Tagungsbericht IRIS 2019 Teil 3  

Tagungsbericht IRIS 2019 Teil 3  

Resilienzerfordernisse beim Übergang zur E-Justiz

Auf eine „Forschungsmatrix und Checkliste für die Transformation der Justiz zur E-Justiz“ im Tagungsband wiesen Marc Berninger und Viola Schmid von der Universität Darmstadt hin. Als Schwerpunktbeispiel wurde über das besondere elektronische Anwaltspostfach „beA“ in Deutschland berichtet, welches 2017 und 2018 eine wechselvolle Geschichte mit technischen Mängeln und zeitweiser Abschaltung erlebt hatte. Stufenweise zu verwirklichen seien die folgenden Agenden: Digitale Kommunikation, digitaler Workflow, IT-Zwang für Workflow-Teilnehmer, Automatisierung durch elektronische Formulare und verpflichtende Einführung der elektronischen Prozessakten. Diese Entwicklungen und das notwendige begleitende Malfunction Management erforderten transdisziplinäre Kompetenzen, die aus Resilienzgründen und zur Erhöhung von Akzeptanz und Effektivität einzuplanen seien. Mit Fehlern sei generell konstruktiv umzugehen. Dann könnte die Einführung der e-Justiz auch eine Vorlage sein für die Transformation anderer Bereiche des öffentlichen und kommerziellen Lebens.

Kennzeichnung von Werbung für Video-Plattformen

Zum e-Commerce berichtete Philipp Homar von der Universität Krems über Medienregulierung anhand der reformierten europäischen Richtlinie über Audiovisuelle Medien (AVMD-Richtlinie 2010/13/EU) und deren österreichische Umsetzung mit folgender Hauptfrage: Wie dürfen Plattformbetreiber wie das Staatsfernsehen ihre Mediendienste mit Werbung präsentieren? Es gelte für den Binnenmarkt das Sendestaatsprinzip: Wer in seinem Heimatstaat die geltenden Gesetze erfüllt, darf auch in die anderen Mitgliedstaaten senden. Für reine Fernsehprogramme gälten teilweise strengere Regeln als für die Abrufprogramme (Video on Demand). Die Änderungs-Richtlinie 2018/1808 hierzu nehme trennbare Teile der Gesamtdienstleistung von der strengen Regulierung – im Nachgang zu einer EuGH-Urteil „New Media Online“ – nicht mehr aus, auch wenn sie nicht „fernsehähnlich“ sind. Auch Video-Sharing-Plattformdienste wie Youtube würden nun erfasst. Das Erfordernis der redaktionellen Verantwortung wurde gestrichen und die nutzergenerierten Inhalte wurden aufgenommen. Ein Sitz in allen „Sendeländern“ werde zu Zwecken der Rechtsverfolgung fingiert. Für Uploads würden angemessene Prüfmaßnahmen gefordert hinsichtlich Werbung und Jugendschutz, eine weitergehende Ex-ante-Kontrolle werde hingegen nicht gefordert.

Teurer Move des Killerfrosches

Kai Erenli von der Fachhochschule des BFI Wien hatte seinen Beitrag über das „Internet der gelooteten Gegenstände“ mit dem Schlagwort „The Dab of Pride and Accomplishment“ betitelt. Man kennt diese Tanzfigur aus dem online-Rollenspiel Star Wars Battlefront 2 von Electronic Arts (EA) und auch von etlichen Sportereignissen. Das Marktumfeld von Spielen im Downloadbereich steige, die verkauften DVD-Pakete seien rückläufig, insgesamt aber würden hunderte Milliarden mit Spielen umgesetzt, sehr viel davon auch über sogenannte Lootboxes in den free-to-play-Spielen. Lootboxes sind so gestaltet, dass der Käufer vorab nicht weiß, was drin ist. Sie enthalten spielbeeinflussende oder dekorative Gegenstände, die mehr oder weniger wertvoll sind. Sie seien den sogenannten Microtransaktionen zuzuordnen. Im vorgestellten Beispiel musste man ordentlich Geld dafür zahlen, dass ein Avatar (killer frog) aus einem Online-Spiel eine Tanzfigur (dabbing) erlernt. Die rechtliche Bewertung von Lootboxen sei schwierig, eine harmonisierte EU-Regulierung dazu gebe es nicht. Es handle sich aber um eine Art Glücksspiel. Für spielende Kinder sei weder der Jugendschutz zuständig, da keine Trägermedien vorliegen, noch der Jugendmedienschutzstaatsvertrag, da es um die Frage der Geschäftsfähigkeit gehe, also um das BGB bzw. ABGB und den Taschengeldparagraphen. Monopolrecht liege nicht vor, weil die meisten online-Spieleanbieter in Malta sitzen und genügend Konkurrenz vorliege. An Kinder dürften sie jedoch nach Glücksspielrecht nicht verkauft werden, wenn sie ein Suchtpotenzial haben, wovon nach gewissen Kriterien auszugehen sei.

