Grundrechte und UN-Behindertenrechtskonvention
… als anspruchsbegründende Rechtspositionen im Rahmen der Pflege
Grundrechte und UN-Behindertenrechtskonvention
… als anspruchsbegründende Rechtspositionen im Rahmen der Pflege
Im nachfolgenden Aufsatz wird die Bedeutung der o. g. Grundrechte des Grundgesetzes und der einfachgesetzlichen UN-Behindertenrechtskonvention herausgestellt. Anhand einer erstinstanzlichen Gerichtsentscheidung des Sozialgerichts Freiburg wird die Wirkungsweise bei der Geltendmachung auch hoher Pflegekosten, hier gegenüber dem Sozialamt, deutlich gemacht. Die geschilderten Zusammenhänge sind verallgemeinerungsfähig und haben damit allgemeine Bedeutung insbesondere im Bereich der Pflege.
I. Zur rechtlichen Einordnung der Fragestellung
Zu Beginn der Behandlung schließen das Krankenhaus und Heimträger und der Patient einen Vertrag, dieser wird als Behandlungsvertrag bezeichnet. Nach deutschem Recht gibt es kein eigenständiges Vertragsinstitut. Der Behandlungsvertrag wird nach den allgemeinen Regeln des Zivilrechts beurteilt. Der Behandlungsvertrag ist ein Unterfall eines allgemeinen Dienstvertrages, der in den §§ 611 ff BGB geregelt ist. Diese Einordnung ist entscheidend, denn bei einem Dienstvertrag wird, anders als bei einem Werkvertrag, kein Erfolg geschuldet. Darunter fallen selbständige oder nichtselbständige; abhängige, eigenbestimmte oder fremdbestimmte Dienstleistungen1Handkommentar Bürgerliches Gesetzbuch/Ebert, § 611, Rdnr. 1..
Als Behandlungsvertrag wird der Vertrag bezeichnet, der direkt mit dem Arzt und dem Patienten geschlossen wird und auf medizinische Behandlung gerichtet ist. Hier unter fallen die normalen Hausarztverträge oder Verträge im sonstigen ambulanten Bereich. Bei einem so genannten „totalen Krankenhausaufnahmevertrag“ begibt sich der Patient in stationäre Behandlung. Die Ärzte sind in diesem Fall Angestellte des Krankenhauses. Vertragspartner sind in diesem Fall der Patient und das Krankenhaus. Vertragliche Ansprüche sind gegen das Krankenhaus gerichtet, das dann eventuell für Fehlverhalten der Ärzte oder des Pflegepersonals haftet. Von einem „gespaltenen Krankenhausaufnahmevertrag“ spricht man, wenn ein Vertrag mit dem Krankenhaus und darüber hinaus ein Vertrag mit einem speziellen Arzt geschlossen wurde.
Dies ist regelmäßig bei Belegkrankenhäusern der Fall, in denen der behandelnde Arzt nicht vom Krankenhaus angestellt ist. Ansprüche aus einer fehlerhaften Behandlung sind gegenüber dem Arzt geltend zu machen. Das Krankenhaus haftet hingegen nur für schlechte Unterkunft und Versorgung, sowie für Fehler des eigenen Personals. Bei der aufgeworfenen Fragestellung handelt es sich, wie hier bereits ersichtlich wird, um eine zivilrechtliche. Ebenso gilt dies für den Heimvertrag. Damit geraten die Vorschriften des allgemeinen Schuldrechts in den Mittelpunkt, hier insbesondere die des § 241 Abs. 2 BGB. Gemäß § 241 Abs. 2 BGB gilt, dass das Schuldverhältnis nach seinem Inhalt jeden Teil zur Rücksicht auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils verpflichtet. Das bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die Erbringung der vertraglichen Leistung durch das Krankenhaus so erfolgen muss, dass auf die Rechte des Patienten Rücksicht genommen wird. Was aber bedeutet dies konkret für den Behandlungs- und Pflegevertrag im Krankenhaus oder in der Pflege allgemein und die in diesem Zusammenhang aufgeworfenen Fragestellung nach der Zulässigkeit fixierender Maßnahmen bei bestehender Demenz und daraus resultierendem Beobachtungsbedarf?
