Sind Dobrindts Zurückweisungen rechtmäßig?
Zur Vereinbarkeit aktueller Maßnahmen mit dem EU-Recht und dem Grundgesetz
Sind Dobrindts Zurückweisungen rechtmäßig?
Zur Vereinbarkeit aktueller Maßnahmen mit dem EU-Recht und dem Grundgesetz

Wie Grenzschließungen, Grenzkontrollen und Zurückweisungen an der Grenze zur Bekämpfung der irregulären Migration rechtlich zu beurteilen sind.
Mit dem Koalitionsvertrag für die 21. Legislaturperiode1https://www.koalitionsvertrag2025.de/sites/www.koalitionsvertrag2025.de/files/koav_2025.pdf haben sich CDU, CSU und SPD zur Begrenzung der irregulären Migration darauf geeinigt, dass Zurückweisung an den deutschen Staatsgrenzen erfolgen sollen. „Wir werden in Abstimmung mit unseren europäischen Nachbarn Zurückweisungen an den gemeinsamen Grenzen auch bei Asylgesuchen vornehmen. Wir wollen alle rechtsstaatlichen Maßnahmen ergreifen, um die irreguläre Migration zu reduzieren. Die Grenzkontrollen zu allen deutschen Grenzen sind fortzusetzen bis zu einem funktionierenden Außengrenzschutz und der Erfüllung der bestehenden Dublin- und GEAS-Regelungen durch die Mitgliedstaaten der Europäischen Union“.2Zeilen 2986 bis 2993 des Koalitionsvertrages
Am 6. Mai 2025 begann mit der Wahl des Bundeskanzlers und der Ernennung der Minister die Amtszeit der 21. Legislaturperiode. Bereits am 7. Mai verfügte Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) gegenüber dem Bundespolizeipräsidenten per Weisung, dass auch Schutzsuchende an den Grenzen zurückgewiesen werden können und es wurden verstärkte Kontrollen eingeführt.3https://www.sueddeutsche.de/politik/neue-regierung-dobindt-grenzkontrollen-li.3248560
Es stellt sich die Frage, ob der Bundesinnenminister mit dieser Weisung gegen bestehendes Recht verstoßen hat.
Als Grenzschließungen werden oft umgangssprachlich die Einführung von stationären Grenzkontrollen beschrieben. Tatsächlich geht es bei den neu eingeführten Maßnahmen nicht um Grenzschließungen, da Ein- und Ausreisen auch weiterhin möglich sind.
Mit der Einführung der stationären Grenzkontrollen werden zwei Rechtsbereiche tangiert: Das Schengen-System mit der grundsätzlichen Reisefreiheit ohne Grenzkontrollen im Schengenraum und das Gemeinsame Europäischen Asylsystem (GEAS) mit dem Grundsatz der Nicht-Zurückweisung vor Schutzsuchenden und der Schaffung eines gemeinsamen Verfahrens zur Gewährung des Flüchtlingsschutzes und der Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates.4Artikel 3 Abs. 2 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) und Artikel 67 und Artikel 77 und Artikel 78 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV).
Schengen-Reiserechte
Gemäß den Regelungen des Schengener Grenzkodex (SGK)5Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen. und des Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ)6Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14.06.1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen vom 19. 06.1990, seit 01.05.1999 geändert durch mehrere EG-Verordnungen, zuletzt durch VO (EG) Nr. 610/2013 vom 26.06.2013 mit Wirkung v. 19.07.2013. sind Grenzkontrollen an den Binnengrenzen unzulässig (Art. 22 SGK). Nationale polizeiliche Kontrollen im Grenzraum sind zulässig, sie dürfen aber nicht den Charakter von Grenzkontrollen annehmen und müssen so konzipiert sein, dass sie sich eindeutig von den systematischen Personenkontrollen an den Außengrenzen unterscheiden (Art. 23 SGK). Besteht eine ernsthafte Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit in einem Mitgliedstaat, ist diesem unter außergewöhnlichen Umständen die Wiedereinführung von Kontrollen für höchstens 30 Tage und insgesamt längstens für 6 Monate gestattet. Die Kriterien für die vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen sind in Art. 26 SGK geregelt. Danach dürfen Kontrollen nur als letztes Mittel wieder eingeführt werden, wenn mit ihr der Bedrohungslage angemessen begegnet werden kann und die Verhältnismäßigkeit zwischen der Maßnahme und der Bedrohung gewahrt ist. Erwähnt werden Bedrohungen als Folge von terroristischen Zwischenfällen oder der organisierten Kriminalität.
