt des Widerspruchsbescheids) muss nicht mit der Anfechtungsklage separat angefochten werden, die Aufhebung geschieht grundsätzlich automatisch bei stattgebender Verpflichtungsklage in Form der Versagungsgegenklage2.
III. Klagebefugnis
§ 42 Abs. 2 VwGO verlangt für die Zulässigkeit der Versagungsgegenklage, dass der Kläger geltend macht, durch die Ablehnung des Verwaltungsakts in eigenen Rechten verletzt zu sein. Stets genügt es, wenn die Rechtsverletzung des Klägers möglich ist (sog. Möglichkeitstheorie)3. Bei der Verpflichtungsklage ist das der Fall, wenn dem Kläger möglicherweise ein Anspruch auf Vornahme des begehrten Verwaltungsakts zusteht.
Möglicherweise ist der Bauherr durch die Ablehnung des Antrags auf Baugenehmigung in seiner grundrechtlich durch Art. 14 Abs. 1 GG fundierten Baufreiheit aus Art. 68 BayBO verletzt. Nach dieser Norm hat er einen Anspruch auf Baugenehmigung, wenn dem Bauvorhaben keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstehen. Dabei handelt es sich nicht um eine Ermessensentscheidung der Behörde. Das Bestehen eines Anspruchs des Bauherrn ist nicht von vornherein ausgeschlossen.
IV. Zuständiges Gericht, form- und fristgerechte Klageerhebung
Laut Sachverhalt gegeben.
V. Beteiligten- und Prozessfähigkeit
Der Bauherr ist als natürliche Person gemäß § 61 Nr. 1 Alt. 1 VwGO beteiligten- und nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 VwGO prozessfähig.
Die Stadt München als Rechtsträgerin ihrer Bauaufsichtsbehörde ist als juristische Person nach § 61 Nr. 1 Alt. 2 VwGO parteifähig. Sie ist nicht prozessfähig, wird aber gemäß § 62 Abs. 3 VwGO durch den Oberbürgermeister (Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GO) vertreten.
VI. Zwischenergebnis
Die Sachentscheidungsvoraussetzungen liegen vor.
B. Begründetheit der Klage
Obersatz: Die Klage gegen die Versagung einer Baugenehmigung ist begründet, wenn sie gegen den richtigen Beklagten gerichtet ist und der Bauherr Anspruch auf die Baugenehmigung oder zumindest Anspruch auf eine Neubescheidung über seinen Bauantrag hat (§ 113 Abs. 5 VwGO). Letzteres kommt vor allem dann in Betracht, wenn das Bauvorhaben schon aus bauplanungsrechtlichen Gründen zu Unrecht nicht genehmigt wurde und die bauordnungsrechtlichen oder sonstigen Voraussetzungen für die Erteilung der Baugenehmigung von der Baurechtsbehörde noch gar nicht geprüft wurden4. Einen Anspruch auf eine Baugenehmigung hat der Bauherr hingegen, wenn sein Bauvorhaben den baurechtlichen Vorschriften entspricht; einen Ermessensspielraum der Baurechtsbehörde gibt es insoweit nicht5. Überwiegend wird allerdings angenommen, dass ein Ermessen der Baurechtsbehörde besteht, wenn die baurechtlichen Vorschriften Ausnahmen zulassen6.
I. Passivlegitimation
Nach § 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO ist der richtige Beklagte der Rechtsträger der handelnden Behörde (Rechtsträgerprinzip). Sachlich zuständig für die Erteilung von Baugenehmigungen ist nach Art. 53 Abs. 1 Satz 1, Art. 54 BayBO die Kreisverwaltungsbehörde als untere Bauaufsichtsbehörde, hier allerdings die kreisfreie Stadt München (Art. 9 Abs. 1 Satz 1 GO). Passiv legitimiert ist also die Stadt München.
II. Maßgeblicher Zeitpunkt
Da es sich bei der Klage auf Erteilung einer Baugenehmigung um eine Verpflichtungsklage handelt, ist auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung abzustellen; die Behörde kann nicht zur Erteilung einer rechtswidrigen Baugenehmigung verpflichtet werden, auch wenn diese im Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung noch rechtmäßig gewesen sein mag7.