Die Bestimmungen des deutschen Rechts sind hierarchisch aufgebaut. Das Grundgesetz, mithin die deutsche Verfassung steht der Rangordnung nach über den einfachen Gesetzen, wie jenen des Schuldrechts und anderer Rechtsgebiete. Aber dies beschränkt sich nicht auf eine so genannte hierarchische Anordnung, vielmehr strahlen die Artikel des Grundgesetzes ein bei der Interpretation der Vorschriften der einfachen Gesetze, wie eben des Bürgerlichen Gesetzbuches und anderer Rechtsgebiete. Wenn also die Regelung des § 241 Abs. 2 BGB zur Rücksicht auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils verpflichtet, so kommen die Grundrechte des Patienten, also die grundlegenden Rechte dieses Personenkreises zur Geltung2Boecken, Winfried, Zur Frage eines Anspruchs von Pflegebedürftigen auf gleichgeschlechtliche Pflege, SGb 2008, 698 ff.. Hier sind die Bestimmungen der Art. 1 Abs. 1 GG mit der Garantie der Achtung der Menschenwürde, Art. 2 Abs. 1 GG mit der Garantie der Handlungsfreiheit, Art. 2 Abs. 2 GG mit der Garantie der körperlichen Unversehrtheit und der Bewegungsfreiheit einschlägig und damit beachtlich.
Dies bedeutet „unterm Strich“, dass das Gebot der Berücksichtigung der soeben benannten Grundrechte der Patienten unter den geltenden Bestimmungen des Grundgesetzes dazu führt, dass die Fixierung eines Patienten im Krankenhaus während eines Aufenthaltes zur Durchführung von Krankenhausbehandlung im Sinne des Rechtsanspruchs nach § 39 SGB V ohne richterliche Anordnung und ohne Einwilligung des Patienten nicht zulässig und damit illegal ist, sofern nicht eine Notwehr- oder Nothilfesituation gegeben ist. Dies setzt dann jeweils voraus, dass entweder das Personal selbst durch eine aggressive, demente Person gefährdet ist oder etwa andere Patienten oder auch die Einrichtung der Station. Diese Sichtweise hat sich nunmehr auch in der Rechtsprechung durchgesetzt, wie die nachfolgend dargestellte Entscheidung des Sozialgerichts Freiburg aus dem Bereich der Pflege bestätigt, welche zwischenzeitlich durch die Berufungsinstanz, das Landessozialgericht Baden- Württemberg, bestätigt wurde:
II. Der Beschluss des SG Freiburg vom
15.12.20113Az.: S 9 SO 5771/11 ER, unveröffentlicht, bestätigt durch LSG Baden-Württemberg, L 2 SO 72/12 ER-B (unv.). zu den Kosten einer „Nachtwache“ Redaktionelle Leitsätze des Verfassers Sowohl die Regelungen des § 61 Abs. 1 Satz 2 Alt. 3 SGB XII als auch die der §§ 90 ff. SGB IX können Rechtsgrundlage für die Übernahme der Kosten einer Nachtwache bei selbstgefährdendem Verhalten sein. Die allnächtliche Fixierung eines Pflegebedürftigen stellt einen so gravierenden Eingriff in seine Grundrechte dar, dass diesem nicht zugemutet werden kann, ihn bis zur bestandskräftigen Entscheidung über seinen Antrag auf Leistungen für eine Nacht – wache hinzunehmen.
Dem kann nicht mit Erfolg entgegenhalten werden, dass für den Pflegebedürftigen zu diesem Zeitpunkt keine finanziellen Nachteile bestehen, denn der Grundrechtseingriff ist seinerseits nicht ökonomischer Natur und seiner Art nach nicht revidierbar. Allnächtliche Fixierungen stellen einen Eingriff in die durch Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 und 2 des Grundgesetzes garantierten Grundrechte dar, welcher durch die Übernahme der Leistungen für eine Nachtwache vollständig vermieden werden kann.
Was war passiert?
… Die Antragstellerin, geboren am X., leidet unter multiplen psychiatrischen, neurologischen und internistischen Erkrankungen. Sie steht in erheblichem Umfang (u. a. bezüglich Vermögenssorge, Aufenthaltsbestimmung, Gesundheitsfürsorge und Heilbehandlung) unter rechtlicher Betreuung, ist pflegebedürftig (Pflegestufe II) und lebt im Altenpflegeheim „X“ in L. Die insoweit ungedeckten Kosten trägt der Antragsgegner im Rahmen der Hilfe zur Pflege nach dem Zwölften Buch des Sozialgesetzbuches (SGB XII). Die Antragstellerin bezieht Einkommen in Form von Altersrente und Wohngeld. Aufgrund der psychischen Erkrankung treten bei der Antragstellerin Verhaltensauffälligkeiten auf (u. a. unkontrolliertes Urinieren/Verkoten des ganzen Zimmers und des eigenen Körpers, dadurch Rutsch-, Sturz- und Verletzungsgefahr sowie erhöhtes Infektionsrisiko; fehlende Risikoeinschätzung im Bereich der Mobilität, dadurch ebenfalls erhöhte Verletzungsgefahr; unkontrolliertes Verschlucken mit Aspirations- bzw. Erstickungsgefahr, vgl. Krankenanamnese der Pflegedienstleitung vom 19.5.2011; Bericht der Assistenzärztin W, Zentrum für Psychiatrie E, Klinik für Geronto- und Neuropsychiatrie, vom 4.5.2011), die laut Angaben des Pflegeheimes bei grundsätzlich guter Lenkbarkeit der Antragstellerin tagsüber durch das Personal einigermaßen aufgefangen werden können, nachts jedoch nur durch eine 1:1-Betreuung mit dauernder Anwesenheit einer Pflegeperson in ihrem Zimmer vermieden bzw. kontrolliert werden könnten.
