02.11.2022

Not kennt kein Gebot?

Dreistelliger Milliardenbetrag zur Finanzierung der Energiepreisbremse

Not kennt kein Gebot?

Dreistelliger Milliardenbetrag zur Finanzierung der Energiepreisbremse

Der Schutzschirm des WSF soll bis zum 30. Juni 2024 aufgespannt sein.  | © BillionPhotos.com - stock.adobe.
Der Schutzschirm des WSF soll bis zum 30. Juni 2024 aufgespannt sein.  | © BillionPhotos.com - stock.adobe.

Der Bundesfinanzminister und seine Partei haben die Schuldenbremse des Grundgesetzes zu einem Fetisch gemacht, den sie inhaltlich längst nicht mehr ernst nehmen

Der Bundesrechnungshof nimmt in seinem jüngsten Bericht nach § 88 Bundeshaushaltsordnung (BHO) an den Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages kein Blatt vor den Mund: so nachvollziehbar die Mobilisierung dreistelliger Milliardenbeträge zur Finanzierung der Energiepreisbremsen als Signal an die Verbraucherinnen und Verbraucher sein mag, so problematisch ist seine haushaltsrechtliche Umsetzung.

Der Schutzschirm soll institutionell beim Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF) angesiedelt werden, einem sog. Sondervermögen, das zu Beginn der Covid-19-Pandemie eingerichtet wurde.


Sondervermögen dienen der Bundesregierung zur Finanzierung besonderer Aufgaben. Das besondere an ihnen ist: Sie laufen neben dem eigentlichen Etat, tauchen also nicht im jährlichen Haushalt auf und müssen auch nicht in der jährlichen Haushaltsdebatte im Parlament diskutiert werden. Von Kritikern werden Sondervermögen deshalb auch als „Schattenhaushalt“ oder „Nebenhaushalt“ bezeichnet. Allerdings muss der Bundestag bei Einführung eines Sondervermögens dem Gesetz zustimmen – es ist also nicht völlig der parlamentarischen Kontrolle entzogen.

Der WSF diente bisher der Stabilisierung von Unternehmen der Realwirtschaft durch Überwindung von Liquiditätsengpässen und der Stärkung ihrer Kapitalbasis (§ 16 Absatz 1 und 2 Stabilisierungsfondsgesetz, StFG). Durch die Einfügung eines neuen Absatzes 3 wird der Zweck des WSF auf die „Abfederung der Folgen der Energiekrise, insbesondere von Preissteigerungen beim Bezug von Gas und Strom in Deutschland“ ausgedehnt.

Grundsätzlich ist die Einrichtung von Sondervermögen auch verfassungsgemäß (Artikel 110 Abs. 1 S. 1 Halbsatz 2 Grundgesetz). Kreditaufnahmen des Bundeshaushalts sowie von Sondervermögen mit eigener Kreditermächtigung unterscheiden sich dabei im Hinblick auf die Vorgaben der Schuldenregel nicht (ausgenommen nur das Sondervermögen Bundeswehr nach Art. 87a Abs. 1a GG) und sind im Hinblick auf ihr Volumen gemeinsam zu betrachten. Allerdings ist der damit verbundene Verlust der Aussagekraft sowie der Steuerungsfunktion des Haushaltsplans ausnahmsweise nur dann erlaubt, wenn er zu Effektivitäts- und Effizienzvorteilen führt, die den Transparenzverlust insbesondere für den parlamentarischen Haushaltsgesetzgeber rechtfertigen können.

Verfassungsrechtliche Vorgaben, wie z. B. die Schuldenregel (Artikel 115 Abs. 2 Grundgesetz) oder diverse Haushaltsgrundsätze, dürfen dabei jedoch nicht umgangen werden.

Dazu gehört neben der Wahrheit und Klarheit (Art. 110 Abs. 1 S. 1 GG) sowie der Einheit und Vollständigkeit (§ 35 Abs. 1 BHO) vor allem der Grundsatz der Jährlichkeit. Danach muss der Bundeshaushalt als sogenanntes Zeitgesetz jeweils „nach Jahren getrennt“ aufgestellt und vom Deutschen Bundestag festgestellt werden (Artikel 110 Abs. 2 S. 1 Grundgesetz). Wegen des grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Verbots einer Kreditaufnahme (Art. 115 Abs. 2 S. 1 GG) darf eine schuldenregelkonforme Kreditaufnahme daher nur insoweit erfolgen, wie sie für den Ausgleich des jahresbezogen festzustellenden Defizits erforderlich ist. Die in dem jeweiligen Jahr veranschlagten Ausgaben sind also zunächst den Einnahmen gegenüberzustellen, die nicht auf Krediten beruhen. Ergibt sich dabei ein Finanzierungsdefizit, kann es in dem Umfang, in dem es besteht – im Rahmen der Vorgaben der Schuldenregel – durch Kredite ausgeglichen werden. Die Jährlichkeit ist dabei kein inhaltsleerer Formalismus, vielmehr dient die Trennung der Staatsfinanzierung nach Haushaltsjahren dem Schutz des parlamentarischen Budgetrechts, denn durch deren zeitliche Eingrenzung kann der Bundestag Sachverhalte besser überblicken und auf aktuelle Entwicklungen reagieren.

