30.09.2019

„Sustainabilty as Key to Human Survival“

Was ist Nachhaltigkeitsrecht?

„Sustainabilty as Key to Human Survival“

Was ist Nachhaltigkeitsrecht?

Das Artensterben ist Teil der ökologischen Herausforderungen im „Drei-Säulen-Konzept“. | © marina_foteeva - stock.adobe.com
Das Artensterben ist Teil der ökologischen Herausforderungen im „Drei-Säulen-Konzept“. | © marina_foteeva - stock.adobe.com

Nachhaltigkeitsrecht ist ein vergleichsweise neues Rechtsgebiet. Es ist Teil einer globalen interdisziplinären Nachhaltigkeitswissenschaft, an der sich zahlreiche Fächer, etwa auch die Politik- oder Wirtschaftswissenschaften, beteiligen. Was Nachhaltigkeitsrecht genau bedeutet und warum dabei das Bienensterben, die Staatsverschuldung und die Renten politik gleichermaßen relevante Themen sind, will der folgende Beitrag verdeutlichen.

Begriffsbestimmung

Nachhaltigkeit ist heute nicht nur eine politische Leitidee und ein Begriff der Alltags- und Werbesprache, sondern in vielen Rechtsordnungen und auf zahlreichen Ebenen des Rechts auch ein verbindliches Rechtsprinzip. Dies gilt besonders für Europa, wo sich die Idee der Nachhaltigkeit anschickt, zu einem „gemeineuropäischen“ Verfassungsbegriff und -prinzip zu werden. Aber auch global gilt „sustainability“ (bzw. „sustainable development“) seit der Rio-Konferenz der Vereinten Nationen (1992) als „the key to human survival“.

Der Begriff wird dabei in den verschiedenen Fächern zum Teil unterschiedlich verstanden und ist insgesamt eher schwer greifbar, nach Meinung von Kritikern sogar ein „Begriffs-Chamäleon“ oder eine „leere Worthülse“. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, ist diese Kritik jedoch weitgehend unberechtigt. Bei näherem Zusehen erweist sich auch der Nachhaltigkeitsbegriff als nicht minder konkretisierungsfähig als andere „Großformeln“ des Rechts (z. B. Demokratie, Rechtsstaat, Sozialstaat, Verhältnismäßigkeit).


Managementregeln für Naturkapital

Am präzisesten und damit am eingängigsten ist das Nachhaltigkeitsprinzip im engen Sinne verstanden als dauerhafte Bewirtschaftung der natürlichen Lebensgrundlagen gemäß bestimmten anerkannten Managementregeln:

  • Erneuerbare Ressourcen dürfen nicht schneller verbraucht werden, als dass sie sich regenerieren können,
  • nicht erneuerbare Ressourcen dürfen nicht schneller verbraucht werden, als dass ein gleichwertiger Ersatz an regenerierbaren Ressourcen geschaffen werden kann und
  • Schadstoffemissionen dürfen die Aufnahmekapazität der Ökosysteme nicht übersteigen.

Diese Regeln sind intuitiv einleuchtend und beruhen zudem auf einer langen Tradition: Schon in der preußischen Forstwirtschaft des frühen 18. Jahrhunderts galt die Maxime, dass nur von den Zinsen, nicht aber vom Kapital gelebt werden solle, sprich: nicht mehr Bäume abgeholzt werden dürfen, als wieder nachwachsen können.

Mit Blick auf die Gegenwart scheitert die Staatengemeinschaft jedoch bislang kläglich an der Umsetzung dieser bestechend einfachen Grundidee der Bewirtschaftung knapper Ressourcen: Im Jahr 2018 nutzten wir unsere Ressourcen so, als hätten wir 1,7 Erden zur Verfügung. Schon am 1. August waren so viele Ressourcen verbraucht, wie in einem Jahr generiert werden können (sog. Overshoot Day).

Drei-Säulen-Konzept: Umwelt, Wirtschaft, Soziales

Grundlegend für das heutige Verständnis der Nachhaltigkeit ist der sog. Brundtland-Bericht von 1987. Er definiert nachhaltige Entwicklung als eine Entwicklung, die „die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass zukünftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können.“ Im Anschluss daran wird Nachhaltigkeit bis heute in Politik und Recht überwiegend in einem weiteren, dreidimensionalintegrativen Sinne verstanden (sog. Drei-Säulen-Konzept). Danach geht es um einen angemessenen Ausgleich zwischen ökologischen, ökonomischen und sozialen Belangen, die grundsätzlich gleichrangig sind und daher im Einzelfall gegeneinander abgewogen werden müssen.