Eine aktuelle Bedrohungssituation und das Erfordernis eines sofortigen Handelns (Art. 28 SGK) wurde vom Bundesinnenminister nicht geltend gemacht. Er beruft sich auf die schon lange bekannte Dysfunktionalität des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) und die mangelhaften Kontrollen an den Außengrenzen.
Die Einführung stationärer Grenzkontrollen verstößt damit gegen Unionsrecht und ist rechtswidrig.7So auch: Hruschka, Constantin: Dobrindts Rechtsbruch: Warum die aktuellen Kontrollen an den deutschen Binnengrenzen rechtswidrig sind, VerfBlog, 2025/5/15, https://verfassungsblog.de/zuruckweisung-grenze-kontrolle-dobrindt/, DOI: 10.59704/61c1f0229bfa0215. (vgl. EuGH, Urteil v. 26.04.2022, Rs. C-368/20, BayVGH, Urteil v. 18.03.2025, Az. 10 BV 23.700 (rechtskräftig), EuGH, Urteil v. 21.06.2017, Az. C-9/16 (Mobile Identitätskontrollen im Grenzgebiet unzulässig, wenn sie faktisch die gleiche Wirkung wie Grenzkontrollen haben).
Zurückweisungen an der Grenze
Gemäß § 15 AufenthG ist ein Ausländer an der Grenze zurückzuweisen, wenn er unerlaubt einreisen will (§ 15 AufenthG). Dies ist der Fall, wenn er u. a. keinen Pass oder erforderlichen Aufenthaltstitel hat (§ 14 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 AufenthG). Ein Ermessensspielraum besteht nicht.
Stellt der Ausländer ein Schutzgesuch (z.B. einen Asylantrag,) greifen die Regelungen des GEAS ein. Das deutsche Asylgesetz enthält zwar in § 18 Abs. 2 AsylG Regeln über die Zurückweisung an der Grenze. Sie werden jedoch vom EU-Recht überlagert. Es gilt der Anwendungsvorrang des Unionsrechts.8Vgl. Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 1 AEUV Rn. 16 ff.
Entscheidend sind damit die Regelungen der Dublin-III-Verordnung der EU. Darin steht unter anderem, wie mit Menschen zu verfahren ist, die an den deutschen Grenzen ankommen und Asyl suchen. Die Verordnung regelt, wer in der EU für das jeweilige Asylverfahren zuständig ist und wie zu verfahren ist, wenn sie selbst nicht zuständig, sowie das Rücküberstellungsverfahren an den zuständigen EU-Staat. Eine Zurückweisung an der Grenze ist nicht zulässig.9Der Dobrindt-Erlass über Zurückweisungen an der Grenze: . In: Legal Tribune Online, 09.05.2025, https://www.lto.de/persistent/a_id/57171 (abgerufen am: 15.05.2025 )
Die Berufung auf eine Notlage (Art. 72 AEUV) wäre denkbar, Gründe hierfür wurden vom Innenminister nicht benannt und sind auch nicht erkennbar. Der EuGH hat bisher die Berufung auf eine Notlage mehrfach zurückgewiesen. Eine aktuelle Überforderung Deutschlands dürfte angesichts der zurückgegangenen Asylgesuche kaum begründbar sein. Neue politische Bewertungen oder eine angenommene Stimmungslage reichen nicht aus. Auch die Nicht-Befolgung von Unionsrecht durch andere EU-Staaten lässt der EuGH als Begründung nicht gelten.10Thym, Rechtsgutachten über die Anforderungen und Rechtsfolgen des Artikels 72 EU-Arbeitsweisevertrag für die ausnahmsweise Abweichung vom EU-Asylrecht v. 25.11.2022, Seite 7/16 f. m.w.N.; Hruschka, Constantin: Dobrindts Rechtsbruch: Warum die aktuellen Kontrollen an den eutschen Binnengrenzen rechtswidrig sind (Fn. 7). Die Aussichten beim EuGH dürften ziemlich gering sein.
Trotz dieser rechtlichen Situation hat Bundesinnenminister Dobrindt mit Weisung vom 07.05.2025 an den Präsidenten der Bundespolizei eine mündliche Weisung vom 13.09.2015 zurückgenommen und unklar weiter formuliert, dass die Anwendung der Regelung des § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG dazu führt, dass Schutzsuchende bei der Einreise aus einem sicheren Mitgliedstaat die Einreise verweigert werden kann. Erkennbare vulnerable Personen können weiterhin an die zuständigen Stellen oder Erstaufnahmeeinrichtungen weitergleitet werden, sofern die Möglichkeit besteht, unter Wahrung der Fiktion der Nichtreineise.