III. Genehmigungspflichtigkeit des Vorhabens
Zunächst ist zu prüfen, ob für das Bauvorhaben überhaupt eine Genehmigungspflicht besteht. Dies ist dann eine Frage der Begründetheit der Klage, wenn es nicht offensichtlich ist, dass das Bauvorhaben auch ohne Baugenehmigung errichtet werden darf.
Gemäß Art. 55 Abs. 1 BayBO ist die Errichtung, Änderung und Nutzungsänderung von Anlagen genehmigungspflichtig. Das geplante Wohngebäude ist eine mit dem Erdboden verbundene, aus Bauprodukten hergestellte Anlage, sodass es eine bauliche Anlage nach Art. 2 Abs. 1 Satz 1 BayBO ist. Genehmigungs- oder Verfahrensfreiheit nach Art. 56–58 und 72 BayBO sind nicht ersichtlich8.
IV. Genehmigungsfähigkeit des Vorhabens
Das Vorhaben müsste nach Art. 59, 60 BayBO genehmigungsfähig sein.
1. Prüfungsumfang im baurechtlichen Genehmigungsverfahren
Der Prüfungsmaßstab richtet sich gemäß Art. 59 BayBO danach, ob es sich um einen Sonderbau handelt oder nicht. Gemäß Art. 2 Abs. 4 Nr. 1 BayBO liegt kein Sonderbau vor, da es sich nicht um ein Hochhaus handelt, da eine Höhe von 20 m nicht überschritten wird. Die sonstigen Tatbestände von Art. 2 Abs. 4 BayBO sind nicht einschlägig. Es bleibt daher beim Prüfungsumfang des Art. 59 BayBO.
Für die Prüfung der Frage, ob ein Anspruch auf Erteilung einer Baugenehmigung besteht, hat sich in der Praxis eine Prüfungsreihenfolge eingebürgert, die sich auch für eine baurechtliche Klausur anbietet, nämlich:
- –
- zunächst die Prüfung des Bauplanungsrechts,
- –
- dann des Bauordnungsrechts und
- –
- zuletzt eventuell sonstiger einschlägiger Vorschriften.
Das Vorhaben müsste bauplanungsrechtlich zulässig sein (Art. 59 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a BayBO).
Es müsste sich um die Errichtung einer Anlage im Sinn des BauGB handeln. Das ist jede mit dem Erdboden verbundene Anlage aus Baustoffen mit bodenrechtlicher Relevanz (vgl. dazu § 1 BauGB). Hier werden jedenfalls die baulichen Belange des § 1 Abs. 6 Nr. 2, 4 und 5 BauGB durch das geplante Wohngebäude berührt.
Hinweis: Der Begriff der baulichen Anlage im Sinn von § 29 BauGB ist zwar vom theoretischen Ansatz her anders auszulegen als der bauordnungsrechtliche Begriff, weil die Zielsetzung beider Rechtsgebiete unterschiedlich ist. Diese Feststellung ändert aber nichts daran, dass es in der baurechtlichen Praxis kaum Fälle gibt, in denen der Begriff der baulichen Anlage nach § 29 BauGB von dem bauordnungsrechtlichen Begriff abweicht9.
Es gibt drei einschlägige bauplanungsrechtliche Bereiche: Den Innenbereich (§ 34 BauGB), den Außenbereich (§ 35 BauGB) und den Geltungsbereich eines Bebauungsplans, wobei insoweit zwischen einem qualifizierten Bebauungsplan (§ 30 Abs. 1 BauGB) und einem einfachen Bebauungsplan (§ 30 Abs. 2 BauGB) unterschieden werden muss. Im ersten Fall beurteilt sich die Zulässigkeit eines Vorhabens allein nach den Festsetzungen des Bebauungsplans, im zweiten Fall nach den Festsetzungen des Bebauungsplans und im Übrigen nach § 34 BauGB beziehungsweise § 35 BauGB.
Nach dem Sachverhalt existiert kein Bebauungsplan. Bei der dicht bebauten Münchner Innenstadt handelt es sich mangels weiterer Angaben im Sachverhalt um einen im Zusammenhang bebauten Ortsteil im Sinn von § 34 Abs. 1 BauGB. Der nichtbeplante Innenbereich unterscheidet sich vom Außenbereich (§ 35 BauGB) dadurch, dass er eine zusammenhängende Bebauung der Grundstücke mit Wohngebäuden, gewerblich genutzten Gebäuden und Anlagen sowie sonstigen Anlagen (z. B. Sportplätze, Verkehrsanlagen, Grünanlagen) aufweist.