Ein Beispiel: Im ostafrikanischen Viktoria-See setzten englische Kolonialherren in den 1950er Jahren den Nilbarsch aus. Statt als zusätzliche Nahrungsquelle zu dienen, löschte der Raubfisch, der keine natürlichen Fressfeinde hatte, hunderte einheimische Fischarten aus. Da kaum algenfressende Arten blieben, sank die Sauerstoffkonzentration und stieg die Verschmutzung des Sees. Die Bewohner der anliegenden Städte, die vom Fischfang lebten, konnten den Nilbarsch nicht verarbeiten, weil er geräuchert statt wie die einheimischen Arten sonnengetrocknet wurde. Dies führte zu Hungersnot und Armut, aber auch zur Rodung der anliegenden Wälder für Brennholz. Aufgrund der Armut stieg wiederum die Zahl der Drogen- und Alkoholsüchtigen. Heute prostituieren sich Frauen, damit große Firmen ihnen den illegal gefangenen Fisch abkaufen. Die HIV-Prävalenz rund um den See liegt bei 22 % (zum Vergleich: im Umland zwischen 4–6 %). Dieses Beispiel belegt die Schlüsselrolle, die gerade einer dauerhaften Erhaltung der natürlichen Ressourcen zukommt. Ohne den Viktoria-See mit seinen Fischen gäbe es weder wirtschaftliche Aktivität noch menschliche Siedlungen in dieser Zone. Den vitalen Voraussetzungen menschlichen Lebens in Gestalt der für die ökologische und soziale Existenz basalen Umweltgüter (Klima, Trinkwasservorräte, Böden) sowie der sog. global commons (Tropenwälder, Weltmeere, Biodiversität, etc.) kommt daher bei der Abwägung mit kollidierenden Gütern ein gewisser (relativer, nicht absoluter) Vorrang zu.

Generationengerechtigkeit und globale Interdependenz

Die in der Nachhaltigkeit zum Ausdruck kommenden Prinzipien der Generationengerechtigkeit und der globalen Interdependenz haben eine doppelte Stoßrichtung: Sie beziehen sich sowohl auf die gleichmäßige Ressourcenverteilung in der heute in verschiedenen (reichen und armen) Staaten lebenden Generation (intragenerationell) als auch zwischen den heutigen und den künftigen Generationen (intergenerationell).

Auch hierzu ein Beispiel: Der Amazonas produziert Sauerstoff, den die ganze Welt atmet. Brasilien verbraucht nur ca. ein Drittel der Ressourcen, die es generiert, und schafft dadurch eine Reserve, die dem gesamten Planeten zugutekommt. Diese sog. Ökodienstleistung wird nicht entlohnt. Brasilien muss für Instandhaltung und Schutzmaßnahmen selbst aufkommen; vor allem aber verzichtet das wirtschaftlich geschwächte Land auf einen großen Teil seiner Fläche, die für Siedlungen und Industrie genutzt werden könnte. Es ist bei kurzsichtiger wirtschaftlicher Betrachtung daher nicht überraschend, dass der neue brasilianische Staatspräsident Bolsonaro den Schutz dieser Gebiete teilweise aufheben will, um Nutzung für Landwirtschaft und Bergwerke zu ermöglichen.

Unter langfristigen, globalen ökologischen Gesichtspunkten ist dies jedoch in höchstem Maße bedenklich. Intergenerationell gesehen darf der Regenwald als Lebensgrundlage für zukünftige Generationen nicht abgeholzt werden, intragenerationell müssen „ökologische Nehmerländer“ für die Ökodienstleistungen der „Geberländer“ aufkommen. Schließlich verdankt Europa seinen eigenen Wohlstand u. a. der Rodung von Wäldern, die der Industrialisierung weichen mussten. Anderen Staaten sollten diese Entwicklungsmöglichkeiten nicht genommen werden.

Darin steckt der Grundsatz der gemeinsamen, aber verschiedenen Verantwortung: Industrienationen, die global betrachtet eine weit überdurchschnittliche Verantwortung für den Klimawandel tragen, müssen gegenüber Entwicklungsländern auch überproportional (finanziell) verpflichtet werden. Sie müssen im Übrigen auch ihre eigenen Lebens- und Konsumgewohnheiten kritisch hinterfragen und sich diesbezügliche Verzichts- bzw. Suffizienzforderungen der Entwicklungs- und Schwellenländer gefallen lassen, eignen sich die Gewohnheiten des „reichen Nordens“ doch kaum als Muster im globalen Maßstab.