Selbst wenn man davon ausgeht, dass § 18 AsylG anwendbar wäre, besteht kein Ermessen der Bundespolizei. Es handelt sich um eine zwingende Norm, so dass der Ausländer in diesen Fällen zurückzuweisen ist. Die Anweisung wäre auch in diesem Fall rechtswidrig.
Unklar ist, wie die Fiktion der Nichteinreise praktisch umgesetzt werden könnte. Beim Überschreiten der Grenzübergangsstelle gilt die Nichteinreisefiktion nur, wenn und solange die Grenzkontrolle noch stattfindet oder der Aufenthalt zur Vorbereitung, Sicherung oder Durchführung von Zurückweisungsmaßnahmen erforderlich ist (§ 13 Abs. 2 Satz 2 AufenthG). Mit der Weiterleitung an die Aufnahmeeinrichtung entfällt die Nichteinreisefiktion.
Rechtswidriges Verwaltungshandeln?
Gemäß § 57 BPolG hat der Innenminister die Fachaufsicht über die Bundespolizei und ist damit weisungsbefugt.
Die Regierung ist Teil der Exekutive und damit an Gesetz und Recht gebunden (Art. 20 Abs. 3 GG). Dieses Rechtsstaatsgebot gehört zu den elementaren Grundsätzen unserer Verfassung und ist unabänderlich (Art. 79 Abs. 3 GG). Für die Verwaltung ergibt sich daraus konkret ein Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes. Der Vorrang des Gesetzes besagt, dass der in der Form des Gesetzes geäußerte Staatswille jeder anderen staatlichen Willensäußerung – ausgenommen die Verfassung – vorgeht. Er bestimmt, dass die Verwaltung das Gesetz anwenden muss (Anwendungsgebot), nicht vom Gesetz abweichen darf (Abweichungsverbot). und nicht gegen das Gesetz verstoßen darf.11Ossenbühl in Erichsen/Martens, Allg. VerwR, 9. Aufl. 1992, § 5 Rn. 7
Ein rechtswidriges Verwaltungshandeln verstößt gegen das Rechtsstaatsgebot des Grundgesetzes. Im Hinblick auf die oben dargestellte Rechtslage und die gegen den eindeutigen Wortlaut des § 18 AsylG verstoßende Weisung kann nicht von einer unklaren Rechtslage ausgegangen werden. Damit verstößt die Weisung des Bundesinnenministers gegen das Rechtstaatsgebot des Grundgesetzes.
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- 1https://www.koalitionsvertrag2025.de/sites/www.koalitionsvertrag2025.de/files/koav_2025.pdf
- 2Zeilen 2986 bis 2993 des Koalitionsvertrages
- 3https://www.sueddeutsche.de/politik/neue-regierung-dobindt-grenzkontrollen-li.3248560
- 4Artikel 3 Abs. 2 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) und Artikel 67 und Artikel 77 und Artikel 78 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV).
- 5Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen.
- 6Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14.06.1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen vom 19. 06.1990, seit 01.05.1999 geändert durch mehrere EG-Verordnungen, zuletzt durch VO (EG) Nr. 610/2013 vom 26.06.2013 mit Wirkung v. 19.07.2013.
- 7So auch: Hruschka, Constantin: Dobrindts Rechtsbruch: Warum die aktuellen Kontrollen an den deutschen Binnengrenzen rechtswidrig sind, VerfBlog, 2025/5/15, https://verfassungsblog.de/zuruckweisung-grenze-kontrolle-dobrindt/, DOI: 10.59704/61c1f0229bfa0215.
- 8Vgl. Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 1 AEUV Rn. 16 ff.
- 9Der Dobrindt-Erlass über Zurückweisungen an der Grenze: . In: Legal Tribune Online, 09.05.2025, https://www.lto.de/persistent/a_id/57171 (abgerufen am: 15.05.2025 )
- 10Thym, Rechtsgutachten über die Anforderungen und Rechtsfolgen des Artikels 72 EU-Arbeitsweisevertrag für die ausnahmsweise Abweichung vom EU-Asylrecht v. 25.11.2022, Seite 7/16 f. m.w.N.; Hruschka, Constantin: Dobrindts Rechtsbruch: Warum die aktuellen Kontrollen an den eutschen Binnengrenzen rechtswidrig sind (Fn. 7).
- 11Ossenbühl in Erichsen/Martens, Allg. VerwR, 9. Aufl. 1992, § 5 Rn. 7