22.07.2025

Parlamentskultur und Bundesverfassungsrichterwahl

Warum fachliche Professionalität das Fundament gelungener Richterwahlen zum Bundesverfassungsgericht ist - Teil 1

Parlamentskultur und Bundesverfassungsrichterwahl

Warum fachliche Professionalität das Fundament gelungener Richterwahlen zum Bundesverfassungsgericht ist - Teil 1

Das BVerfG in Karlsruhe wacht über die Einhaltung des Grundgesetzes und die Durchsetzung
der Grundrechte.
 | © Klaus Eppele - stock.adobe.com
Das BVerfG in Karlsruhe wacht über die Einhaltung des Grundgesetzes und die Durchsetzung der Grundrechte.  | © Klaus Eppele - stock.adobe.com

Einen Kommentar zur derzeit schwebenden Wahl eines Richters und zweier Richterinnen an das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) abzugeben, fällt mir nicht leicht, weil man sich den Betroffenen fachlich wie menschlich verbunden fühlt. Der beschämende Umgang mit dem Wahlvorgang und zwei fachlich offenkundig hervorragend geeigneten Kolleginnen hat viele empört – auch mich. Empörung ist aber nie ein guter Ratgeber. Die Causa bietet jedoch einen Anlass, sich die rechtliche Funktion des Wahlverfahrens, dessen ungeschriebene Voraussetzungen und damit die Gelingensbedingungen von überzeugenden Richterwahlen näher anzusehen.

Formale Legitimationssicherung

Das Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) regelt im Wesentlichen nur das Wahlverfahren für die Richterinnen und Richter des BVerfG. Die vom Bundestag zu berufenden Richterinnen und Richter werden nach § 6 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG auf Vorschlag des Wahlausschusses (§ 6 Abs. 2 BVerfGG) ohne Aussprache mit verdeckten Stimmzetteln gewählt. Die vom Bundesrat zu berufenden Richterinnen und Richter werden nach § 7 BVerfGG mit zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates gewählt. Thematisiert werden also nur die Mechanismen der Legitimationssicherung, während die vorgelagerte Personalauswahl vom Gesetz nicht adressiert wird und weitgehend opak bleibt. Klar ist aber, dass die entscheidende Personalfindung im Vorfeld stattfinden muss und zugleich zwischen Bundestag und Bundesrat zu koordinieren ist, um eine ausgewogene Gesamtbesetzung des Gerichts zu gewährleisten.

Überzeugende Richterpersönlichkeiten

Welche persönlichen Anforderungen an Richterinnen und Richter zu stellen sind, bleibt weitgehend ungeregelt. Das Gebot der Auswahl nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung (Art. 33 Abs. 2 GG) gilt richtigerweise nicht. Das Wahlverfahren nach Art. 94 Abs. 1 Satz 2 GG ist lex specialis und bindet die wählenden Verfassungsorgane Bundestag und Bundesrat nicht an materielle Auswahlkriterien. § 3 Abs. 1-2 BVerfGG enthält lediglich formale Bedingungen der Wählbarkeit (Mindestalter, Befähigung zum Richteramt). Eine vernünftige Personalauswahl, die den Funktionen und Aufgaben des BVerfG gerecht wird, wird daher den politischen Kräften anvertraut, die einen Wahlvorschlag vorbereiten. Das hat auch in den bald 75 Jahren Geschichte des BVerfG im Großen und Ganzen recht gut funktioniert.


Besetzt werden soll kein politisches Organ, sondern ein Gericht, das auch das BVerfG – bei allen Besonderheiten seiner Entscheidungskompetenzen – bleibt (§ 1 BVerfGG). Der Umgang mit dem Verfassungsrecht erfordert daher zunächst einmal belegte hohe juristische Professionalität. Verfassungsinterpretation ist anspruchsvoll. Obgleich die unhintergehbare Kontingenz bei der Ausdeutung offener Verfassungsbestimmungen nicht werturteilsfrei möglich ist, geht es weniger um – in der Politik gerne beschworene, aber oft nur intellektuelle Hilflosigkeit markierende – „Werte“, sondern vorrangig um solides Handwerk. Einzelne Richterinnen und Richter müssen in der Lage sein, einen heterogenen achtköpfigen Senat fachlich zu überzeugen. Das gelingt nur mit juristischen Argumenten, nicht mit einer politischen Agenda.