Im Hinblick darauf beantragte der Betreuer der Antragstellerin unter dem 28.5.2011 beim Antragsgegner die Erweiterung der Hilfeleistung durch Finanzierung einer nächtlichen 1:1-Betreuung in der Zeit von 19:00 Uhr bis 7:00 Uhr, alternativ durch das Pflegeheim oder externes Pflegepersonal. Zugleich erwirkte er beim Amtsgericht Titisee-Neustadt als Betreuungsgericht die Erlaubnis, freiheitsentziehende Maßnahmen in Form eines Bettgurtes bzw. eines Stuhlgurtes tagsüber zu gestatten (Beschluss vom 9.6.2011, Gesch.-Nr. XVII 103/04). Die Antragstellerin wird seither dem Vorbringen im Antragsschriftsatz zufolge jede Nacht mittels Bettgurt fixiert. Aussicht auf Besserung ihres Zustandes bestehen nicht. Nach Angaben des Pflegeheimes (vgl. As. 59) nimmt sie diesen Vorgang voll wahr, leidet erheblich darunter und bittet unter Weinen, hiervon abzusehen.
Der Antragsgegner lehnte den Antrag des Betreuers mit Bescheid vom 3.6.2011 mit der Begründung ab, Kosten für eine zusätzliche Betreuung seien bei der Hilfe zur Pflege nicht vorgesehen. Als Leistung der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen könne die beantragte Leistung nicht erbracht werden, da es sich bei dem Pflegeheim nicht um eine Einrichtung der Eingliederungshilfe handele. Gegen diesen Bescheid erhob der Betreuer mit Schreiben vom 13.6.2011 Widerspruch, den der Bevollmächtigte mit Schreiben vom 30.8.2011 und 23.9.2011 (auf die wegen der Einzelheiten verwiesen wird) begründete.
Anmerkung:
Hier kommt die verallgemeinerbare Ansicht der beiden Gerichtsinstanzen zum Ausdruck, wonach dem „nur“ natürlichen Willen einer ansonsten geschäftsunfähigen Patientin unbedingte Beachtung zu schenken ist. Dies im Sinne von Rechtsverbindlichkeit im Rahmen der Durchführung einer Krankenhausbehandlung. Daran ändert auch der hier den baden-württembergischen Entscheidungen zugrundeliegende Rahmen der rechtlichen Prüfung nichts. Wie nachzulesen ist, wurde das Sozialamt Freiburg zur Übernahme von Mehrkosten verurteilt, die bei einer Patientin während der Heimpflege entstanden und im Rahmen der Hilfe zur Pflege oder der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen finanziert werden mussten, weil die Pflegebedürftige selbst die Kosten ihrer Pflege nicht bezahlen konnte. Entscheidend in diesen Zusammenhängen ist die unbedingte Beachtlichkeit entgegenstehenden, geäußerten Patientenwillens. Diese in der Berufungsinstanz4LSG Baden-Württemberg, L 2 SO 72/12 ER-B. bestätigte Rechtsprechung hat hohe Wogen bei den Sozialämtern in ganz Deutschland geschlagen.
III. Die Bedeutung der UN-Behindertenrechtskonvention in diesem Zusammenhang
Soeben Dargestelltes gilt auch für die als innerstaatliches deutsches Recht anerkannten Rechte der UNBehindertenrechtskonvention5Aichele, Die UN-Behindertenrechtskonvention in der gerichtlichen Praxis, AnwBl 2011, 727 ff., 729.. Die Klägerin ist ohne Zweifel behindert im Sinne der Konvention6Vgl. Art. 1 Satz 2 der Konvention.. Die UNBehindertenrechtskonvention7Bundesgesetzblatt Jahrgang 2008 Teil II Nr. 35, ausgegeben zu Bonn am 31.12.2008. enthält folgende in diesem Zusammenhang bedeutsamen, weil einschlägigen, Rechtsgarantien für behinderte Menschen:
Artikel 10 Recht auf Leben
Die Vertragsstaaten bekräftigen, dass jeder Mensch ein angeborenes Recht auf Leben hat, und treffen alle erforderlichen Maßnahmen, um den wirksamen und gleichberechtigten Genuss dieses Rechts durch Menschen mit Behinderungen zu gewährleisten.