Nachhaltigkeit im Mehrebenensystem

Nachhaltigkeitsbelange machen nicht an Staatsgrenzen Halt. Daher entwickelte sich das Nachhaltigkeitsrecht zunächst vor allem auf Ebene des Völkerrechts. Der Brundtland-Bericht war Auslöser für eine Reihe von UN-Konferenzen, beginnend mit der Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro 1992. In mehreren völkerrechtlichen Dokumenten, insb. der Rio-Deklaration und der konkretisierenden Agenda 21, sowie auf Nachfolgekonferenzen wurde nachhaltige Entwicklung zum Schlüsselbegriff erhoben. Das aktuellste Dokument zur Nachhaltigkeit ist die Agenda 2030. Sie formuliert 17 Ziele (Sustainable Development Goals, SDGs) aus allen drei Säulen der Nachhaltigkeit, u. a. eine Welt ohne Hunger, Wirtschaftswachstum und Klimaschutz.

Auf EU-Ebene ist das Nachhaltigkeitsprinzip in Art. 3 Abs. 3 Satz 2, Abs. 5 S. 2 EUV, Art. 11 AEUV und Art. 37 Grundrechte-Charta als bindender Rechtsgrundsatz verankert. Zentral für dessen Umsetzung ist das gleichfalls in Art. 11 AEUV normierte Integrationsprinzip, nach dem sich alle Unionspolitiken am Nachhaltigkeitsgrundsatz ausrichten müssen. Nachhaltigkeit und Umweltschutz gewinnen in der ursprünglich einseitig, wirtschaftlich ausgerichteten Union zunehmend an Bedeutung. Das 7. Umweltaktionsprogramm der EU (2013–2020) dient – zusammen mit zahlreichen Richtlinien und Verordnungen der EU, aber auch völkerrechtlichen Verträgen (z. B. Aarhus-Konvention von 1998, Pariser Klimaschutzabkommen von 2015), die die EU mitunterzeichnet hat – der schrittweisen Konkretisierung des Grundsatzes.

Im deutschen Grundgesetz kommt die Nachhaltigkeit nicht ausdrücklich vor. Das 1994 eingefügte Staatsziel Umweltschutz (Art. 20a GG) enthält jedoch zumindest die ökologische Dimension und nimmt die Generationengerechtigkeit auf. Auch wenn Art. 20a GG keine konkreten Ziele und Maßnahmen vorgibt, so muss der Staat doch ein Mindestmaß an Umweltschutz gewähren (Kerngehaltsschutz) und eine Umweltpolitik so gut wie rechtlich und faktisch möglich umsetzen (Optimierungsgebot). Auf einfachgesetzlicher Ebene findet sich der Nachhaltigkeitsgedanke z. B. in § 1 Abs. 5 Satz 1 BauGB, nach dem Bauleitpläne in Verantwortung gegenüber künftigen Generationen einen Ausgleich zwischen „sozialen, wirtschaftlichen und umweltschützenden Anforderungen“ schaffen sollen.

Bienensterben, Staatsverschuldung, Rentenpolitik

Nachhaltigkeitsrecht ist somit die Summe der Rechtsvorschriften auf allen Ebenen (Völker-, Europa-, Verfassungs-, Gesetzes- und Richterrecht), welches formal auf langfristige staatliche Entscheidungen zielt und materiell die Bewirkung von Nachhaltigkeit im Sinne des oben erwähnten Drei-Säulen-Konzepts insbesondere im Interesse der künftigen Generationen (Generationengerechtigkeit) zum Gegenstand hat.

Die ökologische Säule haben wir bereits ausführlich betrachtet. Klimaschutz, fortschreitende Bodenversiegelung oder Artensterben lauten hier einige (bei Weitem nicht abschließende) besonders drängende Herausforderungen. So ist es etwa, um ein aktuell in Deutschland besonders „emotional“ diskutiertes, aber auch objektiv sehr wichtiges Beispiel für bedrohte Artenvielfalt herauszugreifen, in den letzten Jahren zu einem auf verschiedene Ursachen (z. B. Landwirtschaft, Klimawandel) zurückzuführenden dramatischen Bienensterben gekommen, das sich darin ausdrückt, dass die Zahl der Bienenstöcke in Deutschland seit 1961 von 2 auf 0,7 Mio. gesunken ist.

