Parlamentskultur und Bundesverfassungsrichterwahl
Warum fachliche Professionalität das Fundament gelungener Richterwahlen zum Bundesverfassungsgericht ist - Teil 2
Parlamentskultur und Bundesverfassungsrichterwahl
Warum fachliche Professionalität das Fundament gelungener Richterwahlen zum Bundesverfassungsgericht ist - Teil 2

Einen Kommentar zur derzeit schwebenden Wahl eines Richters und zweier Richterinnen an das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) abzugeben, fällt mir nicht leicht, weil man sich den Betroffenen fachlich wie menschlich verbunden fühlt. Der beschämende Umgang mit dem Wahlvorgang und zwei fachlich offenkundig hervorragend geeigneten Kolleginnen hat viele empört – auch mich. Empörung ist aber nie ein guter Ratgeber. Die Causa bietet jedoch einen Anlass, sich die rechtliche Funktion des Wahlverfahrens, dessen ungeschriebene Voraussetzungen und damit die Gelingensbedingungen von überzeugenden Richterwahlen näher anzusehen.
Demut vor den eigenen Kompetenzgrenzen
Mitglieder des Deutschen Bundestags bilden ein breites Spektrum an Sozialisationen, Lebenserfahrungen und beruflichen Hintergründen ab – ob breit genug, steht auf einem anderen Blatt. Niemand muss jedenfalls Expertin oder Experte der Verfassungsauslegung sein und sich mit den mitunter verästelten Fragen der Verfassungsdogmatik trittsicher auskennen. Das ist für kluge Wahlentscheidungen auch nicht nötig, so wenig wie der Deutsche Bundestag über Steuergesetze abstimmt, deren Regelungsgehalt 630 Abgeordnete verstanden haben.
Es stünde dann aber allen besser zu Gesicht, Zurückhaltung zu üben, wenn es um die Bewertung verfassungsdogmatischer Positionen geht, die wissenschaftlich zu begründen und einzuordnen sind, aber keine politischen Bekenntnisse abbilden sollen. Wertepathos ist ein schlechter Kompass, um durch komplexe Verfassungsdogmatik zu navigieren. Hier gilt wie ganz allgemein die Maxime parlamentarischer Arbeitsteilung im gegenseitigen Vertrauen nach dem Berichterstatterprinzip. Die Freiheit des Mandats (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG) ist auch die Freiheit, sich Sacharbeit nach unterschiedlichen Erfahrungen, Fähigkeiten und Arbeitsthemen zu teilen. Aus diesem Grund ist nach § 6 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG auch der vorgreifliche Vorschlag des professionalisierten Wahlausschusses konstitutiv für die Plenumswahl. Vertrauen in den dort aggregierten Sachverstand muss man freilich organisieren. Das setzt Führungskompetenz in den Fraktionsspitzen voraus. Wenn hingegen die Wahl der Richterinnen und Richter zu einer rebellischen Bauchentscheidung mit diffusem Wertegrummeln auf der Informationsgrundlage aus dem Kontext gerissener Zitate verkommen sollte, würde der Deutsche Bundestag als fachspezifisches Wahlorgan versagen.
Die Rolle des Wahlverfahrens
In den bisherigen Debatten ist ein weiterer Aspekt unterbelichtet geblieben. Alle drei Vorgeschlagenen wären nach der bis 2015 geltenden Rechtslage gemäß § 6 BVerfGG a. F. bereits gewählt, und zwar durch den Wahlausschuss. Man hatte sich jedoch seinerzeit entschieden, den zwölf Abgeordnete umfassenden Wahlausschuss (§ 6 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG) auf eine (konstitutive) Vorschlagsfunktion zu reduzieren und die Wahl dem Plenum des Deutschen Bundestags zu übertragen. Das Neunte Gesetz zur Änderung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes vom 24. Juni 2015 (BGBl. I S. 973) schuf die gegenwärtige Regelung des § 6 BVerfGG. Vielleicht ist es gerade jetzt eine gute Zeit, daran zu erinnern: Die Reform der Richterwahl erfolgte durch einen gemeinsamen Gesetzentwurf der Fraktionen CDU/CSU, SPD, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen (BT-Drs. 18/2737), folgte also gemeinsamer demokratischer Verantwortung, keinem Eiertanz um Unvereinbarkeitsbeschlüsse. Die Gesetzesänderung geschah freilich ohne verfassungsrechtliche Not, denn das BVerfG hatte die lange umstrittene mittelbare Wahl der Richterinnen und Richter nach der früheren Rechtslage für verfassungskonform erachtet (BVerfGE 131, 230, 234 ff.; 142, 1, 3 f.). Tragend waren vielmehr demokratiepolitische Erwägungen.