Obwohl nun der Schutzschirm des WSF bis zum 30. Juni 2024 aufgespannt sein soll und die weitaus meisten Ausgaben erst 2023 und 2024 anfallen werden, wird die eingeräumte eigene Kreditermächtigung von 200 Mrd. Euro ausschließlich für das Jahr 2022 gelten (Gesetzentwurf zu § 26b Absatz 1 StFG), weil der Bundesfinanzminister nur für das aktuelle Jahr 2022 noch einen sog. Notlagenbeschluss des Bundestages fassen ließ und er wohl ab 2023 die Schuldenbremse wieder ohne Einschränkung einhalten will. Mangels eigener Einnahmen zwingt dies den WSF, die Kreditermächtigung – unabhängig vom konkreten Mittelbedarf – noch im Jahr 2022 vollständig auszuschöpfen, damit ihm Mittel auch für die Jahre 2023 und 2024 zur Verfügung stehen.

Für diese erst später benötigten Beträge soll der WSF aus den in 2022 nicht in Anspruch genommenen Mitteln eine zweckgebundene Rücklage bilden können (Gesetzentwurf zu § 26b Absatz 4 StFG). Genau dies ist jedoch eine unzulässige Kreditaufnahme auf Vorrat, da nach der Schuldenregel in 2022 (noch) zulässige Kredite ohne tatsächlichen Bedarf aufgenommen und in die Wirtschaftspläne des WSF für 2023 und 2024 als Einnahme aus der Rücklage wieder eingeschleust werden.

Eine nicht verfassungskonforme Kreditaufnahme in 2023 und 2024 könnte so durch eine bereits auf Vorrat erfolgte Schuldenaufnahme 2022 umgangen werden.

Dadurch wird gleichzeitig der jüngste Notlagenbeschluss zur Aussetzung der Schuldenbremse nach Art. 115 Abs. 2 S. 6 bis 8 GG zu einem Vorratsbeschluss für die Jahre 2023 und 2024, obwohl eine Notlage ja dadurch gekennzeichnet ist, dass sie unvorhergesehen eintritt und sich genauso unvorhergesehen verändern kann. Notlagenkredite werden also – auch wiederum im Widerspruch zur Jährlichkeit – zeitlich weit im Voraus legitimiert. Dabei ist völlig offen, wie sich die Energieversorgung, deren Marktpreise, das Verhalten der Bürgerinnen und Bürger sowie der Wirtschaft, aber auch die finanzielle Situation des Bundes entwickeln werden.

Dies wiegt umso schwerer, als die echten Ausgabenniveaus im Bundeshaushalt bereits heute verzerrt werden, da der Bund wesentliche Teile der Aufgabenerfüllung auch ohne die Aufstockung des WSF bereits außerhalb des Kernhaushalts über Sondervermögen finanziert, wie die gegenwärtig bedeutendsten Beispiele (Klima- und Transformationsfonds, Sondervermögen Digitale Infrastruktur, Sondervermögen Aufbauhilfe 2021, Sondervermögen Bundeswehr) zeigen.

Besonders pikant sind die Ausführungen des Bundesfinanzministers und seiner Parteikollegen, die diese Form der „doppelten“ Haushaltsführung in Form zusätzlicher bzw. aufgestockter Schattenhaushalte auch noch mit dem Markenkern angeblicher liberaler Haushaltssolidarität zu legitimieren versuchen.

Am 20.10.22 lehnt Christian Lindner in der ARD-Talkshow Maischberger die – ehrlicherweise gebotene – weitere Aussetzung der Schuldenbremse für 2023 ab, „damit es keinen Dammbruch gibt, damit nicht alles Mögliche finanziert wird und wir nie wieder zu Solidität zurückkommen. Deshalb trenne ich davon die krisenbedingten Ausgaben.“

Diese Schilderung verkennt allerdings, dass der BMF selbst im gesamten Haushaltsverfahren federführend ist und z. B. nach § 28 Abs. 1 S. 2 BHO sogar das Recht hat, die Vorschläge der Ressortminister/innen nach Benehmen (nicht Einvernehmen!) mit den beteiligten Stellen zu ändern. Die von ihm heraufbeschworene Gefahr wäre also nur im Falle seines eigenen Versagens zu befürchten. Nach den bisherigen Erfahrungen ist auch nicht davon auszugehen, dass Christian Lindner unter politischen Minderwertigkeitskomplexen leidet, wohl aber unter Orientierungsproblemen. In ihrer noch nicht lange zurückliegenden Zeit als Oppositionspartei ist die FDP immer wieder gegen Schattenhaushalte und Vorratskredite zu Felde gezogen und noch Anfang Oktober bekundete Bundesminister Lindner in einem Interview, die Zahl der Sondervermögen reduzieren zu wollen, wenn „durch sie die Haushaltslage unklar wird.“ Es gibt also kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem!

 

Michael Heinrich

Dozent an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, Fachbereich Bundeswehrverwaltung in Mannheim
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