Kabellänge erzeugt Marktvorsprung

Die Regulierung des Hochfrequenzhandels von Wertpapieren war das Thema von Stefan Szücs von der Fachhochschule Linz. Heute finde der Wertpapierhandel auf speziellen Rechnern im millionstel- und milliardstel-Sekunden-Bereich statt. Die Haltefristen von Wertpapieren betrügen derzeit durchschnittlich nur noch Minuten. 0,1-Cent sei derzeit die kleinste abweichende orderauslösende Größe (Tick). Im Hochfrequenzhandel werde jeweils nur ca. jede vierzehnte Order ausgeführt. Es gebe auch fake-orders, die nur zur aggressiven Manipulation eingestellt werden und rechtzeitig wieder aus der Liste zurückgezogen werden, um eventuell sogar ein Gegengeschäft durchzuführen. Die Hochfrequenz werde auch zur Arbitrage zwischen Börsenplätzen genutzt. Diese Hochfrequenz-Strategie stehe vielen kleinen Händlern oder Privatleuten nicht zur Verfügung. Eine Regulierung sei im Gespräch, um die Wettbewerbsunterschiede international einzugrenzen und die Gefahr des „Erwischtwerdens“ für manipulative Marktteilnehmer zu erhöhen. Diese Regulierung sei nach dem Scheitern von Verhandlungen mit den USA in der sogenannten MIFID II-Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente erfolgt. Sie erkläre bestimmte Praktiken für missbräuchlich und schreibe die Kennzeichnung von Orders vor, die durch ein Hochfrequenzhandelssystem eingestellt wurden. Es sei sogar geregelt, dass die Kabellängen der verschiedenen Hochfrequenzrechnern zum Börsenserver und sogar zu Börsenservern in verschiedenen Ländern gleich sein müssen. Eine Transaktionssteuer sei auf EU-Ebene abgelehnt worden.

Kurbelwellen und RSA-Verschlüsselung

Peter Lechner aus Österreich trug im Arbeitskreis Science Fiction „über die seltsame Arithmetik hinter der Datenverschlüsselung“ zur Zahlenmystik vor, und zwar unter dem Titel „2+2‌=0“. Ausgangspunkt sei ein Zeitungsartikel gewesen, wonach der Mathematikunterricht zu entrümpeln sei, um das Image der Mathematik in den Schulen aufzupolieren. Der Referent untersuchte daraufhin, ob in den Lehrplänen tatsächlich mathematisches „Gerümpel“ zu finden sei. Das Spezielle an der Mathematik sei, dass sie mit Beweisen arbeite, nicht mit empirisch bestätigten Vermutungen. Mathematische Beweise seien manchmal kontraintuitiv. Zum Beispiel lasse sich mit Euklid (‚Produkt aller bekannten Primzahlen plus eins‘) beweisen, dass es unendlich viele Primzahlen gibt und auch, dass es unendlich viele natürliche Zahlen gibt. Deshalb sei es falsch zu behaupten, dass es mehr natürliche Zahlen als Primzahlen gäbe, obwohl man versucht sei, so zu formulieren. Daraufhin bewies Lechner, dass unter bestimmten Randbedingungen auch die Formel „2+2‌=0“ ihre Berechtigung habe. Es ging um das Rechnen mit Resten, also um die von Gauß entscheidend entwickelte Modulararithmetik. Wenn man als Modulzahl die 4 definiere, dann ergebe „3+3“ zwei mehr als das nächstkleinere Vielfache der Modulzahl, also nicht 6, sondern 2. Und „3×3“ ergebe eins mehr als das nächstkleinere Vielfache der Modulzahl, also nicht 8, sondern 4. Und weil „2+2“ die gewählte Modulzahl 4 genau treffe, sei das Ergebnis von 2+2 in einer Modularrechnung mit „modulo 4“ gleich Null, wie oben behauptet.

In der Modulararithmetik seien also sehr große Zahlen gewissermaßen sehr eng mit ganz kleinen Zahlen verwandt: Ob sich beispielsweise eine Kurbelwelle 10000 mal oder 1 mal drehe, sei für das Ergebnis, an welchem Punkt sie genau stehenbleibt, unerheblich. Ebenso sei es für den Sonnenstand „Süd“ unerheblich, an welchem Datum es 12 Uhr ist, weil die Modulzahl „24 Stunden“ geschickt gewählt wurde. Diese Arithmetik werde für die asymmetrische Verschlüsselung (RSA) eingesetzt, die eine Einwegfunktion darstelle und erlaube, den öffentlichen Schlüssel zu publizieren. Der private Schlüssel, den der Empfänger einsetze, mache die Nachricht durch eine Modulo-Funktion lesbar, wenn sie mit dem öffentlichen Schlüssel verschlüsselt worden sei. Grundlage sei ein Satz von Euler, der sogenannte „kleine Fermat“: Für jede ganze Zahl gelte nach Fermat/Euler: a hoch (Primzahl minus eins) ergibt bei der versuchten Primfaktorzerlegung einen Rest von genau eins. Zu dieser Rechenlehre kamen noch folgende Anmerkungen von Lechner: 1973 wurde das RSA-Verfahren schon einmal vom Briten Clifford Cocks für den Geheimdienst erfunden; das Verfahren wurde damals aber als unpraktikabel verworfen, aber dennoch geheim gehalten. So konnte es 1977 nochmals neu erfunden werden. Fazit (als Argument gegen die Lehrplanentrümpelung): Es lohne sich, hunderte Jahre alte Theoreme im aktuellen Mathematikunterricht zu lehren. Schon Herder habe gesagt: „Warum lernen wir antike Sprachen? – weil es schwer ist.“ – Unser Geld auf der Bank sei übrigens heute weniger sicher als die https-Verschlüsselung, die wir für seine Transfers verwenden. Den folgenden Redner Schinagl aus Graz kündigte er als „ein Schlachtross der Science Fiction“ an.