Ein Blick in die Plenardebatte (Plenarprotokoll 18/106, S. 10193-10197) ist noch immer aufschlussreich: Man wollte – so Matthias Barke (SPD) – „die hohe Legitimität des Bundesverfassungsgerichts“ erhalten und dazu „ein Wahlverfahren für das höchste deutsche Gericht korrigieren, das seit Jahrzehnten verfassungsrechtlich und verfassungspolitisch hochstrittig war“. Nur eine Wahl im Plenum werde – so Richard Pitterle (Die Linke) – „der Bedeutung dieses Gerichts, das Entscheidungen mit Gesetzeskraft trifft und das auch Entscheidungen des Bundestages revidieren kann, erst wirklich gerecht“. Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU) betonte das Anliegen, größere Transparenz zu schaffen und wies darauf hin, dass es nicht nur um rechtliche Qualifikation, sondern z. B. auch um Lebenserfahrung, Geschlecht oder regionale Repräsentation gehe. Die Plenarwahl werde „die Legitimation des Bundesverfassungsgerichts […] stärken“. Renate Künast (Bündnis 90/Die Grünen) wollte gar „eine Schieflage“ beseitigen, „um dem Verfassungsgericht mehr Würde zu geben“. Sie beklagte, dass die Wahl im Wahlausschuss „doch kurios“ sei, würde dort „mehr Geheimhaltung […] als an manch anderen Orten“ geübt.
Das sind alles redliche und nachvollziehbare demokratiepolitische Erwägungen. Aber von Anfang an gab es auch – wie sich nunmehr zeigt: nicht völlig unberechtigte – Sorgen, dass eine Verlagerung aus dem geschützten Raum des Wahlausschusses in das Plenum zu einer Politisierung der Richterwahl führen könnte, die die vorgeschlagenen Personen und damit mittelbar auch das Gericht beschädigt. Erst recht stieß der heute wohlwollend als naiv zu bezeichnende Wunsch von Renate Künast, sogar öffentliche Anhörungen im Rechtsausschuss durchzuführen, auf (weitsichtige) Skepsis bei Katarina Barley (SPD), die nüchtern erwähnte, dass sich das bisherige Verfahren im Wahlausschuss doch eigentlich bewährt habe und „ein Verfahren, das dem amerikanischen ähnelt, unserer Art, Verfassungsrechtsprechung zu betreiben, nicht gerecht wird“. Legitimationspolitik kann nicht unpolitisch bleiben und die Übertragung der Wahl auf das Plenum erfüllt einen Sinn nur dann, wenn damit die Politizität erhöht wird, was aber gewisse Politisierungsrisiken in Kauf nimmt.
Wir brauchen neue Parlamentspraktiken
Wie mit einem Wahlverfahren praktisch umgegangen wird, lässt sich gesetzlich nur begrenzt steuern. Gefordert ist die Parlamentskultur, um die es seit einiger Zeit nicht nur gut bestellt ist. Ein anderes Verfahren der Richterwahl braucht andere Praktiken der Willensbildung. Nicht zuletzt müssen diese gewährleisten, dass in der Bewertung komplexe Personalentscheidungen, die auf fachlicher Grundlage getroffen werden, nicht durch eine billige Popularisierung auf dem Niveau von Social Media-Halbwissen wieder auf dem Weg zum Plenarbeschluss entwertet werden.
Die hässlichen Umstände im Kontext der nicht gescheiterten, sondern verschobenen Wahl haben dem Deutschen Bundestag erst einmal Zeit verschafft. Die Zeit sollte genutzt werden, die offenbar versäumte Aufklärungsarbeit nachzuholen und offenkundige Missverständnisse über Positionen abzuräumen. Vielleicht sind Vorstellungsrunden in den Fraktionen sogar ein geeigneter Weg, ein differenziertes Bild zu zeichnen, unberechtigte Sorgen zu entkräften und berechtige Nachfragen zufriedenstellend zu beantworten. Der Deutsche Bundestag müsste auch mit Blick in die Zukunft neue Formen erproben, wie mit der 2015 institutionalisierten Plenumsentscheidung nach § 6 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG sensibel und funktionsadäquat in einem stärker polarisierten Parlament umzugehen ist. Gelingt das nicht, beschädigt sich der Deutsche Bundestag vor allem selbst.
Der Beitrag wurde zuerst bei verfassungsblog.de veröffentlicht und wird fortgesetzt.