Für § 34 Abs. 1 BauGB kommt es grundsätzlich darauf an, ob sich das Bauvorhaben in die nähere Umgebung einfügt. Eine Ausnahme besteht insoweit für die Art der baulichen Nutzung, wenn es sich um ein sogenanntes faktisches Baugebiet handelt (§ 34 Abs. 2 BauGB). Einfügen bedeutet, dass das Bauvorhaben sich innerhalb des Rahmens halten muss, der durch die vorhandene Bebauung gebildet wird10.
Allein aus dem Kriterium des Nichteinfügens darf noch nicht der Schluss gezogen werden, dass Vorhaben, die in der näheren Umgebung etwas Neues darstellen würden, von vornherein unzulässig wären. Auch solche Vorhaben können sich einfügen, wenn sie keine städtebaulichen Spannungen verursachen, also im Hinblick auf ihre Größe und insbesondere die von ihnen ausgehenden Auswirkungen durch Immissionen, Zufahrtsverkehr oder ähnliches die vorhandenen Verhältnisse nicht nachteilig verändern11.
Nach dem mitgeteilten Sachverhalt kann es nur um das Maß der baulichen Nutzung gehen. Es ist in § 34 BauGB nicht näher definiert; Anhaltspunkte gibt aber § 16 Abs. 2 BauNVO. Im Kern geht es um die überbaute Grundfläche (im Sinne von gedachten Baulinien), Kubatur, die Zahl der Geschosse und das Verhältnis von überbauter Fläche zu nicht überbauter Fläche auf dem Baugrundstück, soweit nicht geschlossene Bebauung (vgl. § 22 BauNVO analog) vorliegt.
Ein Vorhaben fügt sich nach dem Maß der baulichen Nutzung in die Eigenart der näheren Umgebung ein, wenn es dort Referenzobjekte gibt, die bei einer wertenden Gesamtbetrachtung von Grundfläche, Geschosszahl und Höhe, bei offener Bebauung auch nach dem Verhältnis zur Freifläche, vergleichbar sind. Die Übereinstimmung in nur einem Maßfaktor genügt nicht12.
In der näheren Umgebung (im Sachverhalt als maßgebliches Quartier bezeichnet) sind bisher nur viergeschossige Gebäude vorhanden. Für das im Wege der Gesamtbetrachtung gefundene Ergebnis, ein Vorhaben füge sich nicht ein, reicht es aus, wenn bereits eines der eben genannten Kriterien keine Entsprechung in der maßstabsbildenden Umgebungsbebauung findet.
Das gilt insbesondere auch dann, wenn sich das geplante Vorhaben zwar nach Grundfläche und Höhe, möglicherweise aber nicht nach der Geschosszahl in die relevante Umgebungsbebauung einfügt13. Für das Einfügen sind in erster Linie nach außen wahrnehmbare Kriterien maßgeblich. Die Geschossigkeit ist allerdings nach außen hin erkennbar (zum Beispiel durch die Fensteröffnungen), sodass sich das fragliche Gebäude im hier zu entscheidenden Fall nicht einfügt14.
Insoweit können sich vor allem solche Vorhaben hinsichtlich der in Rede stehenden Beurteilungsmaßstäbe einfügen, die über den vorhandenen Rahmen nur unwesentlich hinausgehen15. Bei der Überschreitung des Rahmens um ein Geschoss ist das nicht der Fall, da das Vorhaben dann ein maßgebliches Referenzobjekt im Quartier darstellen und zur möglichen Realisierung von deutlich erhöhten Geschossflächen führen würde, was städtebaulich nicht ohne weiteres bewältigbar wäre.
C. Gesamtergebnis
Es besteht kein Anspruch auf Baugenehmigung, sodass die Klage keine Erfolgsaussichten hat.