Wichtiger als inhaltliche Positionierungen in einzelnen Sachfragen ist daher die zu erwartende Begründungsqualität, also die methodische Stringenz und Überzeugungskraft, sowie die Fähigkeit, juristische Argumente nachvollziehbar (und damit: kritisierbar) zu vermitteln. Nicht weniger wichtig ist die Bereitschaft, andere Positionen ernst zu nehmen und sich mit ihnen seriös auseinanderzusetzen. Ob das geschieht oder nicht, lässt sich gerade bei Professorinnen und Professoren vergleichsweise einfach verifizieren, haben diese doch typischerweise umfangreich veröffentlicht. Diskursfähigkeit hängt weniger von mitunter streitbaren Ausgangspositionen als von der Bereitschaft ab, diese zu reflektieren und entscheidungsorientiert zu überdenken.

Karrieren in der Staatsrechtslehre am Bundesverfassungsgericht

Wenn man ausgezeichnete Staatsrechtslehrerinnen und Staatsrechtslehrer am Gericht haben möchte, muss man auch damit leben, dass diese mitunter eigenwillige Positionen vertreten (haben). Wissenschaftliche Karrieren werden nicht durch Nacherzählen der BVerfG-Rechtsprechung gemacht und wir alle erwarten von einer Wissenschaft, die gerade im Verfassungsrecht kritische Gegenöffentlichkeit zu den Praktiken der staatlichen Organe sein soll, genauer hinzusehen, festgefahrene Dogmen zu hinterfragen und – vielleicht auch einmal provokativ – bessere Begründungen einzufordern.

Konsensbasierte Verfassungsrechtsprechung eines Kollegialgerichts funktioniert zudem anders als die Entfaltung individueller Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG). Die unterschiedlichen Rollenfunktionen von individueller Wissenschaftlerin einerseits und Richterin in einem Kollegialgericht muss man unterscheiden können. Die wissenschaftlich geschulte Fähigkeit, genau hinzusehen und Konflikte präzise zu adressieren, dürfte hingegen unabhängig vom eigenen Ausgangspunkt immer helfen, Entscheidungen noch besser zu machen. Wer hingegen plump politische Passfähigkeit honoriert, schadet nicht nur dem Gericht, sondern verschenkt auch reale Einflusschancen auf die Rechtsprechung. Das BVerfG ist kein verlängerter Biertisch der Nation – oder sollte es jedenfalls nicht werden.

Die Staatsrechtslehre sollte sich wiederum selbstkritisch fragen, ob der Hang einiger Mitglieder, verfassungsrechtliche Positionen in simple politische Botschaften im X-Format umzugießen, nicht genau der Nährboden ist, auf dem Diskurse politisiert eskalieren. Wer 100 Seiten Bundesverfassungsgerichtsbeschluss auf ein paar polemische Kurzbotschaften reduziert, suggeriert ein Niveau von Verfassungsrecht, auf dem dann wirklich jeder nach politischem Gusto mitreden kann.

Anforderungen an die Auswahlentscheidung

Aus den Erwartungen an eine gelungene Personalauswahl ergeben sich Anforderungen an die informale Organisation der Wahlvorbereitung durch die Politik. Die Beurteilung, ob jemand entsprechende Qualitäten mitbringt oder nicht, setzt unvermeidbar akribische Vorbereitungen (durch geeignete Stäbe) voraus, die wissenschaftliche Positionen in ihrer Begründungsqualität, Sorgfalt und Differenziertheit analysieren. Man muss sich sehr genau ansehen, ob vertretene Positionen nachvollziehbar wissenschaftlich begründet sind oder camouflierte politische Statements mit ein paar angeklebten Anstandsfußnoten bleiben. Vertretene Interpretationen sind in den Meinungsstand einzuordnen, der immer breiter sein wird als der verfassungsdogmatische Mainstream.