Artikel 14 Freiheit und Sicherheit der Person
(1) Die Vertragsstaaten gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen a) gleichberechtigt mit anderen das Recht auf persönliche Freiheit und Sicherheit genießen; b) dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen die Freiheit nicht rechtswidrig oder willkürlich entzogen wird, dass jede Freiheitsentziehung im Einklang mit dem Gesetz erfolgt und dass das Vorliegen einer Behinderung in keinem Fall eine Freiheitsentziehung rechtfertigt.
Artikel 17 Schutz der Unversehrtheit der Person
Jeder Mensch mit Behinderungen hat gleichberechtigt mit anderen das Recht auf Achtung seiner körperlichen und seelischen Unversehrtheit. In diesen Zusammenhang gestellt gehört auch Art. 25 UN-BRK mit dem dort gewährleisteten „Recht von Menschen mit Behinderungen auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit“. Pflegebedürftige Menschen haben demnach als eben auch behinderte Menschen einen Anspruch auf „gute Pflege“8Schulte, Die UN-Behindertenrechtskonvention, Teil II, Zesar 2012, S. 112 ff., 114.. Welti folgert, dass überall dort, wo die BRK ein Recht unter Bezug auf das Diskriminierungsverbot formuliert – so auch beim Recht auf Gesundheit (Art. 25 BRK) – unmittelbare Rechte der deutschen Bürgerinnen und Bürger bestehen9Das Diskriminierungsverbot und die „angemessenen Vorkehrungen“ in der BRK – Stellenwert für die staatliche Verpflichtung zur Umsetzung der in der BRK geregelten Rechte, RdLH 2012, S. 1 ff., S. 2..
Die Berücksichtigung der Pflege innerhalb des auf Gesundheit gerichteten Artikels 25 UN-BRK ist daher bemerkenswert, weil Pflegebedürftigkeit als Lebenssituation sonst nicht Gegenstand dieser Konvention ist10Schulte, soeben.. Es soll sich hierbei um ein so genanntes „Annex-Risiko“ zum Risiko Krankheit handeln.
[…]
VII. Zusammenfassung
Die genannten Bestimmungen der UN-Behindertenrechtskonvention führen danach in dieser Hinsicht zu einer Stattgabe hinsichtlich der beantragten einstweiligen Anordnung. Das SG Freiburg begründet die Bejahung des Anordnungsgrundes, mithin der Eilbedürftigkeit einer Regelung unter Bezugnahme auf die dort genannten, in Gefahr befindlichen, durch die Grundrechte geschützten Rechtsgüter. Die Bestimmungen der Behindertenrechtskonvention, wie oben dargestellt, enthalten demgegenüber in diesem Kontext deutlichere „Anweisungen“ für staatliche Stellen, soweit dies den Umgang mit der geschilderten, hier eben einschlägigen Lebenssituation angeht. Auf diese Rechte behinderter Pflegebedürftiger darf hier somit zurückgegriffen werden, um einen Anordnungsgrund im Sinne der Eilbedürftigkeit zu bejahen.
Den vollständigen Beitrag lesen Sie in Zeitschrift für das Fürsorgewesen 10/2024, S. 228.
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- 1Handkommentar Bürgerliches Gesetzbuch/Ebert, § 611, Rdnr. 1.
- 2Boecken, Winfried, Zur Frage eines Anspruchs von Pflegebedürftigen auf gleichgeschlechtliche Pflege, SGb 2008, 698 ff.
- 3Az.: S 9 SO 5771/11 ER, unveröffentlicht, bestätigt durch LSG Baden-Württemberg, L 2 SO 72/12 ER-B (unv.).
- 4LSG Baden-Württemberg, L 2 SO 72/12 ER-B.
- 5Aichele, Die UN-Behindertenrechtskonvention in der gerichtlichen Praxis, AnwBl 2011, 727 ff., 729.
- 6Vgl. Art. 1 Satz 2 der Konvention.
- 7Bundesgesetzblatt Jahrgang 2008 Teil II Nr. 35, ausgegeben zu Bonn am 31.12.2008.
- 8Schulte, Die UN-Behindertenrechtskonvention, Teil II, Zesar 2012, S. 112 ff., 114.
- 9Das Diskriminierungsverbot und die „angemessenen Vorkehrungen“ in der BRK – Stellenwert für die staatliche Verpflichtung zur Umsetzung der in der BRK geregelten Rechte, RdLH 2012, S. 1 ff., S. 2.
- 10Schulte, soeben.