Ektosymbionten mit ausgelagerten Denkprothesen

Wolfgang Schinagls Vortrag lautete „Der digitale Mensch als Defizitmodell, IoT-Cyborgisierung, Künstliche Intelligenz und Ich-Virtualisierung.“ Er fragte, ob „Künstliche Intelligenz“ nicht eher ein Marketingbegriff sei als eine wissenschaftlich definierbare Einheit. Eine allgemeine künstliche Intelligenz sei noch nicht realisierbar, weil das „Induktionsproblem“ nicht überwunden sei: mit der Kausalität, wie sie der Mensch empfinde, könne die Maschine nicht entsprechend umgehen. Weiter zitierte er Arthur Koestler, der den Menschen als Irrläufer der Evolution bezeichnete, und die Transhumanisten, die dazu aufriefen, die Evolution selbst in die Hand zu nehmen und mit Gentechnologie und Superrechnern über den Menschen hinauszuweisen. Medizin und Fitness arbeiteten daran, mit den verfügbaren Mitteln die Lebenszeit zu verlängern, aktuell z.B. durch personalisierte Medizin, die sich orientiert an einem optimierten „digitalen Zwilling“ des jeweiligen Patienten. Weiter arbeite die Medizin erfolgreich mit Implantaten wie Schrittmachern, künstlichen Gelenken, künstlichen oder sogar nachgezüchteten Organen. Überdies seien wir nach Schinagl „Ektosymbionten“, da wir unsere „Denkprothesen“ in den Cyberspace verlagert hätten und damit die Cyborgisierung mit Brillen, Hörgeräten, Smartphones und steuerbaren Schrittmachern bereits ein Stück weit fortgeschritten sei. Wo die Wissenschaft noch nicht angelangt sei, seien aber Literatur und Cineastik schon lange angelangt. Schinagl empfahl daher – quasi als Warnung –  Filme zum Missbrauch von Klonen anzusehen: „Die Insel“, auf der angebliche Lotteriegewinner als Ersatzteillager für Reiche nach Belieben geklont und ermordet werden; „Moon“ von Duncan Jones aus dem Jahr 2009, in dem Klone mit einem Gedächtnisimplantat auf dem Mond drei Jahre arbeiten und dann nicht wie suggeriert auf Erdurlaub geschickt werden, sondern ermordet und vom nächsten Klon abgelöst. Eine Ich-Lebensverlängerung durch Transhumanismus böten auch diejenigen Religionen an, die ein ewiges Leben nach dem Tode versprechen. Das absonderlichste Beispiel sei von einem Transhumanisten namens Steve S. Hoffmann (Captain Hoff), Founder Space TEDxCEIBS. Dessen Youtube-Auftritt von 2017 berichte von einem angeblichen Rattenexperiment. Eine Ratte wurde im Labyrinth trainiert, eine zweite Ratte wird mit einer „Brain-Chip-Übertragung“ im Gehirn verändert und findet dann auf Anhieb das Leckerli in dem ihr bisher unbekannten Labyrinth. Angeblich könne man nicht nur zwei Gehirne koppeln, sondern auch ein Gehirn an das Internet anschließen und dann Google-Suchen durch simples „Drandenken“ auslösen. Brain Hacking, außerhalb des eigenen Körpers zu leben, seine eigenen Erinnerungen zu verpachten und Menschen, die Teil eines Netzwerks werden, seien durch solche Schnittstellen in greifbarer Nähe. Zurück in die Gegenwart: Mit EEG-Bändern würde das Auslesen von Hirnaktivitäten bereits jetzt als kommerzielle Aktivität vermarktet (Mit dem „Headband MUSE“ von Interaxon könne man bereits heute durch Gedankenkraft ein Leuchten im Smartphone gezielt aus- und einschalten).

Die nächste IRIS-Tagung findet voraussichtlich vom 26. bis 29. Februar 2020 in Salzburg statt.

Alexander Konzelmann, Februar 2019

 

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