Sachverhalt Fall 2:
Der Bauherr, ein Gastronom, hat eine landschaftlich reizvolle, bislang unbebaute Almwiese erworben und plant dort die Errichtung einer im alpenländischen Stil gehaltenen Gaststätte, die auch der Versorgung von Wanderern im Gebiet dienen soll (Größe 146 Außensitzplätze, 175 Innensitzplätze, 2 Küchen, Öffnungszeiten täglich 9 – 24 Uhr, Live-Musik Darbietungen im Innenraum). Der Flächennutzungsplan sieht eine Fläche für Land- und Forstwirtschaft vor. Die Gaststätte liegt eine halbe Stunde zu Fuß von der Standortgemeinde entfernt im bauplanungsrechtlichen Außenbereich. Abends wird ein Shuttle-Service angeboten. Es handelt sich um ein beliebtes Wandergebiet. Die Gemeinde verweigert das Einvernehmen, da das Vorhaben nicht privilegiert sei. Das Landratsamt begrüßt das Vorhaben unter touristischen Gesichtspunkten und erteilt die Baugenehmigung unter Ersetzung des gemeindlichen Einvernehmens. Gegen die Genehmigung klagen jeweils form- und fristgerecht zum zuständigen Verwaltungsgericht die Standortgemeinde, ein anerkannter Umweltverband (e.V.) im Sinn von § 3 UmwRG, zu dessen satzungsmäßigen Aufgaben der Schutz der Bergwelt und der Eigenart der Landschaft gehört, und ein Gemeindebürger, der ein Grundstück im Gemeindegebiet (Innenbereich) besitzt, dort wohnt und dem das Ganze ein Dorn im Auge ist.
Haben die Klagen Erfolgsaussichten?
Lösung Fall 2:
A. Sachentscheidungsvoraussetzungen
I. Eröffnung des Verwaltungsrechtsweges
Siehe oben Fall 1. Es wäre auch zulässig, wie folgt zu argumentieren: Da der Sachverhalt explizit die Angabe enthält, dass die Verwaltung durch Verwaltungsakt (hier Baugenehmigung) gehandelt hat, kann dies zur Begründung des öffentlich-rechtlichen Charakters der Streitigkeit herangezogen werden16, da der Verwaltungsakt eine hoheitliche Handlungsform darstellt17. Entscheidend für den Rechtsschutz ist, wie der Staat tatsächlich gehandelt hat, nicht wie er hätte handeln müssen oder welche Bezeichnung er gewählt hat18.
II. Richtige Klageart
Die Baugenehmigung ist ein begünstigender Verwaltungsakt (Art. 35 Satz 1 BayVwVfG), mit dem einerseits die baurechtliche Zulässigkeit des Bauvorhabens festgestellt wird, andererseits der Bau und die Nutzung des genehmigten Vorhabens gestattet werden19. Nachdem es keinen relativen Verwaltungsakt gibt20, gilt die Verwaltungsaktqualität gegenüber jedermann. Daraus folgt, dass Drittbetroffene gegen die Baugenehmigung mit Widerspruch (in Bayern nach Landesrecht entbehrlich; vgl. Art. 12 Abs. 1 und 2 AGVwGO) und anschließender Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO) vorgehen müssen.
Hinweis: Der Begriff des Drittbetroffenen umfasst jeden, der meint, von der Baugenehmigung betroffen zu sein, und der weder Bauherr, also Antragsteller im Baugenehmigungsverfahren, noch Baugenehmigungsbehörde ist. Hierzu gehören also auch die Standortgemeinde, Verbände und natürliche Personen wie Nachbarn.
III. Klagebefugnis
Siehe zunächst oben Fall 1. Problematisch bei Drittanfechtungsklagen ist, dass der jeweilige Kläger nicht Adressat des Verwaltungsakts ist, er also seine Befugnis zur Anfechtung in besonderer Art und Weise darlegen muss. Voraussetzung ist stets, dass der Kläger durch die Baugenehmigung möglicherweise in im Baugenehmigungsverfahren zu prüfenden, auch ihn schützenden (also drittschützenden) Vorschriften verletzt ist.
Drittschutz vermitteln nur solche Vorschriften des öffentlichen Baurechts, die (zumindest auch) der Rücksichtnahme auf individuelle Interessen dienen. Dies ergibt sich aus dem Wortlaut der jeweiligen Norm sowie der Auslegung nach Sinn, Zweck und Entstehungsgeschichte. Aus den individualisierenden Tatbestandsmerkmalen muss sich aus der Norm ein Personenkreis entnehmen lassen, der sich von der Allgemeinheit unterscheidet.