Gerade weil Verfassungsinterpretation mehr als professionelles Verfassungshandwerk ist, kommt es darauf an, innerhalb eines Korridors des Ernstzunehmenden auf die pluralistische Ausrichtung des Gerichts insgesamt zu achten. Argumentative Qualität und Pluralismus der Positionen sind keine Garantie für ausgewogene Rechtsprechung, aber doch immer noch das beste Sicherheitsnetz gegen Einseitigkeiten, politische Vereinnahmung oder mangelnde epistemische Härte in der Rechtsprechung des Gerichts. Daran sollten eigentlich alle Mitglieder des Deutschen Bundestags ein gemeinsames Interesse haben. Bei Professorinnen und Professoren ist daher eine gründlichere Aufbereitung des wissenschaftlichen Werkes kaum verzichtbar, bei den Berufsrichterinnen und -richtern kommt es vermutlich auf Beurteilungen innerhalb der obersten Bundesgerichte an, wenn man es mit der Rechtsprechungsqualitätssicherung ernst nimmt. Wer hingegen in den wissenschaftlichen Positionen einer zur Wahl vorgeschlagenen Professorin vornehmlich seine eigenen politischen „Werte“ sucht, hat weder die Funktion pluralistischer Personalauswahl noch die Arbeitsmechaniken von Verfassungsrechtsprechung richtig verstanden. Das sollte peinlich sein.

Ein Sündenfall zur Anschauung

Der irrlichternde Umgang mit Frauke Brosius-Gersdorf bietet gleich kumuliertes Anschauungsmaterial, wie Richterwahlen nicht ablaufen sollten. Ursprünglich entzündete sich Streit an Positionen zum Lebensschutz Ungeborener. Das verwundert. Es ist seit Jahrzehnten in der Grundrechtsdogmatik umstritten, ob Lebensschutz untrennbar mit der Zuschreibung von Menschenwürde verbunden ist (so die Linie des BVerfG, die auch ich für richtig halte) oder ob beides entkoppelt werden sollte, was nicht nur Brosius-Gersdorf, sondern viele in der Staatsrechtslehre mit nachvollziehbaren Argumenten vertreten. Hier geht es um einen dogmatischen Meinungsstreit, dessen Folgen vermutlich überschaubar bleiben. Selbst wenn man Embryonen und Föten Menschenwürde zuschreibt, ist damit die Frage der Rechtsfolgen noch nicht beantwortet, die hieraus qua staatlicher Schutzpflicht gezogen werden. Das ist schwierig und wird – wie jeder mehrpolige Grundrechtskonflikt – immer differenzierte Konzepte staatlicher Intervention erfordern. In der Abwägung liegt die Stärke unseres Grundrechtsmodells. In welchem Umfang Kriminalisierung zum wirksamen Schutz Ungeborener notwendig ist, kann man unterschiedlich bewerten. Unterscheidet sich das aus krummem Holz geschnitzte Konzept folgenloser Rechtswidrigkeit des Schwangerschaftsabbruchs, das das BVerfG erfunden hat, wirklich substantiell von dem, was gegenwärtig als „Liberalisierung“ diskutiert wird? Die in der dogmatischen Stringenz verkorkste Rechtsprechung des BVerfG zum Abtreibungsstrafrecht (BVerfGE 39, 1; 88, 203) war – wenig verwunderlich – von Anfang an von Kritik begleitet, und zwar von beiden Seiten. Während einige den Lebensschutz nicht konsequent genug verwirklicht sehen, beklagen andere eine Überdehnung der Schutzpflichten zu Lasten des Persönlichkeitsrechts der Schwangeren. Für beide Perspektiven gibt es gute Argumente. Sollte man darüber nicht verfassungsdogmatisch streiten können?

Der Beitrag wurde zuerst bei verfassungsblog.de veröffentlicht und wird fortgesetzt.

 

Prof. Dr. Klaus Ferdinand Gärditz

Professor für Öffentliches Recht an der Universität Bonn.
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