Auf der ökonomischen Seite erweist sich die zwischen 1950 und 2012 von knapp 10 auf 2.068 Mrd. Euro gestiegene Staatsverschuldung als ein erheblicher Missstand, weil auf diese Weise Probleme von heute künftigen Generationen als schwere Last aufgebürdet werden, ohne dass die künftigen Generationen an diesen Entscheidungen mitwirken konnten und ohne dass sie in jedem Fall auch selbst in den Genuss der Vorteile der staatsschuldenfinanzierten Maßnahmen kommen. Zukünftigen Generationen werden damit eigene Entfaltungschancen und Entscheidungsfreiheit geraubt, zugleich wird der demokratische Gestaltungsspielraum des zukünftigen Gesetzgebers reduziert.

Die 2009 in das Grundgesetz aufgenommene Schuldenbremse (Art. 109 Abs. 3, Art. 115 Abs. 2 GG) ist daher auch eine – zu begrüßende – kodifizierte Ausprägung der ökonomischfinanziellen Nachhaltigkeit, die diesem unverantwortlichen staatlichen Finanzgebaren entgegenwirken soll. Sie hat ihre Wirkungen bislang nicht verfehlt: Seit 2012 gelingt nunmehr der Deutschen Bundesregierung ein zumindest schuldenfreier Haushalt („Schwarze Null“), auch wenn, gerade in konjunkturell starken Zeiten mit sprudelnden Steuereinnahmen, noch immer nicht genug im Bereich der Schuldentilgung getan wird.

Nicht zuletzt der demografische Wandel ist der Grund für zahlreiche Probleme auch im Bereich der sozialen Säule der Nachhaltigkeit. Zukünftige Generationen müssen mit ihren Beiträgen und Steuern etwa teure Sozialprogramme („Geschenke“ der Politik) zugunsten von Rentnern schultern. Um mehr Generationengerechtigkeit zu schaffen, wird etwa darüber diskutiert, ob die Renten- und Pflegebeiträge zukünftig noch stärker als bislang danach gestaffelt werden sollten, ob jemand Kinder erzogen hat oder nicht.

Institutionelle Reformperspektiven

Nachhaltigkeit ist zukunftsgerichtet. Ihr Bezugsrahmen ist zeitlich unbegrenzt, woraus folgt, dass langfristige und irreversible Entscheidungen vom Gesetzgeber mit besonderer Sorgfalt und unter Berücksichtigung ihrer präjudiziellen Wirkungen getroffen werden müssen. Hier stellen sich mindestens zwei Probleme: Zum einen sind die möglichen Folgen, insbesondere Gefahren und Risiken bestimmter Entscheidungen, vor allem neuer Technologien, nicht hinreichend bekannt. Zum anderen ist die Politik aufgrund des dominanten (Wieder-) Wahlinteresses der Politiker geneigt, eher in kurzen Zeiträumen (Legislaturperiode) zu denken und populäre Lösungen, die in einseitige Befriedigung von Partikularinteressen (z. B. Rentner) umschlagen können, über die Bedürfnisse zukünftiger Generationen zu stellen.

Viele aktuelle Nachhaltigkeitsprobleme sind Folgen dieser strukturellen „Zukunftsvergessenheit“ der parlamentarischen Demokratie gegenwärtigen Zuschnitts in Deutschland. Um dem entgegenzuwirken kann etwa über die Einrichtung neuer Institutionen wie eines Nachhaltigkeitsrats (unabhängiges, pluralistisch besetztes Expertengremium) mit Beratungs- und Vetobefugnissen bei der Gesetzgebung nachgedacht werden. Zudem muss Nachhaltigkeit aber auch und gerade „von unten“ kommen, sprich von der Zivilgesellschaft. Deren Stärkung durch Informations- und Partizipationsrechte (direkte Demokratie, Öffentlichkeitsbeteiligung) sowie Rechtsschutzinstrumente des Einzelnen und der Verbände ist daher eine zentrale Nachhaltigkeitsforderung.

Die Aarhus-Konvention und deren Umsetzung in deutsches Recht weisen hier die Richtung, der es weiter zu folgen gilt. Schließlich bedarf es – wie aktuelle Negativbespiele (USA) unterstreichen – der internationalen Kooperation der Staatengemeinschaft, um möglichst „harte“, vollzugsfähige und kontrollierbare Regeln für eine generationengerechte Welt, etwa für einen effektiveren Schutz des Weltklimas, zu schaffen. Dies alles unterstreicht: Nachhaltigkeitsrecht ist in der Tat „the key to human survival“.

Hinweis der Redaktion: Der Beitrag entstammt der aktuellen Ausgabe »Der Wirtschaftsführer für junge Juristen«.

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Prof. Dr. Wolfgang Kahl, M.A.

Forschungsstelle für Nachhaltigkeitsrecht, Universität Heidelberg
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