1. Klagebefugnis der Standortgemeinde
Die Gemeinde ist klagebefugt (§ 42 Abs. 2 VwGO). Die in Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG, Art. 11 Abs. 2 Satz 2 BV verankerte Planungshoheit der Gemeinde wird im Baugenehmigungsverfahren dadurch geschützt, dass nach § 36 Abs. 1 Satz 1 und 2 BauGB die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit eines Vorhabens nach den §§ 31 und 33 bis 35 BauGB grundsätzlich nur im Einvernehmen mit der Gemeinde bejaht werden darf. Gegen eine ohne ihren Willen erteilte Baugenehmigung kann die Gemeinde deshalb vor Gericht angehen21.
2. Klagebefugnis des Umweltverbandes
Der Umweltverband ist nach § 42 Abs. 2 VwGO i. V. m. § 2 Abs. 1, § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 UmwRG klagebefugt. Es handelt sich um eine nach § 3 UmwRG anerkannte Umweltvereinigung, die nach ihrem satzungsmäßigen Aufgabenbereich den Schutz der Bergwelt und der Eigenart der Landschaft bezweckt. Das Bauvorhaben befindet sich auf einer bislang unbebauten Almwiese, also in den Bergen, und beeinträchtigt möglicherweise die dortige Eigenart der Landschaft. Die Klage kann damit möglicherweise auf eine Verletzung des bauplanungsrechtlichen öffentlichen Belangs des § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 BauGB und damit auf die Verletzung einer eventuell umweltbezogenen Rechtsvorschrift gestützt werden.
3. Klagebefugnis des Gemeindebürgers
Es gibt bestimmte Vorschriften des Baurechts und des sonstigen öffentlichen Rechts, die den Nachbarn vor unzumutbaren Auswirkungen eines Bauvorhabens schützen22. In der Praxis sind insoweit vor allem die Abstandsflächen, der Gebietserhaltungsanspruch und das Rücksichtnahmegebot (§ 15 BauNVO) im Zusammenhang mit unzumutbaren Immissionen von Bedeutung. Der Nachbarbegriff erstreckt sich in erster Linie auf die Eigentümer „benachbarter Grundstücke” (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BayBO). Benachbart in diesem Sinn sind alle Grundstücke, die durch das Vorhaben in ihren öffentlich-rechtlich geschützten Belangen berührt werden können, also je nach Lage des Einzelfalls nicht nur die unmittelbar angrenzenden Grundstücke. Entscheidend sind Art und Lage des Vorhabens sowie dessen Auswirkungen. Hier ist das Almgrundstück nach dem Sachverhalt zu weit vom Grundstück des Gemeindebürgers entfernt, als dass mit negativen Auswirkungen zu rechnen wäre. Der Gemeindebürger ist also nicht klagebefugt.
IV. Zuständiges Gericht, form- und fristgerechte Klageerhebung
Laut Sachverhalt gegeben.
V. Beteiligten- und Prozessfähigkeit
Der Umweltverband ist als juristische Person gemäß § 61 Nr. 1 Alt. 2 VwGO i. V. m. § 21 BGB beteiligtenfähig. Er ist nicht prozessfähig und muss daher nach § 62 Abs. 3 VwGO durch seinen Vorstand (§ 26 Abs. 1 Satz 2 BGB) vertreten werden. Die Gemeinde ist als juristische Person nach § 61 Nr. 1 Alt. 2 VwGO parteifähig. Sie ist nicht prozessfähig, wird aber gemäß § 62 Abs. 3 VwGO durch den Ersten Bürgermeister (Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GO) vertreten.
Der Freistaat Bayern als Rechtsträger des staatlichen Landratsamtes als Bauaufsichtsbehörde ist als juristische Person nach § 61 Nr. 1 Alt. 2 VwGO parteifähig. Er ist nicht prozessfähig, wird aber gemäß § 62 Abs. 3 VwGO, Art. 13 AGVwGO, § 3 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 LABV durch die Ausgangsbehörde (hier das Landratsamt) vertreten.
VI. Zwischenergebnis:
Die Sachentscheidungsvoraussetzungen liegen vor.
[…]
Entnommen aus den Bayerischen Verwaltungsblätter 20/2024, S. 689.